„In Gottes Hand“, Kapitel 39 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2020
Kapitel 39: In Gottes Hand
Kapitel 39
In Gottes Hand
Am 14. Dezember 1889 erhielt der neu berufene Apostel Anthon Lund bei sich zuhause in Ephraim in Utah ein Telegramm von der Ersten Präsidentschaft. Angesichts der jüngsten Fälle, in denen im Ausland geborenen Mitgliedern der Kirche die US-Staatsbürgerschaft verweigert worden war, war die Präsidentschaft beunruhigt und wollte den Vorwurf entkräften, es sei Heiligen unmöglich, treue Staatsbürger zu sein. Die Führer der Kirche hatten eine Erklärung verfasst, in der diese und andere falsche Anschuldigungen zurückgewiesen wurden. Nun wollten sie auch Anthons Namen als Mitglied des Kollegiums der Zwölf Apostel daruntersetzen.1
Anthon hatte die Kirche schon seit seiner Kindheit gegen falsche Darstellungen verteidigt. Nachdem er sich als Junge in seiner Heimat Dänemark der Kirche angeschlossen hatte, wurde er wegen seiner Glaubensansichten von Mitschülern verprügelt. Aber statt wütend zu werden, war Anthon ihnen mit Geduld und Freundlichkeit begegnet und hatte schließlich ihre Freundschaft und ihren Respekt gewonnen. Anthon hatte Dänemark im Alter von achtzehn Jahren verlassen, um sich den Heiligen in Utah anzuschließen. In den folgenden Jahrzehnten hatten er, seine Frau Sanie und ihre sechs Kinder viel geopfert, um beim Aufbau des Gottesreiches mitzuhelfen.2
Anthon antwortete sofort auf das Telegramm der Ersten Präsidentschaft und stimmte der Nennung seines Namens in der Erklärung zu. Er hatte bereits viele verantwortungsvolle Ämter in der Kirche innegehabt, unter anderem als Mitglied der Präsidentschaft des Manti-Tempels, doch dies war das erste Mal, dass sein Name um die Welt gehen und ihn als Apostel Jesu Christi ausweisen sollte.
Anders als einige andere Mitglieder des Kollegiums der Zwölf Apostel hatte Anthon nie in Mehrehe gelebt. Außerdem war er der erste neuzeitliche Apostel, dessen Muttersprache nicht Englisch war. Wilford Woodruff war sich sicher, diese Unterschiede würden für das Kollegium von Vorteil sein, und er wusste, dass Anthons Berufung Gottes Wille war. Anthons sanfte Art und seine Fremdsprachenkenntnisse konnten dazu beitragen, die Kirche ins nächste Jahrhundert zu führen.3
Als er in das Kollegium der Zwölf Apostel berufen wurde, bat Wilford George Q. Cannon, Anthon zur Vorbereitung auf seine neuen Aufgaben einen apostolischen Rat zu erteilen. „Um diese Berufung richtig zu erfüllen, musst du dein Leben lang arbeiten“, hatte George Anthon klargemacht. „Wie sicherlich nie zuvor wirst du die Notwendigkeit verspüren, Gott nahe zu sein, seine Macht anzurufen und dich durch seine Engel, die dich umringen, seiner Obhut anzuvertrauen.“
Anthon erfuhr weiter, dass er als Apostel das Recht hatte, Gottes Absicht und Willen zu erfahren. Er würde sich nach den Offenbarungen richten müssen, die er empfangen sollte – selbst wenn sie seinem gesunden Menschenverstand widersprachen. „Du kannst gar nicht demütig genug sein“, hatte George ihn gemahnt. Anthon solle seine Ansichten zwar frei äußern, zugleich aber dem Propheten des Herrn in aller Sanftmut zuhören. „Wir müssen bereit sein, erst einmal abzuwarten und zuzusehen, wie der Geist Gottes auf diesen von Gott erwählten Mann einwirkt“, hatte George erklärt.4
Noch am selben Tag, an dem Anthon auf das Telegramm geantwortet hatte, wurde die Erklärung der Ersten Präsidentschaft und des Kollegiums der Zwölf Apostel in den Deseret News veröffentlicht. Klar und deutlich verkündeten sie, dass die Kirche Gewalt verabscheue und beabsichtige, trotz der Bedrängnisse, die ihre Mitglieder unter den Gesetzen des Landes gegen die Polygamie erlitten hatten, mit der Regierung der Vereinigten Staaten in Frieden zu leben.
