Kapitel 32
Unsere Kraft ist der Glaube
Am 1. Oktober 2000 weihte der inzwischen neunzig Jahre alte Präsident Hinckley den Boston-Massachusetts-Tempel im Osten der Vereinigten Staaten. Damit war sein Ziel erreicht, bis zum Jahresende einhundert im Betrieb befindliche Tempel zu haben. Zwei Monate darauf, als sich Christen in aller Welt auf die Feier der Geburt des Erretters und den Beginn eines neuen Jahrtausends vorbereiteten, weihte er in Brasilien zwei weitere Tempel – einen in Recife und einen in Porto Alegre. Darüber hinaus befanden sich neunzehn Tempel entweder in Bau oder in der Planungsphase. Welch ein passender Abschluss für ein Jahr, in dem mehr Tempel geweiht worden waren als je zuvor in der Geschichte der Kirche!
Im Verlauf seines Lebens hatte Präsident Hinckley miterlebt, wie die Kirche von einer Institution mit vierhunderttausend Mitgliedern – von denen die meisten in Utah sesshaft waren – zu einer Kirche mit über elf Millionen Mitgliedern in 148 Ländern angewachsen war. Im Jahr 1910, dem Geburtsjahr des Propheten, verfügte die Kirche gerade einmal über vier Tempel, und das Endowment wurde nur in englischer Sprache vollzogen. Jetzt befanden sich überall auf der Welt Tempel der Kirche, und das Endowment stand in Dutzenden von Sprachen bereit. Die durch Inspiration geänderte Neugestaltung der Tempel hatte das Ihre dazu beigetragen.
Doch Tempel waren nicht die einzigen Gebäude, die Präsident Hinckley im Sinn hatte. Schon seit einiger Zeit hatte er seine Besorgnis darüber geäußert, das Tabernakel in Salt Lake City sei nicht groß genug für all diejenigen, die persönlich eine Versammlung der Generalkonferenz besuchen wollten. Also gab er eine neue Versammlungsstätte in Auftrag, die dreimal so viel Platz bot wie das Tabernakel. Das Konferenzzentrum, das daraufhin auf dem Grundstück nördlich vom Tempelplatz errichtet und im Oktober 2000 geweiht wurde, war ein technisches Wunderwerk und begeisterte den Propheten.
Unter der Führung von Präsident Hinckley bediente sich die Kirche auch weiterhin neuer Technologien. Kurz nachdem er Präsident der Kirche geworden war, stimmte er der Einrichtung einer Website zu, auf der Internetnutzer die heiligen Schriften, das Zeugnis Joseph Smiths sowie Generalkonferenzansprachen vorfanden. Ende 2000 umfasste www.lds.org digitale Fassungen der heiligen Schriften, dreißig Jahrgänge der Zeitschriften der Kirche sowie die Verlautbarungen „Die Familie – eine Proklamation an die Welt“ und „Der lebendige Christus – das Zeugnis der Apostel“.
Präsident Hinckley sah im Internet großes Potenzial für das Gute – gleichermaßen verschloss er jedoch auch vor dem Bösen darin nicht die Augen. Pornografie war ein ernstzunehmendes Problem. „Lassen Sie die Finger davon!“, flehte er. „Vermeiden Sie sie wie die Pest, denn genauso tödlich ist sie ja.“ Er sprach sich vehement gegen Misshandlung und Missbrauch aus und forderte die Führer der Kirche auf, das Ihre dazu beizutragen, Täter der Justiz zu überantworten.
Zudem war der Prophet weiterhin in Sorge wegen der Anzahl an Mitgliedern, die sich von der Kirche abwandten. Unter seiner Leitung legten die Missionare mehr Nachdruck auf Bekehrung vor der Taufe. Die Führungsverantwortlichen in Mission und Pfahl kamen in neuen Koordinierungsräten zusammen, wo sie beratschlagten, wie man sich besser um neue Mitglieder kümmern konnte. Präsident Hinckley beobachtete zwar sorgenvoll, dass sich die Anwesenheit in der Abendmahlsversammlung nicht besserte, doch es ermutigte ihn, wie sich die Heiligen weltweit um die Aktiverhaltung der Mitglieder bemühten.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends setzte er seine Hoffnung auf die heranwachsende Generation. Mehr und mehr junge Leute gingen auf Mission und heirateten im Haus des Herrn. Er stellte auch fest, dass diese Generation besser ausgebildet war als die Generationen davor.
