„Zu spät, zu spät“, Kapitel 18 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2019
Kapitel 18: „Zu spät, zu spät“
Kapitel 18
Zu spät, zu spät
Im Sommer 1857 waren Johan und Carl Dorius mit einer Handkarrenabteilung von etwa dreihundert Heiligen aus Skandinavien auf dem Weg nach Zion.1 Die meisten von ihnen waren im Mai im Osten der Vereinigten Staaten angekommen. Nachdem Johans Vater und seine Schwestern nach Zion ausgewandert waren, war er noch einige Zeit geblieben, um in Norwegen und Dänemark das Evangelium zu predigen. Als er nun endlich die Vereinigten Staaten sah, schlug sein Herz höher.2 An Land erfuhren die Neuankömmlinge jedoch bald von der Ermordung Parley Pratts und der fünfzehnhundert Mann starken Armee, die auf Utah zumarschierte, um die Heiligen zu bezwingen.3
Sie erfuhren außerdem, dass von den Auswanderern, die sich im Jahr zuvor mit Handkarren auf den Weg gemacht hatten, viele umgekommen waren. Ganz wie Brigham vermutet hatte, waren Handkarren unter normalen Bedingungen die schnellere und preiswertere Variante gegenüber den herkömmlichen Planwagen. Von den fünf Handkarrenabteilungen, die sich ins Salzseetal aufgemacht hatten, waren die ersten drei ohne größere Zwischenfälle angekommen. Und bei den beiden anderen hätte der tragische Ausgang vermieden werden können, wenn einige derer, die mit der Organisation der Auswanderung betraut waren, besser geplant und die Auswanderer besser beraten hätten. Um weiteres Unglück zu verhindern, achteten die Auswanderungsbeauftragten nun peinlich genau darauf, die Handkarrenabteilungen erst dann loszuschicken, wenn diese genug Zeit hatten, sicher im Salzseetal anzukommen.4
Ende August zogen Johan und Carl mit ihrer Abteilung eine Zeit lang neben der gut gerüsteten, gut versorgten Armee her, die nach Utah marschierte. Auch wenn viele meinten, die Armee wolle die Heiligen niederwerfen und unterdrücken, wurden die Auswanderer unterwegs von den Soldaten in keiner Weise behelligt.5
Eines Tages, sie waren noch gut dreihundert Kilometer vom Salzseetal entfernt, sahen die Auswanderer auf dem Weg einen Ochsen, der sich am Bein verletzt hatte. „Ihr könnt den Ochsen gerne haben“, sagte der Truppführer, der für die Proviantwagen der Armee zuständig war. „Ihr könnt sicher ein bisschen Fleisch gebrauchen.“
Die Heiligen freuten sich und nahmen das Angebot gern an. Angeblich waren Planwagen mit Proviant aus dem Salzseetal auf dem Weg zu ihnen, aber sie hatten sie noch nicht erreicht. Die Lebensmittel waren bereits knapp geworden, und das Rindfleisch war für die Heiligen ein Segen Gottes.
Die Handkarren kamen schneller voran und überholten die Armee schließlich. Als sie sich Utah näherten, konnte Johan es kaum erwarten, mit der wichtigen Arbeit zu beginnen, die vor ihm lag. Auf der Überfahrt über den Atlantik hatte er Karen Frantzen geheiratet, eine Bekehrte aus Norwegen. Sein Bruder Carl hatte zur gleichen Zeit ebenfalls eine Bekehrte aus Norwegen geheiratet, Elen Rolfsen. Nach ihren jahrelangen Missionsreisen wollten sie sich in Utah endlich häuslich niederlassen – möglichst in der Nähe der übrigen Familie Dorius – und ihr neues Leben in Zion genießen.6
Doch die Zukunft war ungewiss. Die Soldaten waren den Heiligen auf dem Weg freundlich begegnet. Doch würden sie sich immer noch so verhalten, wenn sie im Territorium Utah einmarschierten?
