„Ihr Blick ist auf Zion gerichtet“, Kapitel 12 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2019
Kapitel 12: „Ihr Blick ist auf Zion gerichtet“
Kapitel 12
Ihr Blick ist auf Zion gerichtet
Am Vormittag des 6. Aprils 1853 stand Brigham Young mit seinen Ratgebern Heber Kimball und Willard Richards neben dem teilweise ausgehobenen Fundament für den neuen Tempel in Salt Lake City. Seit Monaten, wenn nicht seit Jahren, hatte er sich auf diesen Tag gefreut, und der klare blaue Himmel ließ keine Wünsche offen. Heute vor dreiundzwanzig Jahren war die Kirche gegründet worden, und es war der erste Tag der Frühjahrs-Generalkonferenz. Tausende Heilige waren zum Tempelblock geströmt, wie sie es inzwischen zweimal im Jahr taten, um ihre Führer sprechen zu hören. Aber heute war es anders. Sie sollten auch Zeuge der Ecksteinlegung für den Tempel werden.1
Brigham hätte jubeln können. Vor zweieinhalb Monaten hatte er den ersten Spatenstich für den Tempel vorgenommen, und Heber hatte das Grundstück geweiht. Die Arbeiter hatten nicht genug Zeit gehabt, den Aushub für das massive Fundament zu vollenden, jedoch für die Mauern tiefe Gräben gezogen, die für die gewaltigen Ecksteine aus Sandstein groß genug waren. Bis der Aushub abgeschlossen war, würden wohl noch weitere zwei Monate vergehen.2
Brigham und seine Ratgeber legten vor den versammelten Heiligen den Eckstein an der Südostecke des Fundaments.3 Jeder Eckstein wog weit über zwei Tonnen.4 Mit sechs Türmen sollte der Tempel viel größer werden als die Tempel in Kirtland und in Nauvoo, und er brauchte ein solides Fundament, das sein Gewicht tragen konnte. Bei einem Treffen mit dem Architekten Truman Angell hatte Brigham eine Skizze des Tempels auf eine Schiefertafel gezeichnet und erklärt, die drei Türme im Osten stünden für das Melchisedekische Priestertum und die drei im Westen für das Aaronische Priestertum.5
Nach der Ecksteinlegung verlas Thomas Bullock, ein Schreiber der Kirche, eine von Brigham Young verfasste Predigt über den Sinn und Zweck von Tempeln. Viele Heilige hatten zwar im Tempel in Nauvoo oder im Ratsgebäude von Salt Lake City, das Brigham vorläufig für einige Tempelverordnungen nutzen ließ, das Endowment empfangen, aber die meisten hatten es nur einmal miterlebt und erfassten womöglich die Schönheit und Bedeutung dieser heiligen Handlung noch nicht. Andere Heilige, etwa die vielen Neuankömmlinge aus Europa, hatten noch nicht die Gelegenheit gehabt, das Endowment zu empfangen. Damit sie die Bedeutung der heiligen Handlung besser verstehen konnten, erläuterte Brigham, was es damit auf sich hatte.6
„Das Endowment“, hieß es in der Predigt, „besteht darin, alle heiligen Handlungen im Haus des Herrn zu empfangen, die ihr braucht, um nach dem Hinscheiden aus diesem Leben zurück in die Gegenwart des Vaters gelangen zu können – vorbei an den Engeln, die als Wächter aufgestellt sind, denn ihr könnt ihnen die Schlüsselwörter, Zeichen und Kennzeichen geben, die zum heiligen Priestertum gehören, und trotz Erde und Hölle eure ewige Erhöhung erlangen.“7