Als Präsident der Kirche wünschte er sich sehnlichst, jungen Mitgliedern bei der notwendigen Schul- und Berufsausbildung mehr unter die Arme greifen zu können. Zu Beginn des Jahres hatte er in einer Versammlung des Bildungsausschusses der Kirche verspürt, wie der Heilige Geist ihm zuflüsterte, Ricks College mit seinen zweijährigen Ausbildungslehrgängen solle zu einer Universität – der Brigham-Young-Universität Idaho – mit vierjährigen Studiengängen werden. Eine solche Änderung würde vielen weiteren jungen Heiligen der Letzten Tage die Möglichkeit eröffnen, eine Universität der Kirche zu besuchen.
Tags darauf stellte Präsident Hinckley die Idee den Aposteln vor – sie waren einstimmig dafür. Anschließend beriet er sich mit David A. Bednar, dem Präsidenten des Ricks College. Sie legten fest, die neue Universität solle sich, um die Zahl der immatrikulierten Studenten erhöhen zu können, auf Hybridunterricht – also eine Mischung aus Präsenzunterricht und Online-Kursen – konzentrieren.
Der Prophet kündigte diese Veränderung unmittelbar darauf an. „Das wird eine großartige Institution werden“, erklärte er.
In letzter Zeit hatte er sich auch viele Gedanken über junge Frauen und Männer in Entwicklungsländern gemacht, insbesondere über ehemalige Missionare. Angesichts von Armut, mangelnden Bildungschancen und fehlenden Berufsaussichten resignierten manche und entfernten sich von der Kirche. Auf seine Anregung hin hatte die Präsidierende Bischofschaft mit der Entwicklung eines neuen Programms begonnen. Dieses unterstützte Mitglieder weltweit mit Kleinkrediten, damit sie eine Berufsschule oder Universität besuchen könnten. In Anlehnung an den Ständigen Auswanderungsfonds, die Initiative der Kirche zur Unterstützung tausender europäischer Heiliger, die um 1800 nach Utah kamen, plante Präsident Hinckley, das Programm „Ständiger Ausbildungsfonds“ zu nennen.
„Ich glaube, dass dieses Programm inspiriert ist und sich für sehr viele junge Männer und Frauen als Segen erweisen kann“, schrieb er. „Ihr Blick kann sich erheben, ihr Ehrgeiz kann geweckt werden.“
Im November hielt Präsident Hinckley eine Rundfunkandacht eigens für die Jugend der Kirche. Um sie dabei zu unterstützen, bessere Jünger Jesu Christi zu werden, bat er sie, sich sechs Ratschläge zu Herzen zu nehmen:
Gut einen Monat darauf, als sich das Jahr bereits dem Ende zuneigte, sann er über sein Leben und die Güte Gottes nach. Obwohl der Prophet körperlich ermüdet war, strahlte sein Geist inneren Frieden und Zufriedenheit aus. „Ich empfinde tiefe Dankbarkeit meinem Vater im Himmel und seinem geliebten Sohn gegenüber“, schrieb er am 31. Dezember 2000 in sein Tagebuch. „Nun freuen wir uns schon auf ein neues Jahr!“
Zwei Monate später, am 26. Februar 2001, saßen Darius Gray und Marie Taylor in einem überfüllten Saal in der Family History Library in Salt Lake City. Apostel Henry B. Eyring sprach vorne zu über hundert Reportern und geladenen Gästen über das Projekt Freedman’s Bank.
