„Zum Thron der Gnade“, Kapitel 37 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2020
Kapitel 37: „Zum Thron der Gnade“
Kapitel 37
Zum Thron der Gnade
Am 15. Mai 1888 langten Wilford Woodruff und George Q. Cannon mitten in der Nacht beim Manti-Tempel an. Sie waren ein paar Tage zuvor von Salt Lake City aufgebrochen und hatten sich immer erst nach Sonnenuntergang herausgewagt, um keinem Marshal in die Hände zu fallen. Das letzte Wegstück ihrer Reise war eine Fahrt mit der Kutsche über eine Strecke von gut sechzig Kilometern durch einen nicht ungefährlichen Canyon. In der Dunkelheit kam der Fahrer zweimal vom Weg ab, und die Apostel wären um Haaresbreite den Hang hinabgeschleudert worden.1
Der Anlass für diese Fahrt ins Sanpete Valley war, dass Wilford den dritten Tempel in Utah weihen wollte. Da jedes Auftreten in der Öffentlichkeit sowohl George als auch weitere Führer der Kirche in Gefahr gebracht hätte, hatte sich Wilford dazu entschlossen, den Tempel in kleinem Rahmen in geschlossener Gesellschaft zu weihen. Die Heiligen wollten dann später ohne ihn eine öffentliche Weihung für all jene durchführen, die vom Bischof oder Pfahlpräsidenten einen Einlassschein dafür erhalten hatten.2
Der neue Tempel erstrahlte in atemberaubender Schönheit. Errichtet aus cremefarbenem Kalkstein aus den nahegelegenen Bergen, stand er auf einer Anhöhe inmitten von Weizenfeldern. Fein geschnitzte Verzierungen und bunte Wandgemälde schmückten das Innere, und zwei prächtige Wendeltreppen erweckten den Eindruck, als würden sie ohne auch nur einen einzigen Stützpfeiler frei in der Luft schweben.3
Die Fertigstellung des Tempels war für Wilford in dieser ansonsten äußerst schwierigen Zeit ein strahlender Lichtblick. Meinungsverschiedenheiten hinderten das Kollegium der Zwölf Apostel nach wie vor daran, die Kirche effizient zu leiten. Acht Monate waren seit John Taylors Tod bereits vergangen, doch einige der jüngeren Apostel fanden noch immer etwas an George auszusetzen. Wilford war an sich bereit, die Erste Präsidentschaft neu aufzustellen, doch solange im Kollegium keine Einigkeit herrschte, war dies unmöglich.
Allerdings hatte es auch schon einigen Fortschritt dabei gegeben, das Zerwürfnis des Kollegiums zu überwinden. Im März hatte Wilford die Apostel in dem Bestreben, die Querelen endlich beizulegen, mehrmals zusammengerufen. Bei einem Treffen ermahnte er das Kollegium, sich von Demut und Liebe leiten zu lassen. Demütig gestand er ein, dass es ein Fehler gewesen sei, dass er selbst manchmal so strenge Worte gebraucht habe, und er bat jeden Apostel, seine Sünden einzugestehen und die anderen um Verzeihung zu bitten. Dennoch waren einige Mitglieder des Kollegiums noch immer nicht gewillt, die Gründung einer neuen Ersten Präsidentschaft zu unterstützen.4
Zudem stellte das Edmunds-Tucker-Gesetz weiterhin eine Bedrohung für die Kirche dar. Die Bundesbeamten verfügten über die Vollmacht, jedes Eigentum der Kirche, das den Wert von 50.000 Dollar überstieg, zu beschlagnahmen. Sie hatten bereits das Zehntenbüro der Kirche, das Büro des Präsidenten und das Tempelgrundstück samt dem unfertigen Salt-Lake-Tempel konfisziert. Die Regierung hatte der Kirche anschließend angeboten, ihr den Tempelplatz gegen eine Kulanzgebühr von einem Dollar im Monat wieder zu vermieten. Wilford empfand das Angebot als beleidigend, stimmte jedoch zu, damit der Bau des Tempels vorwärtsgehen konnte.5