Schon vor der Ankunft im Salzseetal hatte Brigham beabsichtigt, einen weiteren Tempel zu errichten, sobald die Kirche einen neuen Sammlungsort gefunden hatte. Als er im Tal angekommen war, hatte er den Tempel in einer Vision gesehen. „Im letzten Juli war es fünf Jahre her, dass ich den Tempel keine drei Meter von dort, wo wir den Stein gelegt haben, gesehen habe“, bezeugte er den Heiligen bei der Konferenz. „Sooft ich das Grundstück hier sehe, sehe ich die Vision des Tempels vor mir.“8
Brigham verhieß den Heiligen, dass der Tempel schöner und erhabener werden würde als alles, was sie jemals gesehen oder sich vorgestellt hatten, wenn sie sich nur eifrig für den Tempelbau einsetzten und ihren Zehnten zahlten.9
Kurz nach der Ecksteinlegung erhielt Ann Eliza Secrist an einem einzigen Tag vier Briefe von ihrem Mann Jacob. Jeden Brief hatte er von einem anderen Ort seiner Reise ins Missionsgebiet geschrieben. Der aktuellste stammte vom 28. Januar 1853, und Jacob berichtete, er habe endlich Hamburg erreicht, eine Stadt im Deutschen Bund.10
Acht Monate nach seiner Abreise hatte sich Ann Eliza schon besser damit abgefunden, dass er so lange fort war. Die Deseret News druckten oft Briefe von Ältesten in aller Welt ab, damit die Heiligen von der Missionsarbeit in fernen Ländern wie Australien, Schweden, Italien oder Indien erfuhren. In manchen Berichten war davon die Rede, dass die Missionare heftigem Widerstand ausgesetzt waren. Tatsächlich hatte Ann Eliza erst zwei Tage vor der Ankunft von Jacobs Briefen in den Deseret News gelesen, dass man in Hamburg einen Missionar aus der Stadt werfen wollte.
Anstatt um Jacob zu bangen, schrieb Ann Eliza ihm einen aufmunternden Brief. „Man braucht gar nicht erst zu versuchen, dieses Werk aufzuhalten“, erklärte sie. „Trotz aller Teufel auf Erden und in der Hölle wird es vorwärtsgehen, und niemand kann seinen Fortschritt behindern.“11
In jedem Brief an ihren Mann berichtete Ann Eliza, wie es gesundheitlich um die Kinder stand. Im Winter waren sie an Scharlach erkrankt, aber bis zum Frühjahr hatten sie sich davon erholt. Dann hatten sie sich einen Monat lang mit den Windpocken herumplagen müssen. In dieser Zeit sprachen die Kinder oft von ihrem Vater – besonders wenn es etwas zu essen gab, was auch ihm gut geschmeckt hätte.
Auch berichtete sie von der Farm der Familie etwa dreißig Kilometer nördlich von Salt Lake City. Jacob und Ann Eliza hatten ein paar Männer angeheuert, sich um die Farm zu kümmern, während die Familie in der Stadt lebte, und vor kurzem hatte ein Arbeiter nach Glas, Nägeln und Bauholz verlangt, damit er auf dem Grundstück ein Haus fertigstellen konnte. Sie beschaffte ihm das Material aus ihrem Haus in der Stadt, obwohl dieses selbst noch nicht fertig war. Derselbe Mann forderte später Bezahlung für Arbeiten, die er eigentlich unentgeltlich hatte verrichten wollen. Ann Eliza standen weder Bargeld noch Weizen zur Verfügung, und sie musste eine Kuh verkaufen, um ihm das Geld geben zu können.12
In ihrem nächsten Brief an Jacob berichtete Ann Eliza jedoch freudig, dass es der Farm gut ging und die Ernte vielversprechend aussah. Auch erwähnte sie, sie habe das starke Gefühl, sie solle mit den Kindern auf die Farm zurückkehren, ein kleines Haus bauen und dort wohnen. Sie wollte eine solch wichtige Entscheidung jedoch nicht ohne Jacobs Rat treffen. „Ich möchte wissen, was du davon hältst“, schrieb sie. „Schreib mir so bald wie möglich, was du meinst.“