„Wir beanspruchen keine Religionsfreiheit, die wir nicht auch anderen bereitwillig zugestehen“, hieß es in der Erklärung. „Es ist unser Wunsch, als fester Bestandteil der Nation einträchtig mit der Regierung und dem Volk der Vereinigten Staaten zusammenzuleben.“5
Während die Führer der Kirche bestrebt waren, der Nation ihre Ansichten klar darzulegen, suchte Jane Manning James ihrerseits nach Klarheit und schrieb in jenem Winter an Joseph F. Smith. Jane war mittlerweile über sechzig Jahre alt und machte sich Gedanken darüber, was das Leben nach dem Tod für sie bereithielt. Die meisten Heiligen in Utah hatten im Tempel heilige Handlungen empfangen, die sie in diesem und im nächsten Leben an ihre Angehörigen siegelten. Jane wusste, dass sie als Schwarze von diesen höheren heiligen Handlungen ausgeschlossen war.
Sie wusste aber auch, dass Gott verheißen hatte, alle Nationen der Erde durch Abraham zu segnen. Sicherlich, dachte sie, galt diese Verheißung auch ihr.6
Zu Janes Sorge, was sie im nächsten Leben erwartete, kam noch hinzu, wie es derzeit um ihre Familie stand. Sie und ihr Mann Isaac hatten sich im Frühjahr 1870 scheiden lassen. Um 1874 hatte sie Frank Perkins geheiratet, einen Schwarzen, der ebenfalls der Kirche angehörte, aber ihre Ehe war nicht von Dauer gewesen. In diesen Jahren hatte sie zudem drei Kinder und mehrere Enkelkinder durch Krankheiten verloren. Vier ihrer Kinder waren noch am Leben, aber keines von ihnen war der Kirche so sehr verbunden wie sie.7
Würden sie im nächsten Leben bei ihr sein? Wenn nicht, gab es dort einen Platz und eine Familie für sie?
Als junge Frau hatte Jane im Haus von Joseph und Emma Smith in Nauvoo gelebt und gearbeitet. Damals hatte Emma ihr angeboten, sie als Tochter durch Adoption in ihre und Josephs Familie aufzunehmen, aber Jane hatte ihr vor Josephs Tod nie eine klare Antwort darauf gegeben. Inzwischen wusste Jane, dass man durch eine besondere Siegelung im Tempel in eine Familie aufgenommen werden konnte. Sie glaubte, dass Emma dies gemeint hatte, als sie ihr anbot, auf diese Weise Teil ihrer Familie zu werden.8
Anfang 1883 hatte Jane Präsident John Taylor besucht, um die Erlaubnis zu erhalten, ihr Endowment zu empfangen. Präsident Taylor besprach die Angelegenheit mit ihr, war aber der Ansicht, die Zeit, dass schwarze Mitglieder der Kirche die höheren heiligen Handlungen des Tempels empfangen sollten, sei noch nicht gekommen. Er hatte sich die Frage bereits einige Jahre zuvor durch den Kopf gehen lassen, als Elijah Able, ebenfalls ein schwarzes Mitglied, darum gebeten hatte, die heiligen Handlungen im Tempel zu empfangen. Obwohl Präsident Taylor Erkundigungen eingezogen und es sich bestätigt hatte, dass Elijah in den 30er Jahren das Melchisedekische Priestertum empfangen hatte, entschieden er und weitere Führer der Kirche, Elijahs Wunsch aufgrund seiner Hautfarbe abzulehnen.9
Fast zwei Jahre nach dem Gespräch mit Präsident Taylor hatte sich Jane erneut an ihn gewandt. „Ich weiß ja, dass ich wegen meiner Abstammung und Hautfarbe nicht das Endowment empfangen kann“, hatte sie damals festgestellt. Und doch, merkte sie an, habe Gott verheißen, alle Nachkommen Abrahams zu segnen. „Da doch dies die Fülle aller Evangeliumszeiten ist, gibt es da keinen Segen für mich?“, fragte sie.