Das neue Gesetz hatte die Aufsicht über das öffentliche Schulwesen in Utah einer staatlichen Kommission übertragen. Die Apostel hegten daher Bedenken, ob nicht Lehrkräfte, die der Kirche angehörten, bei der Stellenvergabe eventuell übergangen würden. Zu Jahresbeginn hatte George angeregt, mehr kircheneigene Lehranstalten zu gründen, wo diese Lehrkräfte eine Anstellung finden könnten und wo den Schülern auch Evangeliumsgrundsätze vermittelt würden. Wilford und die Apostel hatten sich einstimmig für diesen Plan ausgesprochen, und so wurde am 8. April die Gründung eines Bildungsausschusses bekanntgegeben, der für das neue Schulnetz zuständig sein sollte.6
Trotz all dieser Beschwernisse weihte Wilford am 17. Mai 1888 den Tempel in Manti. Im celestialen Saal kniete er an einem Altar und sprach ein Gebet, in dem er Gott für den wunderbaren Segen eines weiteren Tempels in Zion dankte.
„Du hast die Mühen deiner Heiligen beim Bau dieses Hauses gesehen. Ihre Beweggründe und ihre Anstrengungen sind dir allesamt bekannt“, betete er. „An diesem Tag, o Herr, unser Gott, überreichen wir dir dieses Haus als Frucht des Zehnten und der freiwilligen Opfergaben deines Volkes.“
Am selben Tag erhielt Wilford im Anschluss an die Weihung die Meldung, der Marshal der Bundesregierung, Frank Dyer, verlange die Übergabe sämtlicher Besitztümer der Kirche in Logan an den Staat – darunter auch das Zehntenhaus, das Tabernakel und der Tempel. Wilford hielt in seinem Tagebuch ein schlichtes Gebet fest, in dem er Gott bat, die Tempel vor denen zu beschützen, die sie entweihen wollten.7
Bei der öffentlichen Weihung des Manti-Tempels in der darauffolgenden Woche hatte Apostel Lorenzo Snow den Vorsitz inne. Vor der ersten Session vernahmen viele Heilige im Versammlungsraum einen Gesang wie von Engelsstimmen. Einige Heilige nahmen im Laufe der Weihung auch so etwas wie einen Lichterkranz rund um die Sprecher wahr. Berichten zufolge erblickten manche auch Joseph Smith, Brigham Young, John Taylor und weitere. Während Lorenzo das Weihungsgebet verlas, hörte einer der Anwesenden eine Stimme, die sprach: „Halleluja, halleluja, gepriesen sei der Herr!“
Für die Heiligen waren diese geistigen Kundgebungen ein Zeichen dafür, dass Gott über sie wachte. „Sie trösten die Menschen“, schrieb einer, der die Kundgebungen miterlebt hatte, „denn sie lassen erkennen, dass der Herr selbst an den wolkenverhangensten Tagen bei ihnen ist.“8
Als Susa und Jacob Gates noch auf Mission in Hawaii waren, machten sie sich bereits Gedanken darüber, wie das Leben nach ihrer Rückkehr nach Utah weitergehen sollte. Anfang 1888 sagte Jacob eines Tages: „Su, es wäre doch wunderbar, wenn du als Mitherausgeberin beim Exponent arbeiten könntest.“ Susa hatte bereits unter dem Pseudonym „Homespun“ Artikel im Woman’s Exponent veröffentlicht, und Jacob hielt auf ihre schriftstellerische Begabung große Stücke.