Diese Bitte schmückte sie mit noch liebevolleren und zuversichtlicheren Worten aus als sonst. „Auch wenn wir durch weite Ozeane, die ausgedehnte Prärie und schneebedeckte Berge weit, weit voneinander getrennt sind, denke ich ständig an dich und dein Wohlergehen“, schrieb sie. „Lass dich nicht beunruhigen, was mich angeht, denn ich bin überzeugt, dass Gott, in dessen Dienst du stehst, mich behüten wird.“13
Im Frühjahr versetzten Zeitungsberichte über die Predigt, die Orson Pratt im August 1852 über die Mehrehe gehalten hatte, die Insel Maui in Aufruhr. In Hawaii hatte man früher Polygamie praktiziert, aber die Regierung hatte den Brauch für illegal erklärt, und wer sich nicht an das Gesetz hielt, wurde strafrechtlich verfolgt. Rasch hatten protestantische Missionare Worte aus Orsons Predigt aufgegriffen und verdreht, um die Heiligen zu verhöhnen und Zweifel an der Kirche aufzuwerfen.14
George Q. Cannon war überzeugt, dass Wahrheit und Offenheit die beste Methode war, Lügen und Missverständnissen über die Kirche zu begegnen, und so legte er bei der Übersetzung des Buches Mormon eine Pause ein, übersetzte stattdessen die Offenbarung zur Mehrehe und hielt darüber vor etwa tausend Zuhörern eine Predigt, mit der er die Verwirrung wegen der Mehrehe zerstreute. George stellte klar, dass von niemandem erwartet wurde, sie auszuüben, es sei denn, der Herr gebiete es.15
Vor der Predigt hatte George Jonathan Napela seine Übersetzung der Offenbarung gezeigt. Napela war davon angetan. Bevor er sich 1852 hatte taufen lassen, war er von seinen protestantischen Freunden bedrängt worden, sich von der Kirche abzuwenden. Die enge Zusammenarbeit mit George in der Kirche hatte seinen Glauben jedoch gefestigt. Die Übersetzung des Buches Mormon war äußerst anstrengend, und hie und da legten er und George eine Pause ein und sprachen über das Buch. Napela spürte, dass sich etwas in seinem Leben veränderte. Wie es in einem Abschnitt des Buches Alma beschrieben wurde, war ein Samen gepflanzt worden, der nun heranwuchs. Das wiederhergestellte Evangelium Jesu Christi erschien ihm richtig und gut, und er wollte andere daran teilhaben lassen.16
Napela begleitete dann auch die Missionare bei ihren Besuchen, und er predigte das Evangelium überzeugend und redegewandt. Eines Tages schrieb er sogar Brigham Young seine Bekehrungsgeschichte. „Für uns ist es offensichtlich, dass dies die Kirche Gottes ist“, bekräftigte er. „Und ich hege die Hoffnung, zu gegebener Zeit dorthin zu kommen, wo ihr seid.“17
Wann immer neue Missionare auf den Inseln eintrafen, waren ihre unbeholfenen Versuche, mit der Sprache zurechtzukommen, fast schon amüsant. Napela bot ihnen Sprachunterricht an, und sie nahmen das Angebot gerne an. Er stattete sie mit Bibeln in hawaiianischer Sprache und Wörterbüchern aus, stellte ihnen einen Raum zur Verfügung, wo sie lernen konnten, und besorgte ihnen etwas zu essen. Jeden Morgen und jeden Abend sagten die Ältesten Schriftstellen aus der Bibel auf Hawaiianisch auf, und Napela trichterte ihnen die Grundlagen seiner Muttersprache ein. Am Ende des Tages waren seine Schüler erschöpft.