Nach elf Jahren Arbeit hatten Darius und Marie gemeinsam mit über 550 ehrenamtlich tätigen Insassen des bundesstaatlichen Gefängnisses von Utah die Daten von sage und schreibe 484.083 in den Aufzeichnungen genannten Afroamerikanern in eine verwertbare Form gebracht. Kurz zuvor hatte auch die Kirche damit begonnen, für das Projekt technische und finanzielle Unterstützung bereitzustellen. Jetzt waren die Daten durchsuchbar, für Forschende auf CD-ROM erhältlich und in jedem familiengeschichtlichen Center der Kirche einsehbar.
„Für Afroamerikaner sind die Aufzeichnungen der Freedman’s Bank die größte bekannte Sammlung von Daten in Bezug auf ihre Abstammungslinie“, erklärte Elder Eyring gerade. „Wir hoffen, dass wir die Datenbank in naher Zukunft auch auf der genealogischen Website der Kirche, FamilySearch.org, kostenlos zur Verfügung stellen können.“
In den Tagen vor dieser Ankündigung war Darius mit den Führungsverantwortlichen der Abteilung Familiengeschichte zusammengekommen, um die Veröffentlichung der Datenbank zu planen. „Wir machen das jetzt wirklich“, dachte er bei sich. „Es wird tatsächlich Realität.“
Das Schicksal des Projekts hatte ja nicht immer rosig ausgesehen. Anfangs war das Heraussuchen von Namen für die Tempelarbeit eigentlich der am stärksten motivierende Aspekt gewesen. Doch seit Mitte der 1990er Jahre hatte die Kirche aktiv davon abgeraten, beim Tempel Namen von Nichtverwandten einzureichen. Dies war eine wichtige und notwendige Maßnahme des Respekts vor den Familien der Verstorbenen, doch sie brachte das Projekt zum Stillstand. Daraufhin konzentrierten sich Darius und Marie auf die Entwicklung eines Forschungstools, das Afroamerikanern bei der Suche nach ihren Vorfahren helfen sollte.
Die Inhaftierten beendeten im Oktober 1999 das Herausschreiben der Namen. Danach überprüften sie ihre Abschriften sorgfältig und schlossen die Arbeit – trotz eines allgemeinen dreiwöchigen Zellenarrests – Mitte Juli 2000 ab.
Ein Gefängnisinsasse, der bei der Koordinierung des Projekts mitgeholfen hatte, war nach Abschluss des Projekts tief gerührt. Nie hätte er erwartet, dass diese Tätigkeit ihn so sehr bewegen werde. Er hatte herzzerreißende Berichte über versklavte Väter und Mütter gelesen, die ihrer Familie entrissen wurden. In anderen Berichten war von Erschossenen die Rede. Ein von ihm ausgewerteter Bericht handelte von einem namenlosen versklavten Baby, das gegen landwirtschaftliche Geräte eingetauscht wurde.
Viele Häftlinge machten ähnliche lebensverändernde Erfahrungen. Einmal traf der Koordinator auf einen ehrenamtlichen Helfer, dem Tränen in den Augen standen. „Ich kann es gar nicht glauben, wie diese Menschen behandelt wurden“, sagte der Häftling. Als der Koordinator dem Ehrenamtlichen die Hand auf die Schulter legte, fiel ihm auf, dass dieser als Tätowierung das Symbol einer rechtsextremen, rassistischen, weißen Gruppierung trug.
Nun, da die Daten herausgesucht und ausgewertet waren, mussten Darius und Marie einen Weg finden, sie den Forschern auf breiter Basis zur Verfügung zu stellen. Doch für diese Aufgabe fehlten ihnen schlicht und einfach die Mittel. Eine beliebte genealogische Website bot an, die Daten für Zehntausende von Dollar zu kaufen, doch Darius und Marie lehnten ab, da sie es für falsch hielten, aus der Arbeit der Gefängnisinsassen Profit zu ziehen. Stattdessen schenkten sie die Daten der Kirche – sie sollte die Informationen allen zur Verfügung stellen, die sie nutzen wollten.