Susa wollte mit dem, was sie schrieb, die Kirche unterstützen. Eliza Snow hatte ihr einst dazu geraten, „nie eine Zeile oder ein Wort zu schreiben, das nicht dazu angetan wäre, das Gottesreich zu unterstützen und ihm von Nutzen zu sein“, und Susa versuchte stets, diesen Rat zu beherzigen. Seit kurzem befasste sie sich mit dem Gedanken, für Zeitschriften im Osten der Vereinigten Staaten Plädoyers für die Kirche zu verfassen. Doch als Herausgeberin tätig zu werden – das hatte sie nie zuvor in Erwägung gezogen.9
Tatsächlich war es nämlich gar nicht so einfach für sie, Zeit zum Schreiben zu finden. Um sechs Uhr morgens war sie zumeist schon auf den Beinen und kümmerte sich um ihre drei Kinder und die nie enden wollende Hausarbeit.10 Kein Jahr war seit dem Tod ihrer beiden kleinen Söhne Jay und Karl vergangen, und sie war über diesen Verlust noch nicht hinweggekommen und wünschte sich mitunter, Laie verlassen zu können, um in Gedanken nicht ständig zu den beiden Gräbern auf dem Hügel oberhalb ihres Hauses zurückkehren zu müssen. Wenn eines ihrer Kinder auch nur hustete, wurde sie bereits unruhig.11 War jetzt wirklich der Zeitpunkt gekommen, sich eine weitere Aufgabe aufzubürden?
Doch als sich der Gedanke, für den Exponent zu arbeiten, einmal in ihr festgesetzt hatte, ließ er sich nicht mehr abschütteln. Sie schrieb an Zina Young und erläuterte ihr, wie gern sie den Woman’s Exponent als Monatsblatt auf hochwertigem Feinpapier drucken wolle, wie es bei den beliebten Frauenzeitschriften der damaligen Zeit üblich war.
„Meine Seele kennt nur ein Verlangen, nämlich das Gottesreich aufzubauen. Ich möchte meine Schwestern mit allem Fleiß unterstützen“, schrieb sie. „Eine solche Arbeit wäre ein Werk der Liebe, denn du weißt, wie gern ich schreibe.“12
Mit gleicher Post schickte sie einen Brief an Emmeline Wells, die Herausgeberin der Zeitschrift, und bat auch viele weitere, an deren Meinung ihr etwas lag, um Rat. Romania Pratt, eine der wenigen Ärztinnen im Territorium, verfasste regelmäßig Artikel für den Woman’s Exponent. Sie antwortete ihr als Erste.
„Meine liebe, junge, talentierte Freundin“, schrieb sie, „ich denke nicht, dass du im Team des Exponent oder als Partnerin dort das große Los gezogen hättest.“ Emmeline habe ihre eigenen verlegerischen Ansichten, erklärte ihr Romania, und würde Susas Engagement nicht begrüßen. Susa solle doch lieber, schlug Romania vor, eine eigene, neue Zeitschrift für die jungen Damen der Kirche herausgeben.13
Susa fand an dieser Idee großen Gefallen und schrieb ihrem guten Bekannten Joseph F. Smith davon. Er antwortete ihr kurze Zeit später und war von der Idee äußerst angetan. Ihm schwebte eine Zeitschrift vor, die ganz und gar von Frauen der Heiligen der Letzten Tage verfasst und herausgegeben wurde, und er ermutigte Susa, sich zur Unterstützung „gute und weise Ratgeberinnen“ zu holen.
„Niemandem, der ein Talent hat, sollte es verwehrt werden, sein Bestes zu geben“, schrieb er. „In dieser Hinsicht unterscheidet sich unsere Gemeinschaft von allen anderen. Unseren Wohlstand verdanken wir der Einigkeit, der Zusammenarbeit und unseren gemeinsamen Anstrengungen. Niemand steht hier für sich allein.“14
Auf Josephs Empfehlung hin schrieb Susa an Wilford Woodruff und an die Präsidentschaft der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung Junger Damen, um sich für die Zeitschrift deren Unterstützung zu sichern. Einige Monate später schrieb Wilford zurück und gab seine Zustimmung. Die Präsidentschaft der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung sagte ebenfalls ihre Unterstützung zu.