„Meine Lebensgeschichte ist ja bekannt“, fuhr sie fort. „Nach besten Kräften habe ich alle Anforderungen des Evangeliums erfüllt.“ Dann erzählte sie von Emmas Angebot und äußerte ihren Wunsch, in Joseph Smiths Familie aufgenommen zu werden. „Wenn ich als sein Kind angenommen werden könnte“, schrieb sie, „wäre meine Seele zufrieden und glücklich.“10
Kurz nachdem Jane ihren Brief abgeschickt hatte, war Präsident Taylor von Salt Lake City aufgebrochen, um die Siedlungen im Süden und in Mexiko zu besuchen. Der Brief blieb bis zu seinem Tod unbeantwortet. Vier Jahre später stellte Janes Pfahlpräsident ihr einen Tempelschein aus, der sie berechtigte, sich im Tempel stellvertretend für Verstorbene taufen zu lassen. „Du musst dich wohl damit zufriedengeben und auf weitere Anweisungen des Herrn an seine Diener warten“, schrieb er. Kurz darauf reiste Jane zum Logan-Tempel und ließ sich stellvertretend für ihre Mutter, ihre Großmutter, ihre Tochter und weitere verstorbene Verwandte taufen.11
In ihrem Brief an Joseph F. Smith bat Jane nun erneut um die Möglichkeit, heilige Handlungen im Tempel zu empfangen, einschließlich der Aufnahme in die Familie Smith. „Ist das möglich und wenn ja, wann?“, fragte sie.12
Jane erhielt keine Antwort auf ihren Brief, also schrieb sie im April noch einmal. Wieder erhielt sie keine Antwort. Jane glaubte weiterhin an das wiederhergestellte Evangelium und die Propheten und betete, sie möge im Reich des Herrn die Erlösung empfangen. „Ich weiß, dass dies das Werk Gottes ist“, hatte sie einmal den Schwestern in ihrer Frauenhilfsvereinigung gesagt. „Es ist noch nie vorgekommen, dass ich den Wunsch hatte, mich zurückzuziehen.“
Sie vertraute auch auf die Verheißungen, die sie kurz zuvor von John Smith, dem älteren Bruder von Joseph F. Smith, in ihrem Patriarchalischen Segen erhalten hatte.
„Halte deine Bündnisse heilig, denn der Herr hat dein Flehen gehört“, wurde ihr in dem Segen versichert. „Seine Hand ist allezeit zu deinem Wohl über dir gewesen, und du wirst wahrlich deinen Lohn erhalten.
Du wirst deine Aufgabe zu Ende bringen und dein Erbe unter den Heiligen empfangen“, wurde ihr verheißen, „und dein Name wird der Nachwelt in ehrenhafter Erinnerung überliefert werden.“13
An einem verregneten Nachmittag Ende April 1890 schaute Emily Grant bei ihrer Freundin Josephine Smith vorbei. Beide Frauen lebten in Manassa, einem kleinen Ort in Colorado, einige Kilometer südlich von Sanford, wo Lorena und Bent Larsen wohnten. Weit entfernt von den größeren Siedlungen der Heiligen in Utah war Manassa zu einer Zuflucht für die „Polygamie-Witwen“, die versteckt lebenden Frauen aus Mehrehen, geworden. Emily war dort einsam, aber sie gab sich Mühe, in dieser zugigen Ortschaft für sich und ihre Töchter, die vierjährige Dessie und die kleine Grace, ein Zuhause zu schaffen.
Während der kurzen Kutschfahrt zu Josephines Haus hatte Dessie sich aufgeregt und geweint. Sie war traurig, dass ihr geliebter „Onkel Eli“ nicht mitkommen konnte. Auch Emily war betrübt. „Onkel Eli“ war Emilys Deckname für Apostel Heber Grant – ihren Mann, den Vater von Dessie und Grace. Als Hebers dritte Frau benutzte Emily diesen Namen in Briefen und in Gegenwart der Kinder, um Hebers Identität zu schützen.