Die Veranstaltung anlässlich der Veröffentlichung der CD-ROM wurde nach Washington sowie in elf weitere Städte in den Vereinigten Staaten übertragen. Sowohl Darius als auch Marie hatten die Gelegenheit, über das Projekt zu sprechen. Darius räumte ein, dass die Aufzeichnungen viele Geschichten enthielten, die schmerzlich waren oder Unbehagen hervorriefen. „Ich glaube, wir haben oft Angst, über die ethnische Herkunft zu sprechen“, sagte er vor den Journalisten, „doch unterschiedliche Ethnien gibt es nun einmal. Wir sollten unsere Geschichte gemeinsam angehen.“
Für ihn stand die Familie im Mittelpunkt des Projekts. „Es zeigt, wie wichtig die Familie war“, sagte er. „Selbst in der feindseligen Welt der Sklaverei war es den Menschen ein Anliegen, sich gegenseitig nicht aus den Augen zu verlieren. Sie bemühten sich darum, sie behielten einander im Blick.“
Marie stimmte zu. „Als ich die Aufzeichnungen der Freedman’s Bank entdeckte“, erzählte sie, „stellte ich mir vor, wie Afroamerikaner die Ketten der Sklaverei sprengen und Familienbande schmieden.“ Nun hoffte sie, die Aufzeichnungen würden auch weiterhin Familien zusammenbringen.
„Das ist es doch, worum es hier geht“, bekräftigte sie.
Als Felicindo Contreras in Santiago in Chile als Bischof berufen wurde, endete für seine Frau Veronica ihre Zeit als Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung der Gemeinde. Doch schon bald erhielt sie eine neue Berufung: Seminar- und Institutslehrerin im Pfahl.
Viele Jahre lang war das Institut der Kirche in den Vereinigten Staaten meist rund um Universitäten angesiedelt gewesen. Doch in den frühen 1970er Jahren hatten Führungsverantwortliche im Bildungswesen der Kirche – das Church Educational System, kurz CES – begonnen, das Konzept für das Institut so anzupassen, dass es auch in Pfählen in aller Welt funktionierte. Durch diese Änderung konnten nunmehr alle jungen Erwachsenen in der Kirche, nicht nur Universitätsstudenten, von dem Programm profitieren. Ein regionaler CES-Administrator betreute die Kurse, und die jeweiligen Pfähle stellten die Lehrkräfte.
In Chile gab es eine Zeit lang über ein Dutzend von der Kirche geführte Grundschulen und weiterführende Schulen, die für den Religionsunterricht an Wochentagen sorgten. Es war für die Kirche jedoch kostenintensiv, in jedem Land, in dem es Mitglieder gab, eine Schule zu betreiben. Die Richtlinien der Kirche besagten außerdem, dass die kirchlichen Schulen geschlossen werden sollten, sobald die Mitglieder Zugang zu geeigneten staatlichen Schulen hatten. 1981 schloss die Kirche ihre letzte Schule in Chile und stützte sich nun für den Religionsunterricht ihrer Mitglieder ausschließlich auf Seminar und Institut.
Studien hatten gezeigt, dass Institutsschüler viel eher in der Kirche aktiv blieben als diejenigen, die nicht am Institut teilnahmen. In Chile war jedoch nur etwa jedes fünfte der aktiven jungen erwachsenen Mitglieder ins Institut eingeschrieben. Zum Zeitpunkt von Veronicas Berufung besuchten nur drei, vier Studenten des Pfahles regelmäßig das Institut.
Veronica war der Meinung, dass die Institutsklassen eine wichtige Rolle dabei spielten, junge Menschen näher zu Gott zu führen. Sie begann, jedem jungen Erwachsenen, den sie in der Kirche traf – und auch den Eltern –, vom Institut zu erzählen. Außerdem suchte sie in den einzelnen Gemeinden den Bischof auf und bat ihn, junge Leute zu den Kursen einzuladen. Viele der Bischöfe unterstützten sie, vor allem, wenn sie erklärte, weshalb sie das Institut für so wichtig hielt. Schon bald nahmen mehr als fünfzig Studenten am Institut teil.