„Nun liegt es also in der Hand des Herrn“, notierte Susa in ihrem Tagebuch. Gleich nach ihrer Rückkehr in die Vereinigten Staaten wollte sie versuchen, dieses Projekt zu verwirklichen.15
Im Herbst 1888 kam George Q. Cannon zu dem Schluss, es wäre für ihn und für die Kirche wohl das Beste, ins Gefängnis zu gehen. In den Monaten vor John Taylors Tod hatte der Herr ihm offenbart, er müsse mit dem Propheten noch einmal untertauchen, um gemeinsam mit ihm die Angelegenheiten der Kirche zu regeln. Da John nun verstorben war und die Leitung der Kirche den Zwölf Aposteln oblag, war es nicht länger Georges Pflicht, sich weiterhin versteckt zu halten.16
Wilford Woodruff war zudem der Ansicht, die Heiligen sollten die angespannte Beziehung zur Bundesregierung normalisieren, damit Utah ein Bundesstaat werden könne. Unter einer eigenen bundesstaatlichen Regierung könnten die Heiligen nämlich mit ihrer Stimmenmehrheit Politiker wählen, die ihre Religionsfreiheit schützen würden. Da das Edmunds-Tucker-Gesetz nur in den Territorien Geltung hatte, würde es der Kirche, sobald Utah ein Bundesstaat wäre, auch nicht weiter schaden können.17 Der Kongress der Vereinigten Staaten würde Utah jedoch wohl kaum als Bundesstaat anerkennen, solange sich ein bekannter Apostel der Justiz entzog.
Als George in Erfahrung gebracht hatte, dass der Bundesstaatsanwalt bereit war, ein mildes Urteil zu empfehlen, fragte er sich, inwieweit es den Heiligen nützen würde, wenn er sich dem Gericht stellte. Schließlich könnte man darin ein Friedensangebot gegenüber den Abgeordneten in Washington sehen. Außerdem hoffte er, dieser Schritt würde auch andere Männer darin bestärken, sich ähnlichen Anklagepunkten zu stellen.18
Am 17. September bekannte er sich in dem Bewusstsein, dass er vielleicht bis zu einem Jahr im Gefängnis verbringen müsse, des rechtswidrigen Zusammenlebens in zwei Fällen für schuldig. Der Vorsitzende, der dem Vernehmen nach mit den Heiligen stets milder verfuhr als vorherige Richter, verurteilte ihn zu der relativ kurzen Haftstrafe von einhundertfünfundsiebzig Tagen.19
George wollte seine Gefängnisstrafe möglichst bald antreten und wurde daher noch am selben Tag, als das Gerichtsurteil erging, in die Strafanstalt des Territoriums Utah eingeliefert. Das verwitterte Gefängnis lag auf einem Hügel in Salt Lake City.20 Sobald ein neuer Häftling den Innenhof betrat, riefen ihm die übrigen Insassen üblicherweise verächtlich „Frischer Fisch!“ zu. Doch bei Georges Eintritt blieb alles still. Stattdessen bildete sich um ihn ein Kreis neugieriger Männer, die nicht wenig überrascht waren, im Gefängnis auf einen Apostel zu treffen.
Im Inneren des Gefängnisses fand George drei Stockwerke mit kleinen Zellen vor. Der Gefängnisdirektor wies ihm eine Zelle im obersten Stock zu und sagte ihm, er könne sich darin aufhalten, ohne die schweren Eisentüren schließen zu müssen. George wollte jedoch keine Sonderbehandlung. Er trug dieselbe schwarzweiße Gefängniskleidung und hielt sich an dieselben Regeln wie die anderen Insassen auch.21
Bald nach Antritt seiner Haftstraße richtete George eine Bibelstunde ein. Zur ersten Sonntagsversammlung kamen mehr als sechzig Männer, darunter auch einige, die keine Heiligen der Letzten Tage waren. Die Gefangenen lasen die ersten fünf Kapitel des Matthäus-Evangeliums und besprachen sie. „Es herrschte eine sehr harmonische Stimmung“, schrieb George in sein Tagebuch.22
Woche um Woche verstrich, und für George verging die Haft angenehmer, als er es sich eigentlich vorgestellt hatte. An den Besuchstagen kümmerte er sich um die Angelegenheiten der Kirche und traf sich mit anderen Aposteln, so auch mit Heber Grant, der ihm gegenüber nun allmählich nicht mehr so unnachgiebig war. Bekannte und Verwandte statteten ihm Besuche ab, und er verbrachte viel Zeit damit, seinen Mitsträflingen Rat zu erteilen.