Früher an diesem Tag war Heber zu seinem Haus in Salt Lake City aufgebrochen, nachdem er zwei Tage mit Emily und den Mädchen verbracht hatte. Emily hoffte, dass ein Besuch bei Josephine sie aufheitern würde. Doch kaum waren die Mädchen und sie angekommen, brach Emily in Tränen aus. Josephine verstand die Gefühle ihrer Freundin nur zu gut. Sie selbst war eine weitere Ehefrau des Apostels John Henry Smith, der gerade ebenfalls für einen kurzen Besuch vorbeigekommen war.14
Hebers Besuche kamen Emily nie lang genug vor. Die beiden waren zusammen in der Gemeinde 13 in Salt Lake City aufgewachsen und hatten im Frühjahr 1884 nach einer langen Zeit des Werbens geheiratet. Dass sie in Mehrehe lebte, konnte Emily nicht öffentlich machen. Sie war in den folgenden sechs Jahren oft umgezogen und hatte einige Zeit im Süden Idahos, in England und in einer geheimen Wohnung im Haus ihrer Mutter in Salt Lake City verbracht.15
Jetzt lebte sie in Manassa und hoffte, die lange Trennung von Heber werde eines Tages enden. Sie war das Leben in der Stadt gewohnt und musste sich immer noch an das dörfliche Leben gewöhnen. Manchmal kam es ihr so vor, als sei sie unendlich weit von jeglicher Zivilisation entfernt. Heber hatte sich bemüht, sie zu unterstützen. Er hatte ihr ein möbliertes Haus besorgt und dazu ein Pferdegespann, einige Kühe und Hühner, einen Lohnarbeiter und ein Abonnement für den Salt Lake Herald. Außerdem war ihre Schwiegermutter, Rachel Grant, zu ihr in die abgelegene Ortschaft gezogen.16
„Jetzt habe ich alles bei mir, was ich mir wünsche“, schrieb Emily einmal in einem Brief aus Manassa an Heber, „außer dir.“17
Knapp zwei Wochen nach Hebers Besuch erzählte ihm Emily in einem Brief von einer Versammlung in Manassa, bei der zwei Führer der Kirche gesagt hatten, die dort lebenden „Witwen“ würden womöglich nie nach Utah zurückkehren können. „Sie sagten, der nächste Schritt im Kongress werde sein, das Eigentum der Führer der Kirche zu beschlagnahmen“, berichtete sie, „und dann müssten wir froh sein, uns hier niedergelassen zu haben.“
Aber Emily war nicht überzeugt, dass sie in Manassa jemals glücklich werden könne.18 „Ich bete stets um Zufriedenheit, aber ich fühle mich immer noch mutlos und niedergeschlagen“, schrieb sie einige Monate später an Heber. „Vergiss nicht, für mich zu beten, mein Lieber, denn ohne die Hilfe des Vaters im Himmel kann ich das alles nicht viel länger ertragen, ohne den Verstand zu verlieren.“19
Am Sonntag, dem 17. August, besuchten Wilford Woodruff und seine Ratgeber die kleine Siedlung. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten bereits über die Rechtmäßigkeit des Edmunds-Tucker-Gesetzes entschieden. Das Gericht war in diesem Fall geteilter Meinung gewesen. Eine knappe Mehrheit der Richter hatte dann aber doch für die Beibehaltung des Gesetzes gestimmt, obwohl die Heiligen geltend gemacht hatten, es verletze ihre Religionsfreiheit. Das Urteil gab den Staatsbeamten die uneingeschränkte Befugnis, die im Gesetz vorgesehenen Zwangsmaßnahmen zu vollstrecken, was auch bedeutete, dass weiteres Eigentum der Kirche beschlagnahmt werden konnte.20
Bei einem Treffen mit den Heiligen in Manassa mahnte George Q. Cannon die Familien, vorsichtig zu sein. Einige der Männer in der Dorfgemeinde lebten mit mehr als einer Frau zusammen, sagte er, und riskierten so, der ganzen Gemeinschaft Ärger und Verfolgung einzuhandeln. Die Bemerkung machte einige Männer wütend. Sie suchten George am nächsten Tag auf, um zu erklären, wie schwer es für ihre Familien sei, getrennt zu leben.21
Ehe Wilford und seine Ratgeber abreisten, empfing Emily sie und weitere Freunde und Bekannte zum Frühstück. Danach begleiteten sie und einige andere Frauen die Besucher zum Bahnhof. Der Zug verspätete sich. Das verschaffte Emily eine Gelegenheit, noch ein wenig Zeit mit der Ersten Präsidentschaft zu verbringen. Als der Zug schließlich einfuhr, schüttelte sie jedem der Brüder die Hand. „Gott segne dich“, wünschten sie einander. „Friede sei mit dir.“
Emily sehnte sich danach, Manassa ebenfalls zu verlassen. „Sie fuhren davon“, schrieb sie Heber, „und wir kehrten an diesen trostlosen Ort zurück.“22
Die Erste Präsidentschaft war Ende August wieder in Salt Lake City versammelt, pünktlich zum einjährigen Bestehen von Iosepa, der ersten Siedlung hawaiianischer Heiliger in Utah. Iosepa ist die hawaiianische Form des Namens Josef.23
Als sich in den Jahren ab 1850 die ersten Hawaiianer der Kirche anschlossen, war es den Einwohnern des Königreichs Hawaii untersagt, die Inseln zu verlassen. Das hatte die Führer der Kirche veranlasst, Laie als Sammlungsort für die hawaiianischen Heiligen zu gründen. Doch allmählich lockerten sich die Gesetze, und einige Hawaiianer, die unbedingt die Segnungen des Tempels empfangen wollten, ließen sich in den 80er Jahren im Territorium Utah nieder.