Am 25. August 1857 begleitete Jacob Hamblin, Präsident der Indianermission im Süden Utahs, George A. Smith zurück nach Salt Lake City. Auf der Reise Richtung Norden wurden sie von einigen Anführern des Stamms der Paiute begleitet. Brigham hatte sich überlegt, dass sich die Paiute mit den Heiligen verbünden könnten, wenn es mit der Armee zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen sollte, und daher ihre Anführer zu einem Treffen in der Stadt eingeladen.7 Jacob sollte bei den Beratungen dolmetschen.8
Auf halber Strecke etwa schlug die kleine Gruppe an einem Fluss ihr Lager auf. Auf der anderen Seite lagerte eine Gruppe Auswanderer, die mit Planwagen reiste und großenteils aus Arkansas kam, einem der Südstaaten. Nach Sonnenuntergang kamen einige Männer von der Gruppe aus Arkansas zu Jacob und den anderen und stellten sich vor.9
Ihre Gruppe bestand aus etwa hundertvierzig Reisenden. Die meisten waren jung und freuten sich darauf, in Kalifornien ein neues Leben zu beginnen. Einige waren verheiratet und hatten kleine Kinder bei sich. Angeführt wurden sie von Alexander Fancher und John Baker. Hauptmann Fancher, der den Weg nach Kalifornien schon einmal zurückgelegt hatte, war ein geborener Anführer, der für seine Aufrichtigkeit und seinen Mut bekannt war. Er und seine Frau Eliza hatten neun Kinder, die alle mitreisten. Hauptmann Baker hatte drei seiner erwachsenen Kinder dabei sowie einen kleinen Enkelsohn.
Die Wagen und Kutschen der Gruppe wurden von Maultieren, Pferden und Ochsen gezogen. Außerdem hatten sie hunderte Langhornrinder dabei, die sie in Kalifornien verkaufen wollten. Dafür mussten die Rinder jedoch unterwegs genügend Futter bekommen und gesund bleiben.10
Als Hauptmann Fancher das erste Mal nach Kalifornien gereist war, gab es auf der südlichen Route durch Utah viel freies Weideland und etliche Wasserstellen. Jetzt aber beanspruchten neue Siedlungen das Land, sodass es für große Trecks schwierig war, ohne die Unterstützung der Siedler ihre Tiere zu versorgen. Wegen der heranrückenden Armee begegneten viele Heilige jedoch Fremden mit Argwohn und Feindseligkeit. Außerdem hielten sich viele an den Rat, Fremden keine Vorräte zu verkaufen.11
Die Gleichgültigkeit der Heiligen machte den Leuten aus Arkansas Sorgen. Der nächste Teil der Strecke verlief durch eines der heißesten und trockensten Gebiete in den Vereinigten Staaten. Die Reise würde schwierig werden, wenn sie keinen Ort fanden, wo sie die Tiere mit Futter und Wasser versorgen, Vorräte kaufen und ausruhen konnten.12
Jacob Hamblin erzählte den Männern von einigen guten Lagerplätzen am Weg. Der beste war ein grünes Tal, das im Süden an seine Ranch angrenzte. Dort gab es viel Wasser und Gras für die Rinder. Es war ein friedlicher Ort, der Mountain Meadows hieß.13
Einige Tage später machten die Leute aus Arkansas in Cedar City Halt, vierhundert Kilometer südlich von Salt Lake City. Sie wollten Vorräte kaufen, bevor sie nach Mountain Meadows weiterzogen. Cedar City war die letzte große Siedlung im Süden Utahs und Sitz der Eisenindustrie der Heiligen, die zu dieser Zeit in Schwierigkeiten steckte. Die Einwohner waren arm und lebten ziemlich abgeschieden.14
Die Leute aus Arkansas fanden einen Mann außerhalb des Ortes, der bereit war, ihnen fünfzig Scheffel ungemahlenen Weizen zu verkaufen. Einige von ihnen brachten den Weizen und dazu Mais, den sie den Indianern abgekauft hatten, zu einer Mühle, die von Philip Klingensmith, dem Bischof des Ortes, betrieben wurde. Er berechnete einen außergewöhnlich hohen Preis für das Mahlen des Getreides.15
Andere versuchten in der Zwischenzeit, in einem Laden im Ort weitere Vorräte zu kaufen. Was dann geschah, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Jahre später erzählten Siedler aus Cedar City, dass der Verkäufer die von den Auswanderern benötigten Waren nicht vorrätig hatte oder dass er sich schlicht weigerte, sie ihnen zu verkaufen.16 Manche erinnerten sich, dass daraufhin einige der Durchreisenden wütend wurden und drohten, sich auf die Seite der Soldaten zu schlagen und die Heiligen auszurotten, sobald die Armee ankam. Andere Siedler sagten, ein Mann aus der Gruppe habe behauptet, er sei im Besitz der Waffe, mit der der Prophet Joseph Smith umgebracht wurde.17
Hauptmann Fancher versuchte, die wütenden Männer zu besänftigen.18 Doch einige von ihnen gingen wohl zum Haus des Bürgermeisters Isaac Haight, der auch Pfahlpräsident der Region und Major der Territorialmiliz war, und stießen lautstark Drohungen gegen ihn aus.19 Isaac schlich sich aus dem Hintereingang hinaus, ging zu John Higbee, dem Marshal, und drängte ihn, die Männer zu verhaften.