„Meine Zelle kommt mir wie der Himmel vor“, notierte George in seinem Tagebuch. „Ich habe zuweilen das Gefühl, als seien Engel anwesend.“23
Während George Q. Cannon also seine Haftstrafe verbüßte, begab sich Joseph F. Smith in die Hauptstadt Washington, um sich mit Franklin S. Richards, dem Anwalt der Kirche, für die Anerkennung Utahs als Bundesstaat einzusetzen.24 Joseph, der sich nach wie vor auf der Flucht befand, fragte sich bisweilen, ob er Georges Beispiel folgen und sich ebenfalls der Staatsgewalt stellen solle. Doch Wilford Woodruff hatte Joseph damit beauftragt, die politischen Unternehmungen der Kirche in Washington zu leiten, und Joseph war der Ansicht, entweder die Aufnahme Utahs in den Staatenbund oder aber ein Eingreifen Gottes seien die einzigen Möglichkeiten, wie die Heiligen dauerhaft Religionsfreiheit genießen könnten.25
In Washington konnte sich Joseph zwar in der Stadt frei bewegen, doch er hielt sich stets vom Kongressgebäude fern, wo man ihn vielleicht erkennen konnte. Einige Tage brauchten Franklin und er, um eine Rede für das Komitee auszuarbeiten, das schlussendlich eine Empfehlung dazu abgeben sollte, ob der Kongress für oder gegen die Aufnahme Utahs stimmen solle. Einige Stunden vor der Rede bat Joseph in einem Segen für Franklin darum, dass ein guter Geist ihn begleiten möge.26
In der Rede stellte Franklin die Mehrehe als Gepflogenheit dar, die sich ohnedies schon dem Ende zuneige. Oft, sagte er, würden vor Gericht Fälle aufgegriffen, in denen ein nunmehr bereits betagter Mann Jahre zuvor mit mehreren Frauen eine Ehe eingegangen war. Franklin argumentierte außerdem, dass den Einwohnern Utahs, deren überwiegende Mehrheit gar nicht die Mehrehe praktizierte, die Freiheit zugestanden werden sollte, unter einer bundesstaatlichen Verfassung eigene Beamte zu wählen.27
Nach tagelangen Beratungen fasste das Komitee allerdings den Entschluss, dem Kongress keine Empfehlung auszusprechen. Joseph war enttäuscht, doch Franklins Rede fand er so gut, dass er mehr als dreitausend Abgeordneten und bekannten Persönlichkeiten im ganzen Land eine Kopie davon zukommen ließ.