„Ich habe schon immer hart gearbeitet“, berichtete ein Missionar. „Aber das hier ist die schwerste Arbeit von allen.“18
Nach ein paar Tagen Unterricht mit Napela konnten die Ältesten ein paar Wörter aussprechen, auch wenn sie von dem, was sie lasen, noch nichts verstanden. Es war noch kein Monat vergangen, da nahmen sie ihre Bücher an ein stilles Fleckchen im Wald mit und übten die Sprache, indem sie Kapitel aus der Bibel aus dem Englischen in einfaches Hawaiianisch übersetzten.19
Als Napela mit dem Sprachunterricht fertig war, schwärmten die Ältesten über die Inseln aus – nunmehr besser gewappnet, ihre Mission zu erfüllen. Bald schon wurde Napela zum Ältesten ordiniert und war damit einer der ersten Hawaiianer, die das Melchisedekische Priestertum trugen. Das Evangelium hatte in ihm Wurzeln gefasst und fasste nun auch, nicht zuletzt dank seiner Bemühungen, in Hawaii Wurzeln.20
Am 18. April 1853 warf William Walker zum ersten Mal einen Blick auf Kapstadt.21 Die Stadt lag am südwestlichen Ende einer Bucht, am Fuße eines hohen, oben abgeflachten Berges. Ein weiterer Gipfel, fast so hoch wie der andere, erhob sich westlich der Stadt. Von dort, wo William stand – an Deck eines Schiffes anderthalb Kilometer vor der Küste –, wirkte der Berg wie ein riesiger Löwe, der ausgestreckt dalag.22
William und seine Gefährten, Jesse Haven und Leonard Smith, gehörten zu einhundertacht Männern, die vor acht Monaten, im August 1852, bei einer Sonderkonferenz auf Mission berufen worden waren. Als seine Berufung bekanntgegeben wurde, war William gerade dabei, in den Bergen südöstlich von Salt Lake City Bäume zu fällen, denn er wollte eine Sägemühle bauen. Ein paar Tage später war er in die Stadt gegangen, um für die Arbeit an der Mühle ein paar Männer anzuheuern, und hatte unterwegs von seiner neuen Aufgabe erfahren.23
William, der dem Mormonenbataillon angehört hatte und der Sache Zions zutiefst verbunden war, hatte sofort mit den Missionsvorbereitungen begonnen. Er war zweiunddreißig Jahre alt und hatte zwei Frauen, zwei kleine Kinder und ein zweistöckiges Lehmziegelhaus in der Stadt. Er verkaufte seinen Anteil an der Sägemühle, besorgte davon einen Jahresvorrat für seine Familie und brach fünfzehn Tage später von Salt Lake City aus auf.24
Nachdem das Schiff in Kapstadt vor Anker gegangen war, gingen William und seine Gefährten von Bord. Sie waren buchstäblich um die halbe Welt gereist.25 Kapstadt war einst eine niederländische Siedlung gewesen, mittlerweile aber britisches Hoheitsgebiet. Die britischen Kolonisten und die Buren – Nachfahren der ersten niederländischen Kolonisten – machten einen nicht unerheblichen Teil der dreißigtausend Einwohner aus, aber fast die Hälfte der Bevölkerung waren gemischter Abstammung oder Schwarze, darunter viele Muslime und ehemalige Sklaven.26
Am 25. April hielten die Missionare abends ihre erste Versammlung im Rathaus ab. Jesse schlug das Neue Testament auf und predigte der wohlgesinnten Menge aus dem Galaterbrief. Anschließend sprach Leonard in seiner Predigt über Joseph Smith, das Buch Mormon und Offenbarung. Einige der Zuhörer wurden laut und störten mit Zwischenrufen. Es kam zu einem Tumult, und die Versammlung endete im Chaos. Als die Missionare am nächsten Tag zum Rathaus zurückkehrten, um eine weitere Versammlung abzuhalten, waren die Türen verschlossen.27
Die Missionare fasteten und beteten, der Herr möge das Herz der Menschen öffnen, damit sie die Wahrheit empfingen und sie freundlicher aufnahmen. An den meisten Abenden legten sich die Ältesten hungrig ins Bett. „Wir haben nur wenige Freunde“, schrieb William in sein Tagebuch. „Der Teufel ist fest entschlossen, uns auszuhungern.“28
