„Ein harmonisches Ganzes“, Kapitel 23 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2019
Kapitel 23: „Ein harmonisches Ganzes“
Kapitel 23
Ein harmonisches Ganzes
Susie Young war schon immer ein kränkliches Kind gewesen. Als sie im Frühjahr 1865 neun Jahre alt wurde, hatte sie schon Lungenentzündung, Keuchhusten und weitere schwere Krankheiten durchgemacht. Wenn sie zu schnell lief oder zu wild spielte, rang sie nach Luft. Ihr Vater, Brigham Young, nahm sie dann mitunter liebevoll in den Arm, drückte sie an sich und flüsterte ihr zu: „Moment, Töchterchen. Warte! Nicht so schnell! Nimm dir Zeit zum Atmen.“1
Susie wollte aber nur selten warten. Irgendetwas war ja ständig los in dem Haus, das sie zusammen mit vielen Ehefrauen ihres Vaters und den meisten seiner kleineren Kinder bewohnte. Das geräumige zweistöckige Haus hieß Lion House. Es lag unmittelbar neben dem Büro ihres Vaters, nur einen Block östlich vom Tempelplatz in Salt Lake City. Im oberen Stockwerk gab es eine ganze Reihe von Schlafzimmern und Wohnzimmern für die Familie. Im Erdgeschoss lagen weitere Schlafzimmer und ein großer Salon, in dem Gäste empfangen und Familiengebete gesprochen wurden. Im Untergeschoss befanden sich Vorratsräume, eine Waschküche, eine Küche und ein Esszimmer, das Platz für die gesamte Familie bot.
Auf dem straßenseitigen Balkon wachte eine hockende Löwenstatue.2
Einmal wohnten fast dreißig von Susies fünfundfünfzig Geschwistern zur selben Zeit in dem Haus. Manchmal nahm die Familie auch ein Waisenkind auf, wie die kleine Ina Maybert aus Indien. Ein Nachbarsjunge namens Heber Grant spielte oft mit Susies Geschwistern und blieb dann auch noch zum Familiengebet. Er war das einzige Kind von Rachel Ivins und Brigham Youngs ehemaligem Ratgeber Jedediah Grant. Im Winter hielt sich Heber oft an Brighams Schlitten fest und ließ sich über den gefrorenen Boden ziehen.3
Die Familie Young war bestrebt, ein sehr geregeltes Leben zu führen; es gab feste Zeiten für Essen, Unterricht und das Gebet. Doch das hielt Susie und ihre Geschwister nicht davon ab, die Geländer hinunterzurutschen, die Treppen hinaufzurennen oder Verstecken zu spielen.4 Für die kleine Susie war es völlig normal, dass sie so eine große Familie hatte und dass ihr Vater dort mit mehr als einem Dutzend seiner Ehefrauen zusammenlebte. Ihre Familie war selbst unter denen, die in Mehrehe lebten, außergewöhnlich, da die meisten viel kleiner waren. Anders als ihr Vater hatten die meisten Männer in der Kirche, die in Mehrehe lebten, nur zwei Ehefrauen.5
Ihre leibliche Mutter, Lucy Bigelow Young, war eine sehr fürsorgliche Mutter, die ihre Tochter mit Zuneigung und Zärtlichkeiten überschüttete. Zina Huntington Young und Emily Partridge Young, zwei weitere Ehefrauen ihres Vaters, wohnten eine Zeit lang ebenfalls im Lion House und waren fast wie Mütter für sie. Ebenso auch Clara Decker Young, eine weitere Ehefrau ihres Vaters, die oft bis spät in die Nacht mit ihr plauderte und ihr und ihren Schwestern gute Ratschläge gab.6
Eine weitere Ehefrau hieß Eliza Snow. Sie war Dichterin, las in ihrer Freizeit Bücher und ermunterte Susie, ihre aufkeimende Kreativität zu erforschen. Eliza war intelligent, sprachgewandt und überaus diszipliniert. Ihr Schlafzimmer, ihr Wohnzimmer und ihr Schreibtisch waren stets sauber und ordentlich aufgeräumt. Auf einige wirkte Eliza kühl und distanziert, doch Susie kannte sie als gütige, liebevolle Frau, besonders wenn sie Kranke pflegte.7