Bald darauf erhielt er jedoch ein Telegramm mit der Nachricht, dass George Peters, der für Utah zuständige Bundesstaatsanwalt, Josephs Angehörige vorladen wolle, damit sie vor einem Geschworenengericht gegen ihn aussagten.28
Für Joseph grenzte dieses Vorgehen an Verrat. Einige Monate zuvor hatte Peters der Kirche fünftausend Dollar abgenötigt und im Gegenzug dafür zugesagt, er werde bei künftigen Anklagen gegen die Heiligen nachsichtig verfahren. Obwohl politische Zusagen damals in den Vereinigten Staaten oftmals käuflich waren, hatte der Gedanke daran, Peters Geld zu geben, Joseph zutiefst widerstrebt. Nachdem er die Angelegenheit jedoch mit Wilford besprochen hatte, war er zu dem Schluss gekommen, dass es dem Schutz der Heiligen diene, wenn sie sich auf die Erpressung einließen.29
Joseph gab in seinem Antworttelegramm umgehend Anweisungen, wo sich seine Frauen und Kinder verstecken konnten. Dennoch war er den ganzen Tag über äußerst beunruhigt. „Ich bete zu Gott, er möge meine Familie vor dem erbarmungslosen Zugriff des gnadenlosen, engstirnigen Feindes bewahren“, schrieb er in sein Tagebuch.30
Den gesamten Winter 1888/89 hatte sich das Kollegium der Zwölf Apostel immer noch nicht zu einer Einigung über die Bildung einer neuen Ersten Präsidentschaft durchringen können. In der Zwischenzeit wurden von den Marshals der Bundesregierung weiterhin Führer der Kirche festgenommen. Im Dezember stellte sich Apostel Francis Lyman der Staatsgewalt und leistete George Q. Cannon im Gefängnis Gesellschaft. Als Präsident der Zwölf Apostel war Wilford Woodruff gezwungen, die Kirche mit immer weniger Aposteln an seiner Seite zu führen.31
Wilford verbrachte auch einen Teil seiner Zeit mit Arbeit auf seiner Farm, schrieb Briefe und unterschrieb Tempelscheine für die Heiligen, die den Tempel in Logan, Manti oder St. George besuchen wollten.32 Im Februar 1889 wurde George Q. Cannon nach fünf Monaten Gefängnis entlassen. Am nächsten Tag lud Wilford ihn und einige Freunde und Bekannte zur Feier seiner Freilassung zu sich ins Büro ein. Mitglieder des Tabernakelchors brachten sogar eine Orgel mit, und der Chor sang Kirchenlieder. Dann sangen einige Heilige aus Hawaii, die nach Utah ausgewandert waren, drei Lieder, von denen zwei eigens aus diesem Anlass komponiert worden waren. Kanaka, einer der Männer, war über neunzig Jahre alt. George hatte ihn in den frühen 50er Jahren während seiner Mission in Hawaii getauft.
Am Abend war Wilford dann zum Truthahnessen bei Familie Cannon eingeladen. „Dein Vater hat von allen Männern im Gottesreich das größte Hirn und den schärfsten Verstand“, sagte er zu einem von Georges Söhnen. Da George aus dem Gefängnis entlassen worden war, hoffte Wilford, alle Apostel würden nun dessen guten Wesenskern erkennen und sie könnten somit gemeinsam darangehen, die Kirche zu leiten.33
Nachdem Zina Young aus Cardston nach Salt Lake City zurückgekehrt war, verspürte sie die Last ihrer neuen Berufung als Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung in vollem Ausmaß. Sie war für mehr als zweiundzwanzigtausend Frauen in hunderten Gemeinden und Zweigen auf der Welt zuständig. Zusätzlich zu ihrem Dienst als geistliche Führerin stand sie auch mehreren Einrichtungen wie dem Deseret Hospital vor und war verantwortlich für eine Vielzahl an Hilfsgütern, darunter beispielsweise mehr als zweiunddreißigtausend Scheffel an Getreidevorräten.
Zina hatte sich zwar mit Jane Richards und Bathsheba Smith zwei erfahrene Leiterinnen ausgesucht, die sie als Ratgeberinnen unterstützten, doch die Ansprüche, die diese Berufung an sie stellte, kamen ihr dennoch erdrückend vor. Ihre Tochter Zina Presendia machte sie darauf aufmerksam, wer ihr noch helfen könnte. „Sprich doch mit der lieben Tante Em“, schrieb sie. „Sie ist von Natur aus eine Generalin.“34
Zina Presendia meinte damit Emmeline Wells, die Sekretärin der Frauenhilfsvereinigung, die in dieser Funktion für sämtliche Mitteilungen, alle geschäftlichen Vorgänge und die Planung der Besuche bei den Frauenhilfsvereinigungen im ganzen Territorium zuständig war. Zudem nahmen Emmelines Verpflichtungen als Herausgeberin des Woman’s Exponent einen guten Teil ihrer Zeit in Anspruch.35 Dennoch erklärte sie sich gerne bereit, Zina in deren neuem Aufgabengebiet zu unterstützen.