Da viele direkt von der Arbeit oder der Uni kamen, hatten sie oft keine Zeit, vor Unterrichtsbeginn noch etwas zu essen. Aus Sorge, dass sie sich mit leerem Magen nicht auf den Unterricht konzentrieren könnten, stellte Veronica sicher, dass die Schüler bei ihrer Ankunft etwas zu essen bekamen. Sie versorgte sie in der Regel mit Kuchen oder einem kleinen Snack. Zuweilen bereitete sie auch etwas Aufwendigeres vor. Dann wurde beispielsweise gegrillt oder sie kochte etwas Besonderes. Aber sie verriet nie, was es zu essen gab, in der Hoffnung, dies sei für die Teilnehmer ein Anreiz, zum Unterricht zu kommen.
Zu Beginn des Jahres fragte sie ihre Schüler stets, was sie gern durchnehmen wollten. Auf Grundlage der Rückmeldungen bot sie Kurse über die heiligen Schriften, über die Vorbereitung auf Tempel und Mission und über die ewige Ehe an.
Zur Unterrichtsvorbereitung betete Veronica und griff auf die Institutsleitfäden zurück. Dabei suchte sie auch nach Wegen, um auf alltägliche Probleme ihrer Schülerinnen und Schüler einzugehen. Sie ging die heiligen Schriften gern Vers für Vers durch, um die Schüler anzuregen, intensiv über das Leben und die Lehren der Menschen und der Propheten nachzudenken, die hinter diesen Versen standen. Sie ermunterte die jungen Leute auch, Fragen zu stellen.
„Wenn ich die Antwort auf eure Frage oder euer Problem nicht weiß“, sagte sie, „schlage ich in den heiligen Schriften nach und gebe euch die Antwort später – oder wir können gemeinsam in den Schriften danach suchen.“
Mit zunehmender Größe der Institutsklasse wurden die Teilnehmer zu einer fest zusammengeschweißten Gruppe. Sie verbrachten gerne Zeit miteinander und mit Veronica. Manch einer kam bei persönlichen Problemen zu ihr und bat um Rat. Sie drängte die Schüler stets dazu, ihre Anliegen mit den davon Betroffenen zu klären.
„Bitte rede mit deinem Bischof oder mit Vater oder Mutter“, pflegte sie dann zu sagen. „Wenn es zuhause ein Problem gibt, muss es auch zuhause gelöst werden. Und wenn es gar keine Lösung gibt, geh zu deinem Bischof und sprich mit ihm. So ist es am besten.“
Veronica wusste, dass ihre Schüler vor Herausforderungen standen. Chile ging es wirtschaftlich schlecht. Viele junge Leute fragten sich, wie sie es sich denn leisten könnten, zu studieren, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Bei Veronica daheim hing ein Schild mit der Aufschrift „Jeder Schritt im Glauben“. Sie war sich sicher: Wenn man im Glauben handelt und die Lehren Jesu Christi im Alltag umsetzt, dann kommt Gutes dabei heraus.
„Wir stolpern immer wieder“, sagte sie ihren Schülern oft. „Aber wir haben auch immer wieder die Hand des Herrn, die uns aufhilft.“
Im Mai 2001 verließ Seb Sollesta seine Heimat Iloilo City in den Philippinen. Er wollte in den Vereinigten Staaten leben und arbeiten – ein Traum, den er seit dem College gehabt hatte. Einige seiner philippinischen Freunde und Verwandten waren bereits dort und führten jetzt ein glückliches und erfolgreiches Leben. „Vielleicht kann dieser Traum auch für mich wahr werden“, dachte er.
Seiner Frau Maridan gefiel der Gedanke nicht, dass er seine Heimat verlassen und ans andere Ende der Welt ziehen wollte. „Dein Traum ist alleine dein Traum“, hatte sie argumentiert. „Mein Traum ist das nicht.“ Sie hatten drei Söhne im Teenageralter, ein kleines Pharmaunternehmen sowie ihre Berufungen in der Kirche. Sie verstand nicht, wieso er denn weggehen wollte.