Im Lion House ging es nicht immer friedlich zu, aber die Familie bemühte sich um ein gutes Zusammenleben. Brigham mochte es nicht, wenn man die Mehrehe mit den Gepflogenheiten der Welt verglich. „Sie kommt vom Himmel“, erklärte er den Heiligen. „Der Herr hat sie eigens zu dem Zweck eingerichtet, sich einen königlichen Stamm zu erwecken, eine heilige Priesterschaft, ein Volk, das sein Eigentum ist, eines, über das er verfügen und das er segnen kann.“8
„Wenn jemals auf Erden mein Glaube geprüft wurde, dann damals, als Joseph Smith mir diese Lehre offenbarte“, betonte er. „Ich musste ohne Unterlass beten und ich musste Glauben üben, und der Herr offenbarte mir, dass sie wahr ist. Das genügte mir.“9
Die Freude, die er daran hatte, seine vielen Kinder im Evangelium Christi zu erziehen, war eine Frucht dieses Glaubens.10 Am Abend läutete er alle mit einer Glocke zum gemeinsamen Familiengebet herbei. „Wir danken dir für unser Heim in diesen friedlichen Tälern und für die trutzigen Berge, die du bewahrt hast, auf dass sie deinem Volk ein Sammlungsort seien“, betete er oft mit sanfter Stimme und aufrichtiger Liebe zum Herrn. „Segne die Armen, die Bedürftigen, die Kranken und Bedrängten. Tröste das Herz all derer, die trauern. Sei den Alten ein Stecken und Stab und führe die Jugend.“11
Brighams Gedanken galten oftmals dem Wohlergehen der Heiligen. Die Zeiten änderten sich, und der Bau einer Eisenbahnlinie, die von West nach Ost ganz Nordamerika umspannen sollte, war bereits im Gange.12 Brigham hatte Geld in das Projekt investiert, denn er wusste, dass die Eisenbahn die An- und Abreise nach Utah für Missionare und Zuwanderer schneller, billiger und weniger beschwerlich machen würde. Doch ihm war auch bewusst, dass damit mehr Versuchungen in das Territorium eindringen würden, und er wollte die Mitglieder geistig und wirtschaftlich darauf vorbereiten.13
Auch seine eigene Familie wollte er stärken. Im Frühjahr hörten Susie und ihre Geschwister, dass er Karl Mäser als Privatlehrer für sie angestellt hatte. Manche von Susies Geschwistern sträubten sich gegen Professor Mäsers Unterrichtsmethoden und brachen den Schulunterricht ab. Aber Susie war von seinem Unterricht gefesselt.
Bücher, insbesondere die heiligen Schriften, erwachten im Klassenzimmer zum Leben. Professor Mäser ermutigte die Young-Kinder, Fragen zu stellen und sich die Lösung eines Problems selbst zu erarbeiten. Obwohl Susie immer gern etwas Neues lernen wollte, war sie mitunter unzufrieden, wenn sich bei ihren Schulaufgaben Fehler eingeschlichen hatten.14
Professor Mäser war geduldig. „Nur wer den Mut hat, Fehler zu machen“, sagte er ihr, „kann jemals etwas Lohnendes und Wahres entdecken.“15
Johan Dorius arbeitete in jenem Frühjahr als Schuhmacher in Fort Ephraim. Er und sein Bruder Carl waren vor zwei Jahren von ihrer Mission in Skandinavien zurückgekehrt. Als sie Dänemark verließen, hatten sie gehofft, ihre Mutter werde mitkommen. Aber da Ane Sophies zweiter Ehemann nicht bereit war, Kopenhagen zu verlassen, blieb auch sie. Enttäuscht segelten die beiden Brüder einige Tage später mit einer Gruppe von dreihundert Heiligen aus Dänemark weg.