„Offensichtlich wird mein Arbeitsbereich künftig noch umfangreicher, als dies ohnehin schon der Fall war“, vertraute Emmeline ihrem Tagebuch an. „Den Frauen in Zion werden jetzt gehäuft Aufgaben übertragen.“36
Sowohl Zina als auch Emmeline war es ein großes Anliegen, dass den Frauen erneut das Wahlrecht zugestanden wurde, das ihnen durch das Edmunds-Tucker-Gesetz genommen worden war. Im Winter 1889 kamen Zina und Emmeline mit Wilford Woodruff und weiteren Führern der Kirche zusammen, um die Gründung einer Vereinigung, die sich in Utah für das Frauenwahlrecht einsetzen sollte, zu besprechen. Wilford und andere Mitglieder des Kollegiums der Zwölf Apostel sagten ihnen ihre volle Unterstützung zu.37
Bald fanden im Anschluss an die üblichen Treffen der Frauenhilfsvereinigung in den Gemeinden in Utah und Idaho zusätzlich noch Treffen der Frauenwahlrechtsgruppe statt. Häufig veröffentlichte Emmeline Berichte über solche Treffen auch im Woman’s Exponent. Indessen rief Zina die Bundesregierung auf, den Frauen in Utah ihr „gottgegebenes Wahlrecht“ zurückzugeben. „Kraft und mithilfe dieses Stimmrechts werden wir in der Lage sein, immens viel Gutes in der Welt zu bewirken“, führte sie aus. Sie bekräftigte auch ihren Entschluss, mit Frauen außerhalb der Kirche zusammenzuarbeiten. „Wir wollen allen Frauen Amerikas die Hand reichen“, versprach sie, „und versichern ihnen, dass wir bei diesem großen Kampf alle an einem Strang ziehen.“38
Da die Frauenhilfsvereinigung immer größer wurde, hegte Zina die Befürchtung, einzelne Pfähle könnten sich von deren oberster Führung und auch voneinander abkoppeln. Für sie bestand die Lösung des Problems darin, die Frauenhilfsvereinigungen der auswärtigen Pfähle zu einer Konferenz nach Salt Lake City einzuladen. Die Gemeinschaftliche Fortbildungsvereinigung Junger Männer hatte ähnliche Konferenzen bereits mit gutem Erfolg durchgeführt.39
Die erste allgemeine Konferenz der Frauenhilfsvereinigung war auf den 6. April 1889, also den Tag der Generalkonferenz, gelegt worden. An diesem Abend stand Zina in der Versammlungshalle auf dem Tempelplatz vor einer Schar Frauen, die aus vielen verschiedenen Nationen nach Zion gekommen waren. In den vergangenen vierzig Jahren waren mehr als achtzigtausend Heilige übers Meer nach Amerika eingewandert. Die meisten stammten aus Großbritannien, doch viele kamen auch aus Skandinavien und den deutschsprachigen Ländern Europas. Andere wiederum waren aus Neuseeland, Australien oder einem der Inselstaaten im Pazifik.