1889 hatte die Erste Präsidentschaft einen Ausschuss gebildet, dem drei Hawaiianer angehörten. Er sollte einen geeigneten Ort in Utah finden, wo die hawaiianischen Mitglieder Häuser und Farmen aufbauen konnten. Nachdem verschiedene Gebiete begutachtet worden waren, schlug die Gruppe mehrere Standorte vor, darunter eine knapp achthundert Hektar große Ranch etwa hundert Kilometer südwestlich von Salt Lake City. Die Erste Präsidentschaft prüfte die Ergebnisse des Ausschusses und beschloss, die Ranch für die neue Siedlung zu erwerben.24
Im ganzen folgenden Jahr arbeiteten die Heiligen in Iosepa fleißig daran, Häuser zu errichten, Feldfrüchte anzubauen und das Vieh zu versorgen. Der erste Winter war hart, vor allem im Vergleich zum tropischen Klima auf Hawaii. Aber die Siedler waren hartnäckig und voller Hoffnung, dass der fruchtbare Boden in Iosepa und die gute Versorgung mit Wasser aus den nahen Bergen im Sommer eine reiche Ernte einbringen würden.25
Es war ein warmer, strahlender Tag, an dem die Jahresfeier stattfand. Als sich die Mitglieder der Ersten Präsidentschaft, begleitet von jeweils einer ihrer Frauen, der Siedlung näherten, erschien ihnen Iosepa wie eine grüne Oase inmitten der Wüstenlandschaft. Der Mais stand hoch in den umliegenden Feldern. Die Hülsen platzten schon auf und gaben den Blick auf pralle Maiskolben frei. Das Stroh lag in großen gelben Ballen auf den abgeernteten Feldern.
Die hawaiianischen Heiligen scharten sich um ihre Besucher und begrüßten begeistert ihren Propheten und seine Ratgeber George Q. Cannon und Joseph F. Smith, die ja beide als junge Männer in Hawaii auf Mission gewesen waren. Der Abend war erfüllt von fröhlicher Musik, als die Heiligen in Iosepa sangen und auf ihren Gitarren, Mandolinen und Geigen spielten.
Auch am nächsten Tag ging die Feier noch weiter. Nach einer Parade gab es zum Mittagessen Fleisch, das nach hawaiianischer Art in einer Grube geschmort worden war. Als George die Speisen segnete, sprach er Hawaiianisch. Es war das erste Mal seit sechsunddreißig Jahren, dass er wieder in dieser Sprache betete.
Später am Tag kamen alle zu einer Sonderversammlung zusammen. Solomona, ein Mann jenseits der neunzig, den George Jahrzehnte zuvor getauft hatte, sprach ein inniges Anfangsgebet. Ein weiteres Mitglied, Kaelakai Honua, sprach davon, wie barmherzig sich Gott den Menschen von den Inseln des Meeres gezeigt habe, indem er sie nach Zion brachte. Ein weiterer Sprecher, Kauleinamoku, beklagte, dass einige Leute Iosepa verlassen hatten und in den Pazifik zurückgekehrt waren. Er forderte die Heiligen eindringlich auf, treu zu sein und sich nicht der Unzufriedenheit anheimzugeben.