„Das musst du dir sehr gut überlegen“, hatte sie ihn gemahnt. „Als Mann und Frau müssen wir doch unter einem Dach leben!“
Maridan wollte jedoch Seb bei der Verwirklichung seines Traums nicht im Weg stehen. Schließlich stimmte sie zu. Beiden war bewusst, dass ja schließlich viele philippinische Paare getrennt lebten – ein Partner blieb in den Philippinen, der andere arbeitete im Ausland. Warum konnten sie es nicht genauso machen?
In den Vereinigten Staaten angekommen, zog Seb zu seinem Onkel nach Long Beach, einer Stadt in Kalifornien. Er fand eine Stelle in einem nahegelegenen Krankenhaus, wo er in der Nachtschicht arbeitete. Die Arbeitszeiten waren schwierig und die Tätigkeit war anspruchsvoll, aber sie wurde gut bezahlt, und Seb gefiel der Job.
An den Wochenenden ging er in seine Gemeinde und besuchte anschließend mit seinem Onkel weitere Verwandte. Es machte ihm Spaß, neue Freunde zu finden und seine Verwandten näher kennenzulernen. Aber er fühlte sich auch einsam und vermisste seine Frau und seine Kinder. Maridan und er waren bemüht, jeden Tag zu telefonieren, aber das war teuer. Für ein Ferngespräch in die Philippinen brauchte er eine Telefonwertkarte. Die kostete zehn Dollar pro Stunde.
Nachdem Seb fünf Monate in Kalifornien gearbeitet hatte, begann er ernsthaft über eine Rückkehr in die Philippinen nachzudenken. Sein Visum lief bald ab, und wenn er weiterhin in den Vereinigten Staaten arbeiten wollte, müsste er es verlängern. Eine Zeit lang hatte er darüber nachgedacht, Maridan und seine Söhne zu sich zu holen – vielleicht für immer –, sobald er genug Geld hätte. Aber Maridan war nicht daran interessiert, in den Vereinigten Staaten zu leben, und ohne seine Familie wollte er nicht dort bleiben.
Am Morgen des 11. September 2001 entführten gewalttätige Extremisten im Osten der USA drei Verkehrsflugzeuge und ließen sie in New York und bei Washington in Gebäude stürzen. Ein viertes Flugzeug stürzte in ein Feld, nachdem sich die Passagiere den Entführern widersetzt hatten. Die Anschläge kosteten fast dreitausend Menschen das Leben und lösten allgemeine Empörung und Angst aus. Menschen auf der ganzen Welt trauerten, und die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten schworen der militanten Gruppe, die hinter den Anschlägen stand, „Krieg gegen den Terror“.
Seb verfolgte im Fernsehen die Berichterstattung über die Tragödie und fühlte sich in Amerika nicht mehr sicher. Er wollte bei seiner Frau und den Kindern sein. Seine Söhne waren in einem Alter, in dem man sie leicht beeinflussen konnte. Sie brauchten jemanden, der sie beim Heranwachsen anleitete und stärkte. Er musste zuhause bei ihnen und ihrer Mutter sein.
Einige Tage nach den Flugzeugentführungen flog Seb zurück in die Philippinen. Er kehrte früher heim als geplant, doch er bereute es nicht. Wahres Glück, so erkannte er jetzt, kommt nicht von weltlichem Erfolg. Es entsteht in der Familie.
Weniger als einen Monat nach den Anschlägen vom 11. September sprach Präsident Hinckley auf der Generalkonferenz zu den Heiligen über den drohenden Konflikt. „Wir leben in einer Zeit, in der gewalttätige Menschen schreckliche und verabscheuungswürdige Dinge tun“, befand er. „Unsere Kraft ist der Glaube an den Allmächtigen. Nichts unter dem Himmel kann das Werk Gottes aufhalten. Ungemach mag zwar sein hässliches Haupt erheben, und die Welt mag von Kriegen und Kriegsgerüchten geplagt werden, aber dieses Werk wird vorangehen.