Seit der Rückkehr nach Utah hatte Johan versucht, Geld zu verdienen. Während seiner Abwesenheit hatte seine Frau Karen auf dem gemeinsamen, jedoch bis dahin unbebauten Grundstück in Spring Town ein Haus mit zwei Zimmern errichten lassen, Nahrungsmittel angebaut und im Hof Nutztiere gehalten. Karen hatte sich schon auf glückliche Tage mit ihrem Ehemann und den Kindern im neuen Haus gefreut, aber bald nach Johans Rückkehr erhielt er die Erlaubnis, die norwegische Bekehrte Gunild Torgersen als zweite Frau zu heiraten. Für Karen war dieser neue Stand der Dinge eine schwere Prüfung, doch ihr Glaube an den Herrn verlieh ihr Kraft. Da sich das Haus nun als zu klein erwies, zog die Familie im Laufe des Jahres auf ein größeres Grundstück in der Ortschaft Ephraim.16
Um diese Zeit herum stiegen die Spannungen zwischen den Mitgliedern der Kirche und den Indianern vom Stamm der Ute im Sanpete Valley. Durch die vielen Zuwanderer wuchsen die Ortschaften in Utah schnell, und die neuen Siedlungen schnitten die Ute oftmals von ihren gewohnten Jagdgründen und Wasserstellen ab. Einige Siedler hielten auf den riesigen Prärien im mittleren Utah große Viehherden, wodurch die Ute noch weiter aus ihrem Stammesgebiet verdrängt wurden.17
Brigham Young war sich dieser Probleme bewusst und bat die Heiligen, den Indianern Verpflegung zukommen zu lassen und freundlich zu ihnen zu sein. „Wir haben uns auf ihren Ländereien niedergelassen, wodurch sie beim Jagen und Fischen und so weiter erheblich beeinträchtigt werden“, schrieb er an einen Führer der Kirche. „Aus diesen Gründen obliegt es uns, ihnen mit aller Zuvorkommenheit, Großzügigkeit, Geduld und Nachsicht zu begegnen.“18
Brigham hatte sich erhofft, mehr Mitgefühl für die Indianer zu wecken, doch die Lebensmittel waren in manchen Siedlungen ohnehin schon knapp, und wenige Heilige teilten sie bereitwillig. Wenn die Siedler sich aber weigerten, ihnen Lebensmittel zu geben, überfielen die Ute oft die Viehherden, um sich Nahrung zu beschaffen.19
Im Frühjahr 1865 kam es schließlich zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, nachdem Friedensgespräche zwischen den Heiligen und den Ute im Sanpete Valley ungünstig verlaufen waren. Ein paar Wochen später begann eine Gruppe von Ute, angeführt von einem Mann namens Black Hawk, Rinder zu stehlen und Siedler zu töten.20 Im Frühsommer spitzte sich der Konflikt weiter zu. Im Juni versuchten Brigham Young und die Regierung der Vereinigten Staaten, die Häuptlinge der Ute dazu zu bewegen, in ein Reservat zu ziehen, das die Regierung für die Indianer vorgesehen hatte, doch die Angriffe auf die Siedlungen hörten nicht auf. Brigham gab schließlich der Bürgerwehr den Auftrag, die Plünderer aufzuhalten, ohne dabei jedoch Frauen, Kindern oder friedlichen Männern der Ute Schaden zuzufügen. Doch die Angriffe wurden von beiden Seiten immer heftiger.21
Am Nachmittag des 17. Oktobers musste Johan Dorius mit Schrecken mit ansehen, wie Black Hawk mit seinen Mannen ein junges dänisches Ehepaar, dessen Baby und eine junge Schwedin auf den Feldern bei Ephraim überfiel. Nachdem Black Hawks Männer weggeritten waren, um aus der Siedlung die Rinder zu stehlen, rannten Johan und andere Mitglieder hinaus auf das Feld. Das Ehepaar war tot, die junge Schwedin lag im Sterben, doch der kleine Junge war wie durch ein Wunder unversehrt geblieben. Johan nahm ihn auf den Arm und brachte ihn in den Ort zurück.22
Während die Bürgerwehr Black Hawk und dessen Männer verfolgte, wiesen die Führer der Kirche die Heiligen im Sanpete Valley und in der Umgebung an, vorsichtig und auf ihre Sicherheit bedacht zu sein. Doch in ihrer Panik und ihrem Argwohn beachteten einige betroffene Heilige diese Anweisungen nicht.23
Sechs Monate nach dem Angriff auf Fort Ephraim nahmen Mitglieder der Kirche in einer kleinen, schlecht befestigten Siedlung namens Circleville eine Gruppe von ungefähr zwanzig friedlichen Paiute gefangen, die sie für Spione Black Hawks hielten. Die Siedler fesselten die Männer und hielten sie im örtlichen Gemeindehaus unter Bewachung fest. Die Frauen und Kinder wurden unterdessen in einem leeren Keller untergebracht. Als einige Männer der Paiute einen Fluchtversuch unternahmen, erschossen die Siedler sie. Anschließend richteten sie die übrigen Gefangenen einen nach dem anderen hin, auch die Frauen und die größeren Kinder.24