Überall in Iosepa feierten die Heiligen miteinander, und Wilford, George und Joseph nahmen an ihrem Glück teil. George hatte nach all den Jahren viel von seinen hawaiianischen Sprachkenntnissen eingebüßt und war daher erstaunt, dass er fast jedes Wort, das bei den Feierlichkeiten gesprochen wurde, verstand.26
Wenige Tage nach der Rückkehr der Ersten Präsidentschaft aus Iosepa traf die Nachricht ein, dass Henry Lawrence, der neue Beamte der Bundesregierung, der dazu ermächtigt worden war, unter dem Edmunds-Tucker-Gesetz Eigentum der Kirche zu konfiszieren, nun damit drohte, die Tempel in Logan, Manti und St. George zu beschlagnahmen.
Henry hatte einmal der Kirche angehört, war jedoch seit mehr als zwei Jahrzehnten ein erbitterter Gegner der Heiligen. Er hatte sich damals der Neuen Bewegung von William Godbe und Elias Harrison angeschlossen und erst vor kurzem in dem Prozess ausgesagt, in dem es darum ging, eingewanderten Mitgliedern die Staatsangehörigkeit zu verwehren.
Henry wusste, dass nach dem Edmunds-Tucker-Gesetz Gebäude, die „ausschließlich zu Zwecken der Gottesverehrung“ genutzt wurden, geschützt waren. Er wollte aber beweisen, dass Tempel auch für andere Zwecke genutzt wurden und daher wie anderer Besitz beschlagnahmt werden konnten.
Am 2. September erfuhr die Erste Präsidentschaft, dass es Henry gelungen war, eine Vorladung zu erwirken, die Wilford auferlegte, vor Gericht über Liegenschaften der Kirche auszusagen. Um der Vorladung zu entgehen, reiste die Präsidentschaft nach Kalifornien, wo sie sich mit mehreren einflussreichen Leuten, die für die Heiligen in dieser Notlage Verständnis hatten, beraten wollte. Aber auch diese Leute machten ihr wenig Hoffnung, dass die Regierung der Vereinigten Staaten und das amerikanische Volk ihre Meinung über die Kirche ändern würden, solange die Heiligen weiterhin die Mehrehe praktizierten.27
Wilford und seine Ratgeber kehrten einige Wochen später nach Utah zurück. Dort erfuhren sie, dass die Utah-Kommission, eine Gruppe von Bundesbeamten, die für Wahlen in Utah zuständig war und überwachte, ob sich die Heiligen an die Gesetze gegen die Polygamie hielten, soeben der Bundesregierung ihren jährlichen Bericht zugeschickt hatte. In ihrem diesjährigen Bericht wurde fälschlicherweise behauptet, dass die Führer der Kirche die Mehrehe nach wie vor öffentlich guthießen und unterstützten. Zudem wurde – ohne jeden Beleg – behauptet, im vergangenen Jahr seien in Utah einundvierzig Mehrehen geschlossen worden.
Die Kommission empfahl dem Kongress, noch härtere Gesetze gegen die Kirche zu erlassen, um der Mehrehe ein für allemal ein Ende zu bereiten.28
Der Bericht versetzte Wilford in Rage. Auch wenn er keine öffentliche Erklärung über den aktuellen Stand der Mehrehe in der Kirche abgegeben hatte, hatte er bereits angeordnet, dass keine Mehrehen mehr vollzogen werden sollten – weder in Utah noch irgendwo sonst in den Vereinigten Staaten. Außerdem hatte er im vergangenen Jahr viel dafür getan, neuen Mehrehen entgegenzuwirken, auch wenn in dem Bericht nun das Gegenteil behauptet wurde.29
Am 22. September traf sich Wilford mit seinen Ratgebern im Gardo House, dem offiziellen Sitz des Präsidenten der Kirche in Salt Lake City, um zu besprechen, was man wegen des Berichts unternehmen solle. George Q. Cannon schlug vor, die Behauptungen zu dementieren. „Vielleicht wurde uns nie eine bessere Chance geboten“, führte er an, „als Führer der Kirche unsere Ansichten über unsere Lehre und das erlassene Gesetz öffentlich zu äußern.“30
Später, nach einem Tag voller Besprechungen, betete Wilford um Führung. Wenn die Kirche nicht aufhören würde, Mehrehen zu vollziehen, würde die Regierung weiter Gesetze gegen die Heiligen verabschieden, deren große Mehrheit noch nicht einmal nach diesem Grundsatz lebte. Chaos und Verwirrung würden in Zion herrschen. Noch mehr Männer würden im Gefängnis landen, und die Regierung würde die Tempel beschlagnahmen. Seit der Weihung der neuen Tempel hatten die Heiligen hunderttausende heilige Handlungen für Verstorbene verrichtet. Wie vielen von Gottes Kindern, ob lebend oder verstorben, würden die heiligen Verordnungen des Evangeliums verwehrt bleiben, wenn die Regierung diese Gebäude übernähme?31
Am nächsten Tag teilte Wilford George mit, er sei überzeugt, es sei seine Pflicht als Präsident der Kirche, ein Manifest, also eine öffentliche Erklärung, an die Presse herauszugeben. Dann beorderte er seinen Sekretär in ein ruhiges Zimmer. George wartete draußen.