Ein weiterer Aspekt, der ihre Arbeit erschwerte, war die Rassenfrage. Erst vor einem Jahr hatte die gesetzgebende Versammlung von Utah darüber debattiert, wie man mit der Versklavung von Schwarzen in Utah verfahren solle. Weder Brigham Young noch die Abgeordneten wollten, dass sich die Sklaverei in der Region ausbreitete, aber einige Heilige aus den Südstaaten hatten bereits Sklaven ins Territorium mitgenommen. Brigham war überzeugt, man müsse jedermann mit Menschlichkeit begegnen, und lehnte die Sklaverei, wie sie im amerikanischen Süden existierte, wo Sklaven und Sklavinnen wie Besitz behandelt und ihrer Rechte beraubt wurden, ab. Aber wie die meisten Amerikaner aus den Nordstaaten fand auch er, dass Schwarze zur Knechtschaft gut geeignet waren.29
Im Laufe der Debatten verkündete Brigham zum ersten Mal öffentlich, dass Menschen mit schwarzafrikanischer Abstammung nicht mehr zum Priestertum ordiniert werden durften. Zuvor waren schon ein paar Schwarze ordiniert worden, und für andere Rassen oder ethnische Gruppen gab es weder damals noch später irgendwelche Einschränkungen. Zur Erläuterung berief sich Brigham auf die weitverbreitete, aber irrige Vorstellung, Gott habe Menschen schwarzafrikanischer Abstammung verflucht. Er erklärte jedoch auch, dass schwarze Mitglieder irgendwann in der Zukunft „alle Vorzüge“ genießen würden, derer sich die übrigen Mitglieder erfreuten – „und mehr“.30
Der Apostel Orson Pratt, ebenfalls ein Abgeordneter, sprach sich gegen Sklaverei im Territorium aus, und warnte die Versammelten davor, ohne göttliche Vollmacht ein Volk mit Versklavung zu belegen. „Sollen wir wirklich den unschuldigen Afrikaner, der sich keiner Sünde schuldig gemacht hat, zur Sklaverei und Gefangenschaft verdammen, ohne vom Himmel dazu ermächtigt worden zu sein?“, fragte er.31
Orson Spencer, ein ehemaliger Missionspräsident, der ebenfalls der gesetzgebenden Versammlung angehörte, fragte sich außerdem, wie sich diese Einschränkung auf die Missionsarbeit auswirken würde. „Wie können wir das Evangelium nach Afrika bringen?“, wollte er wissen. „Wir können ihnen nicht das Priestertum geben. Wie können sie es erlangen?“32
Solche Fragen zur Einschränkung des Priestertums blieben allerdings unbeantwortet, und die gesetzgebende Versammlung stimmte schließlich dafür, Regelungen für die „Knechtschaft“ Schwarzer im Territorium einzuführen.33
Falls sich Brighams Worte auf die Arbeit von William und seinen Missionsgefährten in Südafrika direkt ausgewirkt haben sollten, so erwähnten sie in ihren Briefen nichts davon. Seinen Worten zufolge war es ja auch nicht verboten, dass sich Schwarze der Kirche anschlossen. Doch während sich andere Kirchen um die Bekehrung des schwarzen Bevölkerungsteils bemühten, konzentrierten sich William, Jesse und Leonard vor allem auf die weißen Einwohner.34
Eines Tages – ein Monat erfolglosen Missionierens war vergangen – wanderte William etliche Kilometer außerhalb der Stadt und suchte nach neuen Orten, wo sie predigen konnten. Es regnete in Strömen, und Williams Hose und Schuhe waren schon bald völlig durchnässt. Nach einiger Zeit kam er an ein Wirtshaus und stellte sich als Missionar der Heiligen der Letzten Tage vor.
Der Wirt starrte ihn unbeeindruckt an. „Es ist mir egal, wer zum Teufel Sie sind“, sagte er, „solange Sie bezahlen.“
„Wir reisen und predigen ohne Geldbeutel oder Vorratstasche“, erklärte William, aber der Wirt wies ihn sofort zurück.
Traurig schleppte sich William vorwärts in die verregnete Nacht, die schmerzenden Füße voller Blasen. Bald darauf wurde der Wind heftiger, und er flehte an jedem Haus, bei dem er vorbeikam, um eine Bleibe. Als er in der Stadt Mowbray ankam, sechs Kilometer von Kapstadt entfernt, hatte man ihn sechzehn Mal abgewiesen.