Brigham verurteilte die Gewalttat scharf. „Wenn ein Mann einen unschuldigen Indianer erschießt, ist er des Mordes schuldig“, erklärte er.25 Er schrieb die Schuld an den Auseinandersetzung den Heiligen zu, nicht den Ute. „Wenn die Ältesten Israels die Lamaniten stets so behandelt hätten, wie sie es hätten sollen“, stellte er fest, „hätten wir meiner Meinung nach niemals Schwierigkeiten mit ihnen gehabt.“26
Gewalttätige Auseinandersetzungen gab es zwischen den Heiligen und den Indianern im mittleren Utah noch ein Jahr lang. Heilige aus kleineren Siedlungen zogen in größere Ortschaften, und die Siedler stellten Wachen um ihre Rinderherden auf. Nachdem die Heiligen im Juli 1867 einen größeren Indianerüberfall hatten abwehren können, ergaben sich Black Hawk und zwei weitere Häuptlinge den Beamten der Regierung. Einige Ute überfielen zwar weiterhin die Viehherden der Heiligen, doch im Großen und Ganzen waren die Auseinandersetzungen nun vorbei.27
Am 6. Oktober fand die Generalkonferenz erstmals in dem geräumigen neuen Tabernakel westlich vom Tempelplatz statt. Die Erste Präsidentschaft hatte 1863 angekündigt, auf dem Tempelgelände ein größeres Versammlungshaus bauen zu wollen. Das ovale Gebäude war von einer großen, schildkrötenförmigen Kuppel überdacht. Vierundvierzig Sandsteinpfeiler stützten die Kuppel. Den Dachstuhl hatte der erfahrene Brückenbaumeister Henry Grow aus einem Gitter aus Holzstreben angefertigt, die nur mit Holzdübeln und Lederriemen verbunden waren. Da diese neuartige Konstruktion ohne Innenpfeiler als Stützen für die massive Decke auskam, hatten die Heiligen bei der Konferenz ungehinderte Sicht auf die Sprecher vorn am Pult.28
Im Herbst beobachtete Brigham Young nach wie vor die Fortschritte beim Bau der Eisenbahnstrecke. Der Amerikanische Bürgerkrieg hatte im Frühjahr 1865 mit dem Sieg der Nordstaaten geendet, wodurch das Eisenbahnprojekt frischen Schwung erhielt, da sich die Nation nach Westen hin ausdehnte und dort neue Möglichkeiten sah. Auch wenn Brigham dem Vorstand einer der Eisenbahnfirmen angehörte und das Projekt unterstützte, machte er sich doch Sorgen wegen der Veränderungen, die es für das Territorium und dessen Wirtschaft mit sich brachte.29
Im Buch Lehre und Bündnisse wies der Herr sein Volk an, „eins“ zu sein und wirtschaftliche Belastungen gemeinsam zu tragen, damit es „unabhängig dastehen kann, über allen anderen Geschöpfen unterhalb der celestialen Welt“30. Über die Jahre hinweg hatten Brigham und weitere Führer der Kirche immer wieder Schritte unternommen, um die Heiligen zu einen und ihre Verbundenheit zu bewahren. Eine dieser Bestrebungen war das Deseret-Alphabet, eine Art Lautschrift, die vermeintliche Nachteile bei der Schreibung des Englischen ausgleichen, jungen Mitgliedern das Lesen erleichtern und Einwanderern das rasche Erlernen der englischen Sprache ermöglichen sollte, sodass sie sich in Utah bald heimisch fühlten.31
Um Zion zu wirtschaftlicher Unabhängigkeit zu führen, begann Brigham, unter den Heiligen für eine Art Genossenschaftsmodell einzutreten. In seinen Reden rief er die Mitglieder oftmals dazu auf, selbst Lebensmittel anzubauen, ihre Kleidung selbst herzustellen und Mühlen, Fabriken und Gießereien zu bauen. Er kritisierte auch Kaufleute innerhalb und außerhalb der Kirche, die ins Territorium kamen und dort gewinnbringend eher seltene Produkte aus dem Osten verkauften und sich somit selbst bereicherten, anstatt die Sache Zions zu unterstützen.32
Brigham war sich dessen bewusst, dass der Schienenverkehr vermehrt Händler und Güter ins Land bringen würde, die eine Konkurrenz für die hausgemachten Produkte der Mitglieder darstellen würden. Daher rief er die Heiligen dazu auf, bei Unternehmen vor Ort einzukaufen und sich wirtschaftlich möglichst vom Markt außerhalb der Kirche unabhängig zu machen.33 Das wirtschaftliche Heil der Mitglieder war ihm genauso wichtig wie ihr geistiges Heil. Ein Angriff auf Zions Wirtschaft war gleichzusetzen mit einem Angriff auf Zion selbst.