Higbee stellte die Männer zur Rede und erklärte ihnen, dass Ruhestörung und Fluchen gegen die örtlichen Gesetze verstießen. Die Männer drohten, er solle ruhig versuchen, sie festzunehmen. Dann verließen sie den Ort.20
Später an diesem Tag schickten Isaac Haight und weitere Vertreter von Cedar City eine Nachricht an William Dame, den Befehlshaber der Distriktsmiliz, der im nahegelegenen Parowan Pfahlpräsident war, und baten ihn um Rat, wie sie mit den Auswanderern verfahren sollten. Obwohl die große Mehrheit der Auswanderer friedlich gewesen war und keiner der Einwohner tatsächlich zu Schaden gekommen war, waren die Leute im Ort auch nach ihrer Abreise noch sehr aufgebracht. Einige von ihnen hatten sogar begonnen, Rachepläne zu schmieden.
William besprach Isaacs Nachricht bei einem Treffen mit Führern der Kirche und der Stadt. Sie kamen zu dem Schluss, dass die Gruppe aus Arkansas wohl keine Gefahr darstellte. „Beachte ihre Drohungen nicht“, riet William Isaac in einem Brief. „Worte sind Luft, sie tun niemandem weh.“21
Isaac war mit dieser Antwort unzufrieden und ließ John D. Lee, ein Mitglied der Kirche in einem Nachbarort, zu sich kommen. John brachte den Paiute, die in der Gegend lebten, Ackerbau bei und hatte ein gutes Verhältnis zu ihnen. Er war fleißig und wollte sich in den Siedlungen im Süden einen Namen machen.22
Während Isaac noch auf John wartete, traf er sich mit anderen Führern in Cedar City, um ihnen seinen Racheplan vorzulegen. Südlich von Mountain Meadows lag auf dem Weg nach Kalifornien eine schmale Schlucht, wo die Paiute den Wagenzug angreifen, einige oder alle Männer umbringen und die Rinder stehlen konnten. Die Paiute waren ein friedliches Volk und einige von ihnen hatten sich der Kirche angeschlossen. Isaac glaubte jedoch, dass John sie überreden könne, die Gruppe der Auswanderer anzugreifen.23
Als John ankam, erzählte Isaac ihm von den Auswanderern und gab auch das Gerücht weiter, einer von ihnen hätte damit geprahlt, die Waffe zu besitzen, mit der der Prophet Joseph umgebracht wurde.24 „Wenn nichts dagegen unternommen wird“, sagte Isaac, „werden die Auswanderer ihre Drohungen wahr machen und jede einzelne der abgelegenen Siedlungen im Süden plündern.“25
Er bat John, die Paiute zu einem Angriff auf die Gruppe der Auswanderer zu überreden. „Wenn sie einige von ihnen oder alle umbringen“, sagte er, „umso besser.“ Doch niemand durfte erfahren, dass weiße Siedler den Angriff veranlasst hatten.