Auch in Mowbray klopfte er an eine Tür, und zwei Männer öffneten ihm. William fragte den jüngeren der beiden, ob er ihm nicht eine Kammer oder ein Bett zur Verfügung stellen könne. Der junge Mann wollte ihm helfen, hatte jedoch keinen Platz, wo er ihn unterbringen konnte.
Enttäuscht trat William zurück in den Regen. Kurz darauf holte ihn jedoch der ältere Mann ein und bot ihm an, bei ihm zuhause zu übernachten. Unterwegs stellte er sich als Nicholas Paul vor. Er war der Geschäftspartner des anderen Mannes, Charles Rawlinson. Die beiden Bauunternehmer aus England waren aus beruflichen Gründen nach Südafrika gezogen.
William und Nicholas erreichten dessen Haus kurz nach neun Uhr abends. Williams Kleidung war tropfnass, und Harriet, Nicholas’ Frau, machte schnell ein Feuer. Dann setzte sie ihm ein warmes Essen vor, und William sang ein Lied und sprach ein Gebet. Sie unterhielten sich zwei Stunden lang, ehe die Müdigkeit sie übermannte und sie sich zur Nachtruhe zurückzogen.35
Ein paar Tage nachdem William Nicholas und Harriet Paul kennengelernt hatte, erlaubte man ihm, den Häftlingen in einem Gefängnis in der Nähe von Pauls Haus zu predigen. Nicholas kam mit Charles Rawlinson zur Predigt, und beide waren von Williams Botschaft beeindruckt. Harriet erklärte dem Missionar, er sei jederzeit bei ihnen willkommen. Bald darauf boten sie und ihr Mann ihr Haus für eine Versammlung der Kirche an.
Nicholas beschäftigte in Mowbray vierzig bis fünfzig Angestellte und genoss einen guten Ruf. Doch als man in der Stadt von der anstehenden Versammlung hörte, drohte man ihm, Fenster und Türen zu zertrümmern und die Zusammenkunft aufzulösen. Nicholas erklärte, jedermann sei bei ihm herzlich willkommen, drohte aber, auf jeden, der William oder sonst wen im Haus beleidigte, zu schießen. Als die Versammlung schließlich stattfand, predigte William vor dem gut gefüllten Haus ungestört.36
Mit der Unterstützung von Nicholas gedieh die Kirche in Kapstadt allmählich. Eines Abends, kurz nach der ersten Versammlung bei den Pauls, legte William Nicholas ans Herz, seine Taufe doch nicht aufzuschieben, wenn er von der Wahrheit überzeugt war. Nicholas erklärte, er sei zur Taufe bereit. Aber draußen war es dunkel und regnerisch, und er meinte, William wolle an einem solchen Abend sicher nicht mit ihm nach draußen gehen.
„Doch, natürlich“, entgegnete William. „Regen und Dunkelheit haben mich noch nie aufgehalten.“
William taufte Nicholas unverzüglich, und in den folgenden Tagen taufte er auch Harriet sowie Charles und dessen Frau Hannah.37 Derweil verfasste Jesse Haven mehrere Broschüren über die Lehre der Kirche und den Grundsatz der Mehrehe, und die Missionare verteilten diese in der ganzen Stadt.38
Anfang September hatten die Missionare der Heiligen der Letzten Tage über vierzig Menschen getauft und südöstlich von Kapstadt zwei Zweige gegründet.39 Zu den neuen Mitgliedern gehörten auch zwei schwarze Frauen, Sarah Hariss und Raichel Hanable, sowie eine Burin namens Johanna Provis.40
Nun, da es die beiden Zweige gab, holten die Missionare die südafrikanischen Heiligen am 13. September zusammen und beriefen fünf Männer und drei Frauen, im Gebiet um Kapstadt eine Mission zu erfüllen oder in ihrer Nachbarschaft Broschüren zu verteilen.41 Jesse Haven hatte aber das Gefühl, man brauche dort im Gebiet noch mehr Missionare.