Brigham suchte auch nach Möglichkeiten, die Heiligen durch Einrichtungen innerhalb der Kirche zu stärken. 1849 hatte Richard Ballantyne, ein Mitglied aus Schottland, die erste Sonntagsschule im Salzseetal eingerichtet. Seitdem gab es in vielen Gemeinden voneinander unabhängige Sonntagsschulen mit meist uneinheitlichem Unterrichtsmaterial. Doch nun gab George Q. Cannon seit kurzem den Juvenile Instructor heraus, eine illustrierte Zeitschrift mit Evangeliumsthemen, die sich als preiswertes Material für Lehrer und Schüler in der Sonntagsschule eignete. Im November 1867 wählten Brigham und andere Führer der Kirche George zum Präsidenten der Sonntagsschulvereinigung und trugen ihm auf, die Gemeinden und Zweige zur Gründung ihrer eigenen Sonntagsschule aufzurufen.34
Die ersten Sonntagsschulklassen waren hauptsächlich auf die kleinen Jungen und Mädchen der Kirche zugeschnitten. Für die erwachsenen Männer wollte Brigham in jeder größeren Ortschaft des Territoriums eine Schule der Propheten gründen. Fast fünfunddreißig Jahre zuvor hatte der Herr den Propheten Joseph Smith beauftragt, in Kirtland und in Missouri eine solche Schule einzurichten, die unter den Priestertumsträgern der jungen Kirche Einigkeit und Glauben fördern und die Männer auf die Evangeliumsverkündigung vorbereiten sollte.35
Brigham versprach sich von der neuen Schule der Propheten größere geistige Einheit und Hingabe unter den Brüdern in der Kirche. Er meinte, dies werde ihnen noch vor Fertigstellung der Eisenbahn vor Augen führen, wie wichtig es sei, wirtschaftlich zusammenzuarbeiten, Bündnisse zu halten und Zion aufzubauen.
Am 2. Dezember 1867 wurde in Salt Lake City eine Schule der Propheten eröffnet. In den folgenden Wochen rief Brigham deren Mitglieder dazu auf, ihre Geschäfte so zu führen, dass sie den Heiligen von Nutzen waren und nicht den Kaufleuten, die von auswärts kamen. „Wir sollten eins sein und einander verstehen“, erklärte er. Und er verurteilte jene Mitglieder, die Produkte nach Belieben irgendwo und irgendwann erwarben, ohne dabei auf die Vorteile Zions bedacht zu sein.
„Sie haben in diesem Reich nichts verloren“, verkündete er.36
Sechs Tage nach Eröffnung der Schule der Propheten in Salt Lake City sprach Brigham mit den Bischöfen darüber, dass sie in den Gemeinden erneut Frauenhilfsvereinigungen einrichten sollten. Zehn Jahre zuvor waren diese während der Auseinandersetzungen mit der Armee der Vereinigten Staaten fast überall aufgelöst worden. Brigham hoffte, dass die Frauenhilfsvereinigungen sich der bedürftigsten Mitglieder annehmen und dadurch größere Einigkeit unter den Heiligen herbeiführen würden.37
Da die Bischöfe wenig über den Zweck der Frauenhilfsvereinigung wussten, bat er Eliza Snow, ihnen bei der Gründung dieser Organisation in ihrer Gemeinde behilflich zu sein. Eliza fühlte sich geehrt. Wenige verstanden den Zweck der Frauenhilfsvereinigung so gut wie sie. Als Sekretärin der Frauenhilfsvereinigung von Nauvoo hatte Eliza bei den Treffen stets genau Protokoll geführt, alles aufgeschrieben, was Joseph Smith den Frauen auseinandergesetzt hatte, und es in einem Berichtsbuch aufbewahrt.