Die Paiute mussten als die Schuldigen dastehen.26
Am Sonntag, dem 6. September, kamen die Verantwortlichen von Cedar City nachmittags noch einmal zusammen, um über die Gruppe aus Arkansas zu sprechen, die inzwischen ihr Lager in Mountain Meadows aufgeschlagen hatte. Einige der Ratsmitglieder waren überzeugt, dass einer aus dieser Gruppe mit dem Tod von Joseph und Hyrum Smith in Verbindung stand oder zumindest einige aus der Gruppe die Armee unterstützen und die Heiligen umbringen wollten. Daher stimmten sie dem Plan zu, die Paiute zum Angriff auf die Gruppe anzustiften.27
Andere Ratsmitglieder rieten jedoch zur Vorsicht, und bald bekundeten immer mehr Männer Zweifel an dem Vorhaben.28 Enttäuscht sprang Isaac von seinem Stuhl auf und stürmte aus dem Zimmer. Der Rat beschloss in der Zwischenzeit, einen Reiter zu Brigham Young zu schicken, der so schnell wie möglich dessen Rat einholen sollte.29 Bis Montagmittag war jedoch noch niemand losgeschickt worden.
An diesem Tag, dem 7. September, erhielt Isaac eine Nachricht von John D. Lee. Am Morgen hatte John mit einer Gruppe Paiute die Auswanderer in Mountain Meadows angegriffen. Die Paiute hatten anfangs gezögert, doch dann hatten John und andere örtliche Führer ihnen versprochen, sie mit Raubgut zu belohnen, wenn sie sich an dem Angriff beteiligten.30
Isaac wurde schwindlig, als er die Neuigkeiten erfuhr. Eigentlich hätte der Angriff erst stattfinden sollen, nachdem die Gruppe aus Arkansas Mountain Meadows verlassen hatte. John berichtete nun, dass sieben Auswanderer ums Leben gekommen und sechzehn verletzt worden waren. Sie hatten ihre Wagen kreisförmig aufgestellt, sich zur Wehr gesetzt und dabei mindestens einen Paiute getötet.31
Da in Mountain Meadows nun eine Belagerung stattfand, wandte sich Isaac in einem Brief an Brigham Young um Rat. Er berichtete, dass die Paiute einen Wagenzug angegriffen hatten, erwähnte, dass die Auswanderer die Heiligen in Cedar City bedroht hatten, ließ jedoch aus, welche Rolle die Siedler bei der Planung und Ausführung des Angriffs gespielt hatten.32
Isaac übergab den Brief an James Haslam, ein junges Mitglied der Miliz, und wies ihn an, so schnell wie möglich nach Salt Lake City zu reiten.33 Dann schrieb er John. „Tu dein Möglichstes, um die Indianer von den Auswanderern fernzuhalten“, schrieb er, „und achte darauf, dass ihnen nichts angetan wird, bis du weitere Anweisungen erhältst.“34
Am Abend noch erfuhr Isaac, dass zwei bewaffnete Mitglieder der Kirche nach dem Angriff von John und den Paiute die Gegend nach zwei Auswanderern abgesucht hatten, die Mountain Meadows ein paar Tage zuvor verlassen hatten, um weggelaufene Rinder einzufangen. Die Männer hatten die Auswanderer gefunden und einen von ihnen erschossen. Der andere war entkommen und zum Lager der Auswanderer zurückgekehrt. Er hatte gesehen, dass zwei weiße Männer ihn angegriffen hatten.