„Hätten wir hier zwei Dutzend Älteste mehr, gäbe es mehr als genug für sie zu tun“, schrieb er an die Erste Präsidentschaft. „Unter den Neugetauften herrscht Einigkeit, und sie sind entschlossen, das Richtige zu tun. Sie freuen sich, dass sie diesen Tag erleben dürfen, und ihr Blick ist auf Zion gerichtet.“42
Zu dieser Zeit stellten George Q. Cannon und Jonathan Napela die Übersetzung des Buches Mormon ins Hawaiianische fertig. George war überglücklich. Nichts auf seiner Mission hatte ihm mehr Freude und mehr geistiges Wachstum eingetragen. Nachdem er mit der Übersetzung begonnen hatte, hatte er beim Predigen vermehrt den Heiligen Geist verspürt, hatte machtvoller Zeugnis abgelegt und mit größerem Glauben die heiligen Handlungen des Priestertums vollzogen. Sein Herz floss über vor Dankbarkeit.43
Ein paar Tage später kamen zwanzig Missionare in Wailuku zu einer Konferenz zusammen, und George besprach mit den anderen Ältesten, wie man das Buch wohl am besten herausbringen konnte. George war in Nauvoo bei den Times and Seasons Druckerlehrling gewesen und konnte daher einschätzen, was nötig war, um das Vorhaben zu verwirklichen. Sie konnten das Buch bei einem Drucker auf den Inseln in Auftrag geben oder eine Druckerpresse mit dem entsprechenden Zubehör kaufen und es selbst drucken.
„Was mich angeht“, meinte George, „ist meine Mission erst vollendet, wenn ich sehe, dass das Buch Mormon gedruckt wird.“44
Die Missionare stimmten zu und beschlossen, das Buch selbst zu drucken. Sie bestimmten George und zwei weitere Missionare dazu, die Inseln zu bereisen und durch Spenden von Mitgliedern und Vorverkäufe des Buches Geld für die Veröffentlichung zu sammeln.
Als Nächstes sprachen die Männer über die Sammlung der Heiligen. In den drei Jahren seit der Ankunft der Missionare auf den Inseln hatten sich über dreitausend Hawaiianer der Kirche angeschlossen, aber Armut und die strengen Auswanderungsgesetze Hawaiis hielten sie davon ab, das Königreich für immer zu verlassen. Man setzte Brigham Young über das Problem in Kenntnis, und er riet den Heiligen in Hawaii, „eine geeignete Insel oder einen Teil einer Insel“ zu suchen, wo sie sich in Frieden sammeln konnten, bis sich ihnen eine Möglichkeit bot, nach Utah zu kommen.45
Einer der Missionare, die man beauftragt hatte, einen solchen vorübergehenden Sammlungsort ausfindig zu machen, war Francis Hammond. Er schlug das Palawai-Becken auf Lanai vor, einer Insel westlich von Maui. „Ich habe auf diesen Inseln keinen geeigneteren Ort gesehen als diesen hier, wo sich die Heiligen niederlassen könnten“, war sein Eindruck bei seinem ersten Besuch dort gewesen. Der einzige Nachteil bestand wohl darin, dass es einen Teil des Jahres über keinen Regen gab. Falls die Heiligen jedoch Wasserspeicher bauten, wie sie es in Salt Lake City gemacht hatten, gäbe es auch in der Dürrezeit genügend Wasser.
Am nächsten Tag stimmten die hawaiianischen Heiligen der Veröffentlichung des Buches Mormon und der Suche nach einem neuen Sammlungsort auf den Inseln zu.46 Zwei Wochen später begaben sich George, Napela und einige Missionare nach Lanai, um sich das Palawai-Becken genauer anzuschauen. Am 20. Oktober brachen sie nach dem Frühstück auf und erklommen einen steilen, felsigen Berghang, bis das Land ein kurzes Stück wieder flach wurde und sie das Becken überblicken konnten. Es war drei Kilometer breit, schön geformt und vom Meer aus nicht zu sehen.
„Welch herrliches Stück Land“, schrieb George in sein Tagebuch, „es scheint genau richtig als Sammlungsort. Es erinnert mich an Deseret.“47