Eliza arbeitete gern mit den Bischöfen zusammen, und diese schätzten ihre Unterstützung.38 Als Brigham ihr im folgenden Frühjahr einen weiteren Auftrag in Aussicht stellte, fragte sie nicht, worum es ging. Sie sagte einfach: „Ich werde mich bemühen, ihn zu erfüllen.“
„Ich möchte, dass du die Schwestern unterweist“, sagte Brigham zu ihr. Er war überzeugt davon, dass die Frauen der Kirche mit Elizas Hilfe die Rolle der Frauenhilfsvereinigung beim Aufbau Zions besser verstehen würden.
Eliza spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Die Frauen der Kirche zu unterrichten – was für ein gewaltiger Auftrag! Für gewöhnlich sprachen Frauen, außer in der Zeugnisversammlung, nicht öffentlich in den Versammlungen der Kirche. Jetzt wurde von Eliza jedoch erwartet, dass sie jede Siedlung im Territorium besuchte, mit allen Frauenhilfsvereinigungen in den Gemeinden und Zweigen zusammenkam und öffentlich Reden hielt.39
Kurz nach dem Gespräch mit Brigham veröffentlichte Eliza in der Zeitung Deseret News einen Artikel: „Was ist Sinn und Zweck der Frauenhilfsvereinigung?“, fragte sie ihre Leser. „Ich würde sagen: Gutes tun – alle unsere Fähigkeiten einsetzen, um Gutes zu tun, und das nicht nur, um die Armen zu unterstützen, sondern auch, um Seelen zu erretten.“
Unter Bezug auf die Aufzeichnungen der Frauenhilfsvereinigung von Nauvoo drängte sie die Frauen, sich aufzumachen und ihren Pflichten nachzukommen. „Sollte sich eine der Töchter und Mütter in Israel auch nur im Geringsten in ihrem gegenwärtigen Wirkungsfeld eingeschränkt fühlen“, schrieb sie, „wird sie nun einen weiten Spielraum vorfinden für all ihre Kraft und Fähigkeit, Gutes zu tun.“40
Am 30. April 1868 besuchte Eliza am Nachmittag die Frauenhilfsvereinigung der Gemeinde 13 in Salt Lake City. An die fünfundzwanzig Frauen waren anwesend, darunter auch Zina Huntington Young, Emily Partridge Young und Bathsheba Smith, die alle der Frauenhilfsvereinigung in Nauvoo angehört hatten. Die neu berufene Leiterin der Frauenhilfsvereinigung, Rachel Grant, leitete die Versammlung mit ihren Ratgeberinnen, den Zwillingsschwestern Annie Godbe und Margaret Mitchell.41
Die mittlerweile siebenundvierzigjährige Rachel Grant hatte in den frühen 40er Jahren in Nauvoo gelebt, jedoch nicht zur ersten Frauenhilfsvereinigung dort gehört. Das Konzept der Mehrehe war eine große Glaubensprüfung für sie gewesen, und nach Joseph Smiths Tod war sie in die Oststaaten zu ihrer Familie zurückgekehrt. Sie hatte den Kontakt zu Missionaren und Mitgliedern jedoch aufrechterhalten und sich nach vielem Beten und eingehender Gewissensprüfung 1853 entschlossen, nach Utah zu ziehen. Zwei Jahre später heiratete sie Jedediah Grant, der bereits in Mehrehe lebte, und gebar neun Tage vor dem viel zu frühen Tod ihres Mannes ihr einziges Kind, den kleinen Heber. Seit damals lebten sie und ihr Sohn von dem kargen Einkommen, das sie als Schneiderin erwirtschaftete.42
Nachdem Rachel die Versammlung der Frauenhilfsvereinigung eröffnet hatte, bat sie Eliza, zu den Frauen zu sprechen. „Der Prophet Joseph Smith hat sich von der Gründung der Frauenhilfsvereinigung Großartiges versprochen“, sagte Eliza den Frauen. „Viel Gutes soll nämlich bewirkt werden, wenn die Schwestern die Kranken und Bedrängten besuchen.“ Sie ermutigte sie, ordnungsgemäß Versammlungen abzuhalten, Gutes zu tun und füreinander da zu sein.
„Die Vereinigung sollte wie eine Mutter zu ihrem Kind sein“, erklärte sie. „Sie hält es nicht auf Abstand, sondern zieht es an sich und schließt es in die Arme und zeigt, wie notwendig Einheit und Liebe sind.“
Als Eliza mit ihrer Ansprache zu Ende war, sagte Rachel, sie sei stolz auf die Frauen und hoffe, dass sie nun durch ihre Zusammenkünfte gestärkt würden. Dann forderte Eliza die Frauen auf, ihren Mund aufzumachen, und bezeugte, dass es einem Kraft gibt, wenn man miteinander redet.