Selbst wenn die Auswanderer vorher nicht geahnt hatten, dass die Heiligen der Letzten Tage am Angriff auf ihr Lager beteiligt gewesen waren – jetzt wussten sie es.35
Zwei Tage später, am 9. September, traf sich Isaac mit Marshal John Higbee, der gerade von der Belagerung zurückkam.36 Seit dem ersten tödlichen Angriff hatte John D. Lee weitere, kürzere Angriffe auf die Gruppe vorgenommen.37 Higbee wusste, dass den Auswanderern irgendwann das Wasser und die Vorräte ausgehen würden. Doch es würden weitere Wagenzüge durch diese Gegend ziehen, vielleicht schon in den nächsten Tagen, und die Beteiligung der Heiligen an dem Angriff würde möglicherweise aufgedeckt werden.38
Um dies zu verhindern, beschlossen Isaac und Higbee, die Belagerung durch die örtliche Miliz aufzuheben. Jeder in der Gruppe der Auswanderer, der die Angreifer entlarven konnte, musste aus dem Weg geräumt werden.39
Nach dem Treffen ging Isaac nach Parowan. Er wollte von William Dame die Genehmigung bekommen, die Miliz mit dem Angriff auf die Auswanderer zu beauftragen. Da William und seine Berater noch glaubten, dass die Auswanderer unversehens von Indianern angegriffen worden waren, wollten sie die Miliz nach Mountain Meadows schicken, um die Gruppe zu beschützen und ihnen zu helfen, ihre Reise fortzusetzen.40
Bei einer Unterredung unter vier Augen vertraute Isaac William jedoch an, dass Heilige der Letzten Tage an den Angriffen beteiligt gewesen waren und dass die Auswanderer dies wussten. Er sagte, ihr einziger Ausweg sei nun, alle Überlebenden, die alt genug waren, gegen die Siedler auszusagen, zu beseitigen.41
Vor diesem Hintergrund überging William die Entscheidung des Rates und genehmigte einen Angriff.42
Am nächsten Tag, dem 10. September, traf sich Brigham Young mit Jacob Hamblin in Salt Lake City, um sich zu informieren, wie die Paiute Lebensmittel lagerten. Für den Fall, dass die Heiligen in die Berge fliehen müssten, wenn die Armee kam, wollte er wissen, wie man in unwirtlicher Umgebung überlebt.43
Die Armee schien jedoch gar keine so große Bedrohung mehr darzustellen, wie die Heiligen zuerst angenommen hatten. Ein Delegierter der Armee war kurz zuvor in die Stadt gekommen und hatte mitgeteilt, dass die Soldaten nicht vorhatten, den Heiligen Leid anzutun. Es sah außerdem danach aus, als ob der größte Teil der Armee nicht vor dem Winter eintreffen würde.44
Als Brigham und Jacob gerade miteinander sprachen, unterbrach der Bote aus Cedar City, James Haslam, das Treffen mit seiner Nachricht von der Belagerung in Mountain Meadows.45 Brigham las die Notiz und schaute den Boten an. James war in drei Tagen vierhundert Kilometer geritten und hatte kaum geschlafen. Brigham war bewusst, dass es keine Zeit zu verlieren galt, und so fragte er ihn, ob er seine Antwort auch wieder zurück nach Cedar City bringen könne. Er bejahte.46
Brigham trug ihm auf, sich schlafen zu legen und später seine Antwort abzuholen.47 Als James gegangen war, schrieb Brigham seine Antwort nieder. „Was die Auswanderertrecks betrifft, die unsere Ansiedlungen durchqueren, so dürfen wir sie nicht behindern, ohne ihnen vorher mitzuteilen, dass sie sich fernhalten sollen“, wies er an. „Legt euch nicht mit ihnen an. Die Indianer werden vermutlich tun, was ihnen gefällt, ihr aber sollt euch um ein gutes Einvernehmen bemühen.
Lasst sie in Frieden ziehen“, mahnte Brigham.48
Eine Stunde später übergab er James den Brief und begleitete ihn zu seinem Pferd, das er vor dem Büro angebunden hatte. „Bruder Haslam“, sagte er, „reite, als ginge es um dein Leben.“49
Die Heiligen in Salt Lake City rechneten nun nicht mehr damit, dass sie noch dieses Jahr Soldaten auf ihren Straßen sehen würden, doch im Süden Utahs wusste man nichts von den Friedensbekundungen der Armee und von Brighams Anweisungen, Auswanderertrecks in Ruhe zu lassen. Die Heiligen in Cedar City glaubten weiterhin, dass die Armee darauf aus war, sie zu vernichten.