Unterdessen traf der Apostel Franklin Richards im Gardo House ein. Er wollte den Propheten sprechen. George sagte ihm, Wilford sei beschäftigt und dürfe nicht gestört werden. Kurz darauf kam Wilford aus dem Zimmer, in der Hand eine Erklärung, die er gerade diktiert hatte. Seine Aufregung über den Bericht der Utah-Kommission hatte sich gelegt. Sein Gesicht schien zu leuchten, und er sah erleichtert und zufrieden aus.
Wilford ließ das Dokument verlesen. In der Erklärung wurde der Beschuldigung, im vergangenen Jahr seien neue Mehrehen geschlossen worden, widersprochen, und die Bereitschaft der Kirche, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, wurde bekräftigt. „Da nun die Nation ein Gesetz erlassen hat, das die Mehrehe verbietet“, hieß es in der Erklärung, „fühlen wir uns verpflichtet, uns diesem Gesetz zu fügen und die Angelegenheit in Gottes Hand zu legen.“
„Ich bin sicher, das wird hilfreich sein“, meinte George. Er hielt die Erklärung noch nicht für so ausgefeilt, dass man sie veröffentlichen könne, aber der Ansatz war richtig.32
Am nächsten Tag beauftragte die Erste Präsidentschaft drei erfahrene Autoren – den Sekretär George Reynolds, den Zeitungsredakteur Charles Penrose sowie John Winder, Ratgeber in der Präsidierenden Bischofschaft –, die Erklärung sprachlich nachzubessern und für die Veröffentlichung vorzubereiten. Wilford präsentierte dann das überarbeitete Dokument den Aposteln Franklin Richards, Moses Thatcher und Marriner Merrill, die weitere Verbesserungen empfahlen.
Nach der Überarbeitung wurde in dem Manifest, wie es dann genannt wurde, verkündet, das künftig keine Mehrehen mehr geschlossen würden. Außerdem wurde Wilfords Entschlossenheit betont, die Gesetze des Landes zu befolgen und die Heiligen dafür zu gewinnen, es ihm nachzutun.
„Wir lehren keine Polygamie oder Mehrehe und gestatten auch niemandem, ihre Ausübung einzugehen“, war zu lesen. „Ich erkläre hiermit meine Absicht, mich diesen Gesetzen zu fügen und bei den Mitgliedern der Kirche, deren Präsident ich bin, meinen Einfluss geltend zu machen, dass sie es auch tun.“33
Die anwesenden Apostel hießen das Dokument gut und schickten es per Telegramm an die Presse.34
„Die ganze Angelegenheit wurde von Präsident Woodruff persönlich veranlasst“, notierte George Q. Cannon an diesem Tag in seinem Tagebuch. „Er sagte, der Herr habe ihm klargemacht, dass dies seine Pflicht sei, und er sei sich völlig im Klaren darüber, dass es das Richtige sei.“35
Auch Wilford äußert sich in seinem Tagebuch zum Manifest. „Ich bin in meinem Leben als Präsident der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage an einem Punkt angelangt“, schrieb er, „da ich mich für die zeitliche Rettung der Kirche einsetzen muss.“36
Die Regierung stand entschlossen gegen die Mehrehe, das wusste er. Deshalb hatte Wilford gebetet und hatte vom Heiligen Geist Inspiration empfangen. Der Herr hatte den Heiligen seinen Willen offenbart.