„Der Widersacher ist immer zufrieden, wenn wir unsere Schüchternheit nicht überwinden und einander Worte versagen, die Mut machen und zu einem Ziel führen“, erläuterte sie. „Haben wir die Scheu erst einmal abgelegt, gewinnen wir schon bald an Selbstvertrauen.“
„Die Zeit wird kommen“, verhieß sie, „da wir an größeren Schauplätzen zusammenkommen und in verantwortungsvoller Stellung handeln müssen.“43
Während Gemeinden und Zweige nun also Frauenhilfsvereinigungen gründeten, traf sich Eliza mit Sarah Kimball, einem weiteren Gründungsmitglied der Vereinigung von Nauvoo, um eine Aufgabenliste für die FHV-Beamtinnen auszuarbeiten.44 Anschließend besuchte sie nach und nach Frauenhilfsvereinigungen im ganzen Territorium und nahm oft die alten FHV-Protokolle zur Hand, um den Frauen ihre Pflichten zu verdeutlichen. „Diese Vereinigung ist zu allen Evangeliumszeiten, da die Kirche in ihrer Vollkommenheit aufgerichtet ist, Teil der Kirche Christi“, erklärte Eliza den Frauen der Kirche. Wenn sie eine Frauenhilfsvereinigung nicht persönlich besuchen konnte, schrieb sie einen Brief.45
Brigham gründete in der Zwischenzeit weitere Zweigstellen der Schule der Propheten und riet den Mitgliedern, sie sollten sich alle Arten von Wissen aneignen und eines Herzens und eines Sinnes werden.46 Im April 1868 fuhr er nach Provo, um dort eine Schule zu gründen, die von Abraham Smoot geleitet werden sollte. Diesen hatte er zusammen mit John Taylor, Wilford Woodruff, Joseph F. Smith und anderen dorthin gesandt, um diese ungebärdige, widerspenstige Stadt zur Räson zu bringen. Während ihres Aufenthalts riefen Brigham und Abraham die Besucher der Schule in Provo auf, vorwiegend miteinander Geschäfte zu tätigen, damit ihre Mittel und ihr Gewinn im Kreis der Mitglieder blieben.
„Jedes Mitglied hat Einfluss“, sagte Abraham, „und wir sollten ihn in die richtige Richtung lenken.“47
Einige Wochen später hatte Brighams Ratgeber Heber Kimball in Provo einen Unfall mit seinem Pferdegespann. Er wurde aus dem Wagen geschleudert und schlug mit dem Kopf heftig auf dem Boden auf. Dort lag er einige Zeit in der Kälte, bis ein Bekannter ihn fand. Brigham hoffte, Heber, einer seiner ältesten Freunde, werde sich von dem Unfall erholen. Anfang Juni erlitt er jedoch einen Schlaganfall und starb noch im selben Monat im Kreise seiner Familie.
Sein Tod ereignete sich auf den Tag genau acht Monate nach dem Tod seiner Frau Vilate. „Ich werde nach ihr nicht lange bleiben“, hatte Heber nach ihrem Ableben prophezeit. Bei Hebers Beerdigung würdigte Brigham die Rechtschaffenheit seines Freundes und Ratgebers mit wenigen, schlichten Worten:
„Er war ein Mann von höchster Lauterkeit“, erklärte er, „wie kaum je einer auf der Erde gelebt hat.“48
Um die Zeit von Hebers Tod hatte unter den Bahnarbeitern – darunter chinesische Einwanderer, ehemalige Sklaven und Bürgerkriegsveteranen – der Endspurt bei der Fertigstellung der Transkontinentallinie begonnen. Im August rief Brigham die Männer in der Kirche dazu auf, die Bauarbeiten zu unterstützen. Sobald die beiden Gleise nördlich des Großen Salzsees zusammengestoßen waren, könnte man, so hoffte er, einen Schienenstrang nach Salt Lake City und weiteren Ortschaften im Süden legen und so die Reisezeit zwischen den Siedlungen verkürzen und noch mehr Steine für den Tempelbau beschaffen.49
Eines Abends nach den Familiengebeten zeigte er sich jedoch einigen seiner Frauen, Bekannten und älteren Kinder gegenüber besorgt, was die Eisenbahn betraf. „Wir haben die Welt hinter uns gelassen, doch nun kommt die Welt zu uns“, sagte er. Es gab die Sonntagsschule, die Schule der Propheten und die Frauenhilfsvereinigung, die die Heiligen stärken und unterstützen konnten. Aber hatten er und seine Generation auch genug getan, um die Jugend auf das vorzubereiten, was ihr bevorstand?