Zina forderte diese Frauen so ganz unterschiedlicher Herkunft auf, einander doch in ihren Versammlungen zu besuchen und sich auf diese Weise besser kennenzulernen. „Das führt dann zu Einigkeit und Eintracht, steigert das Selbstvertrauen und stärkt die Bande, die uns miteinander verbinden“, versprach sie, „denn die Sprachen, die wir sprechen, unterscheiden sich weitaus mehr als unsere Herzenswünsche.“
„Schwestern, lasst uns eine große, geschlossene Reihe bilden und für das Rechte eintreten“, bat sie. „Zweifelt nicht an Gottes Güte oder an der Wahrheit des Werkes, mit dem wir befasst sind.“40
Am ersten Freitag im April 1889 rief Wilford Woodruff die Apostel zusammen. Fast zwei Jahre waren seit John Taylors Tod nun schon vergangen, und Wilford hatte geduldig darauf gewartet, dass das Kollegium in Einigkeit zusammenfand. Er hatte seine leitende Funktion mit, wie es in den Offenbarungen heißt, Langmut, Milde, Sanftmut und ungeheuchelter Liebe ausgeübt. Am Tag vor der Frühjahrs-Generalkonferenz spürte er, dass nun die Zeit gekommen war, eine neue Erste Präsidentschaft zu bilden.
Im Laufe der vergangenen Monate hatte sich unter den Aposteln übereinstimmend die Ansicht herauskristallisiert, dass es für die Kirche das Beste wäre, eine neue Erste Präsidentschaft aufzustellen, und dass Wilford vom Herrn auserwählt war, sie zu führen, und zwar ungeachtet der Frage, wen er sich als Ratgeber aussuchen würde. Wilford hatte sogar an Francis Lyman im Gefängnis geschrieben und auch dessen Zustimmung eingeholt.41
Die Apostel befürworteten also einstimmig die Bildung einer neuen Ersten Präsidentschaft. Wilford wählte sodann George Q. Cannon als Ersten und Joseph F. Smith als Zweiten Ratgeber aus.
„Ich kann diese Ernennung nur annehmen, wenn ich weiß, dass es der Wille des Herrn ist“, sagte George, „und wenn meine Brüder von Herzen und uneingeschränkt zustimmen.“
„Ich habe wegen dieser Angelegenheit gebetet“, versicherte ihm Wilford, „und ich weiß, dass dies der Sinn und Wille des Herrn ist.“
Trotz einiger noch unausgeräumter Bedenken stimmte auch Moses Thatcher für George. „Wenn ich für ihn stimme, so tue ich dies aus freien Stücken, und ich werde mich bemühen, ihn mit aller Kraft zu unterstützen“, bekräftigte er. Auch Heber Grant äußerte seine Unterstützung für Präsident Woodruffs Entscheidung mit nur geringfügigen Vorbehalten.
Die übrigen Apostel bestätigten die neue Präsidentschaft von ganzem Herzen, und Wilford war erleichtert, dass das Kollegium nun endlich zu einer Einheit wurde. „Noch nie wurden die Dienste der Zwölf Apostel in der Kirche dringender benötigt als heute“, verkündete er.42
Am Sonntag drängten sich zur Nachmittagsversammlung der Generalkonferenz tausende Heilige im Tabernakel. Bei dieser feierlichen Versammlung hatten die Mitglieder die Gelegenheit, die neue Erste Präsidentschaft im Amt zu bestätigen. Als die Namen von Wilford und seinen Ratgebern verlesen wurden, erhob sich ein Meer von Händen zum Zeichen der Zustimmung.43
„Ich hege den großen Wunsch, dass wir als Volk eines Herzens sind, dass wir Glauben an die Offenbarungen Gottes haben und nach dem Ausschau halten, was uns verheißen wurde“, verkündete Wilford den Heiligen später in der Versammlung. Anschließend legte er Zeugnis für Jesus Christus ab.
„In Sanftmut und Herzensdemut führte er während seines irdischen Wirkens treu den Willen seines Vaters aus“, erklärte er. „Verfolgt die Geschichte Jesu Christi, des Erretters der Welt, von der Krippe zum Kreuz, seinen Weg durch Schmerzen, vermischt mit Blut, bis hin zum Thron der Gnade, und ihr findet darin ein Beispiel für die Ältesten Israels, ein Beispiel für all jene, die dem Herrn Jesus Christus nachfolgen.“44