Die Frauen im Ort beobachteten nun schon über eine Woche, wie die Männer in ihrer Familie wegen der Auswanderer aus Arkansas immer gereizter wurden. Sie kamen erst spätabends heim, hielten Ratsversammlungen ab und schmiedeten Pläne, was zu tun war. Und nun marschierte die Miliz nach Mountain Meadows.50
Am Nachmittag des 10. Septembers trafen sich die Frauen zur monatlichen Versammlung der Frauenhilfsvereinigung. Einige von ihnen hatten sich bedroht gefühlt, als die Auswanderer durch Cedar City gekommen waren. Unter ihnen waren auch Annabella Haight und Hannah Klingensmith, die Ehefrauen der Führer, die an den Vorfällen der vorangegangenen Woche beteiligt gewesen waren.51
„Es sind stürmische Zeiten“, sagte Annabella zu den Frauen, „und wir sollten für unsere Ehemänner, Söhne, Väter und Brüder im Stillen beten.“
„Betet unablässig für die Brüder, die ausgezogen sind, uns zu verteidigen“, pflichtete Lydia Hopkins, die Leiterin der Frauenhilfsvereinigung, ihr bei. Anschließend gaben sie und ihre Ratgeberinnen den Frauen noch weitere Anweisungen und erteilten mehreren von ihnen den Auftrag, andere Frauen in der Stadt zu besuchen.
Zum Abschluss der Versammlung sangen sie ein Lied.
Kehrt um und werdet von Sünde rein,
der Kranz des Lebens wird euer sein;
der Tag unserer Hoffnung naht, ja, ist bald da.52
In Mountain Meadows versammelten sich inzwischen etwa sechzig bis siebzig Milizsoldaten aus Cedar City und benachbarten Siedlungen um John D. Lee auf der Ranch von Jacob Hamblin, der noch nicht wieder aus Salt Lake City zurückgekehrt war.53 Einige dieser Milizsoldaten waren noch Jugendliche, die meisten waren jedoch zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt.54 Manche von ihnen meinten, sie seien gekommen, um die Toten zu begraben.55
Am Abend legten John Higbee, John D. Lee, Philip Klingensmith und weitere Führer ihnen den Angriffsplan dar. Einer nach dem anderen stimmte dem Plan zu, überzeugt, dass die Feinde der Kirche die Wahrheit über die Belagerung erfahren würden, wenn man die Gruppe aus Arkansas ziehen ließe.56
Am nächsten Morgen, dem 11. September, stand der dreiundzwanzigjährige Nephi Johnson auf einem Hügel und blickte auf Mountain Meadows hinab. Da er die Sprache der Paiute fließend sprach, hatte er den Auftrag erhalten, die Indianer bei dem Angriff anzuführen. Nephi wollte warten, bis eine Antwort von Brigham Young vorlag, doch die Miliz bestand darauf, den Angriff gleich auszuführen. Nephi glaubte, er habe keine andere Wahl, als sich zu fügen.57
Er sah zu, wie ein Milizoffizier mit einer weißen Flagge als Zeichen des Waffenstillstands in der Hand sich mit einem der Auswanderer vor der Barrikade, die die Gruppe aufgestellt hatte, traf und ihm anbot, den Überlebenden zu helfen. Nachdem die Auswanderer das Angebot angenommen hatten, ging John D. Lee zur Barrikade, um die Bedingungen der Rettung auszuhandeln. Er wies die Gruppe an, ihre Waffen in den Wagen zu verstecken und ihre Rinder und Habseligkeiten den Paiute als Geschenk dazulassen.58
Dann befahl John den Auswanderern, ihm zu folgen. Zwei Wagen mit Kranken, Verwundeten und kleinen Kindern fuhren voran, und eine Reihe Frauen und ältere Kinder zog hinterher. Die größeren Jungen und die Männer folgten in einigem Abstand, jeder von einem bewaffneten Milizsoldaten begleitet. Einige der Männer und Frauen trugen kleine Kinder auf dem Arm.59
Nephi wusste, was als Nächstes geschehen würde. Die Auswanderer würden zur Hamblin-Ranch gehen. Irgendwann auf dem Weg sollte Higbee ein Signal geben und jeder Milizsoldat würde sich zur Seite drehen und den Auswanderer neben ihm erschießen. Nephi sollte daraufhin die Paiute zum Angriff aufrufen.60
John D. Lee und die Auswanderer kamen bald darauf an der Stelle vorbei, wo Nephi sich mit den Paiute versteckt hielt. Nephi wartete auf das Signal von Higbee, doch es kam nicht. Die Paiute waren verwirrt und hatten Mühe, sich versteckt zu halten, während sie versuchten, mit der Gruppe mitzuhalten.61 Schließlich wendete Higbee sein Pferd in Richtung der Milizsoldaten.