„Ihnen werden nicht die gleichen Prüfungen begegnen, die ihre Väter und Mütter durchgemacht haben“, sagte er. „Ihre Prüfung wird im Stolz und in den Albernheiten und Vergnügungen einer sündhaften Welt bestehen.“ Wenn seine Generation der Jugend nicht half, Glauben an Jesus Christus aufzubringen, konnten weltliche Versuchungen sie in die Irre führen.50
Letzten Endes vertraute Brigham darauf, dass das Evangelium Jesu Christi das Volk Gottes, und damit auch die Jugend, auch weiterhin einen und ihm ein Schutz sein werde.
Das wiederhergestellte Evangelium, so seine Überlegung Anfang 1869, habe „seine Lehrer an die Enden der Erde gesandt, Menschen fast jeder Sprache und jedes Glaubensbekenntnisses, das es unter dem Himmel gibt, zusammengebracht und die vielfältigsten Bildungsgrade und unterschiedlichsten Traditionen zu einem harmonischen Ganzen zusammengefügt.
Einem Glaubensbekenntnis, das Massen von Menschen, so ungleich sie sind, zu einem glücklichen, zufriedenen und geeinten Volk machen kann“, sagte er, „wohnt eine Macht inne, von der die Völker wenig wissen. Diese Macht ist die Macht Gottes.“51
Im März 1869 stellten sich die Bewohner von Ogden auf ein paar steilen Felsvorsprüngen auf, um besser zusehen zu können, wie die Gleise verlegt wurden. Die Bahnlinie hatte nun das Herz des Territoriums erreicht – eine Eisenbahnschwelle und ein Stück Gleis nach dem anderen. Bald würden hier nun Züge durchfahren und schwarzen Rauch und grauen Dampf in den Himmel stoßen.52
Später im Jahr besuchte Brigham die Heiligen in den südlichen Siedlungen. In vielen Ortschaften, die er sah, gab es nun eine Sonntagsschule, eine Schule der Propheten und eine Frauenhilfsvereinigung. Auf seinen Wunsch hin eröffneten die Heiligen neue Geschäfte, die sogenannten „Kooperativen“ oder „Genossenschaftsläden“, die unter den Mitgliedern wirtschaftlichen Zusammenhalt anstelle von Wettbewerb fördern sollten. Brigham wünschte sich in jedem Ort einen solchen Genossenschaftsladen, der die Heiligen zu fairen Preisen mit dem Lebensnotwendigen versorgte.53
Anfang Mai rief er die Mitglieder im mittleren Utah dazu auf, nach jedem Wort Gottes zu leben. „Es ist nicht erwiesen, dass man ein Heiliger Gottes ist, nur weil man in diesem Tal lebt“, sagte er. „Wenn wir Gott oder den Menschen beweisen wollen, dass wir Heilige sind, dann müssen wir für Gott und für niemanden sonst leben.“54
Die von Osten und von Westen her verlegten Eisenbahnstrecken stießen endlich am folgenden Tag, dem 10. Mai 1869, in einem Tal westlich von Ogden aufeinander. Die Eisenbahngesellschaften ließen um die Hämmer, mit denen die letzten Nägel in die Schienen getrieben wurden, Telegrafendrähte wickeln. Jeder Hammerschlag beförderte über das Telegrafennetz einen elektrischen Impuls nach Salt Lake City und in andere Städte im ganzen Land und tat damit kund, dass nunmehr eine Eisenbahnlinie die Atlantikküste mit der Pazifikküste der Vereinigten Staaten verband.55
Die Mitglieder in Salt Lake City feierten dieses Ereignis im neuen Tabernakel auf dem Tempelplatz. An jenem Abend blieben die Lichter in allen öffentlichen Büros und Gebäuden lange nach Dienstschluss noch an und erleuchteten die Stadt. Auf einer Anhöhe nördlich der Stadt entzündeten Mitglieder ein riesiges Feuer, das kilometerweit zu sehen war.56