„Halt!“, rief er.62
Als die Milizsoldaten Higbees Signal hörten, richteten die meisten von ihnen augenblicklich ihre Waffe auf die Männer und Jungen und töteten sie. Es klang wie ein einziger lauter Schuss, der über die Wiese hallte, während der Rauch der Waffen die Auswanderer einhüllte.63 Nephi gab den Paiute das Signal zum Angriff, woraufhin diese aufsprangen und auf die am nächsten stehenden Auswanderer schossen.64
Die Auswanderer, die den ersten Kugelhagel überstanden hatten, rannten um ihr Leben. Higbee und weitere Männer auf Pferden versperrten ihnen den Weg, während andere Angreifer sie zu Fuß verfolgten und niedermetzelten. Nur ein paar von den kleinsten Kindern blieben verschont.65 In den Wagen mit den Kranken und Verwundeten sorgte John D. Lee dafür, dass keiner überlebte, der etwas davon erzählen konnte.66
Hinterher hing der Gestank von Blut und Schießpulver in der Luft über Mountain Meadows. Mehr als einhundertzwanzig Auswanderer waren seit dem ersten Angriff vier Tage zuvor umgebracht worden. Während einige der Angreifer die Leichen plünderten, sammelte Philip Klingensmith siebzehn kleine Kinder auf und schaffte sie zur Hamblin-Ranch. Als Jacob Hamblins Frau Rachel die Kinder sah, von denen die meisten weinten und blutverschmiert waren, brach ihr das Herz. Einem der kleinsten Kinder, einem ein Jahr alten Mädchen, war in den Arm geschossen worden.67
John D. Lee wollte das verletzte Mädchen von seinen zwei Schwestern trennen, doch Rachel überredete ihn, sie zusammenzulassen.68 Während Rachel sich in dieser Nacht um die verängstigten Kinder kümmerte, legte sich John draußen in der Nähe des Hauses schlafen.69
Früh am nächsten Morgen kamen Isaac Haight und William Dame zur Hamblin-Ranch. Beide waren seit dem Beginn der Belagerung das erste Mal in Mountain Meadows.70 Als William erfuhr, wie viele Menschen umgebracht worden waren, war er entsetzt. „Ich muss diese Angelegenheit melden“, sagte er.
„Und dich selbst zusammen mit den anderen belasten?“, fragte Isaac. „Alles wurde nur auf deinen Befehl hin ausgeführt.“71
Später führte John D. Lee die beiden Männer zum Ort des Massakers. Die Spuren des Blutbads waren überall zu sehen. Einige Männer begruben die Leichen in flachen Gräbern.72
„Ich hätte nie gedacht, dass so viele Frauen und Kinder dabei waren“, sagte William mit bleichem Gesicht.73
„Oberst Dame hat mir zu diesem Vorgehen geraten und mir den Befehl dazu erteilt, und jetzt will er sich aus der Affäre ziehen und mich im Stich lassen“, beklagte sich Isaac mit wütender Stimme bei John. „Er muss schon für das einstehen, was er getan hat, wie ein echter Mann.“
„Isaac“, wandte William ein, „ich wusste ja nicht, dass es so viele sind.“
„Das spielt keine Rolle“, beharrte Isaac.74
Später, nachdem die Toten begraben worden waren, trugen Philip Klingensmith und Isaac den Milizsoldaten auf, ihre Beteiligung an dem Massaker geheim zu halten.75 Bald darauf traf James Haslam, der Bote, der nach Salt Lake City geschickt worden war, ein und überbrachte die Anweisung von Brigham Young, man solle den Treck in Frieden ziehen lassen.