Mögen wir“, so fuhr er fort, „ein Segen für die Menschheit sein, indem wir uns jedem Einzelnen zuwenden, die Unterdrückten und Bedrängten aufrichten, die Hungrigen und Notleidenden nähren und kleiden und denen, die nicht dieser Kirche angehören, Liebe und Freundlichkeit entgegenbringen.“
Einige Monate später fanden in Salt Lake City die Olympischen Winterspiele 2002 statt. Auf dieses Ereignis hatte sich Präsident Hinckley schon seit mehreren Jahren gefreut. Trotz der jüngsten Terroranschläge brachten die Spiele einen Besucherrekord nach Utah. Auch aus dem Ausland waren viele angereist, darunter mehrere tausend Journalisten, die sich nebenbei über das religiöse Erbe und die Kultur der Stadt informieren wollten. Präsident Hinckley legte dar, wie die Unterstützung seitens der Kirche für die Stadt aussehen werde. Er erklärte öffentlich, dass Touristen, die extra wegen der Olympiade gekommen waren, nicht von Missionaren angesprochen werden würden. Dennoch unternahm die Kirche Schritte, um Reportern und sonstigen Besuchern etwas über die Heiligen der Letzten Tage zu vermitteln.
Im Oktober 2001 hatten die Führer der Kirche eine neue Website veröffentlicht, auf der grundlegende Fragen zum Glauben und zu den Gebräuchen der Kirche beantwortet wurden. Während der Olympischen Spiele richtete die Kirche im Joseph Smith Memorial Building zudem ein Medienzentrum für Reporter ein. Wer sich für die Kirche und ihre Lehren interessierte, konnte an vier Tagen in der Woche im Konferenzzentrum das Schauspiel Licht der Welt ansehen, bei dem Christus im Mittelpunkt stand und das die Geschichte der Kirche und die Botschaft des wiederhergestellten Evangeliums zum Gegenstand hatte.
Nach den Ereignissen des 11. September war Sicherheit nunmehr ein wichtiges Thema. Umfassende Sicherheitsmaßnahmen schützten jeden olympischen Austragungsort. Zugleich waren die Organisatoren aber auch sehr darauf bedacht, den Gemeinschaftsgeist zu bewahren, der in jeder Gastgeberstadt bei einer solchen Veranstaltung herrschen sollte. Um zu einem reibungslosen Ablauf der Spiele beizutragen, stellte die Kirche dem Olympischen Komitee Ressourcen, Parkplätze für die Menschenmassen und eine weitere Reihe von Dienstleistungen zur Verfügung. Der Tabernakelchor trat während der Eröffnungszeremonie vor einem Publikum von weltweit drei Milliarden Menschen auf. Viele Heilige, darunter auch ehemalige Missionare, die als Dolmetscher tätig waren, trugen mit ihrer ehrenamtlichen Arbeit zum Erfolg der Veranstaltung bei.
Nach dem Ende der Spiele reflektierte der Prophet in seinem Tagebuch, wie er diese Zeit erlebt hatte. „Die Kirche ist durch diese Olympischen Spiele sehr gesegnet worden“, schrieb er. „Wir haben keine direkte Missionsarbeit betrieben, aber wir haben in aller Welt Freunde und Bewunderer gewonnen. Menschen, die kaum je von uns gehört hatten, sind jetzt einigermaßen mit uns vertraut.“
Er dachte an die vielen Würdenträger, Staatsoberhäupter und Wirtschaftsführer, die in die Stadt gekommen waren, um sich an den Spielen zu erfreuen. Die Veranstaltung erinnerte ihn an die Prophezeiung Brigham Youngs, dass Salt Lake City „eine große Verkehrsader der Nationen“ werden solle, ein Ort, den „Könige und Kaiser“ besuchen würden.
„In den vergangenen zwei Wochen haben wir die Erfüllung dieser Prophezeiung erlebt“, notierte Präsident Hinckley. „Jetzt kommen wir zur Ruhe und gehen wieder an die Arbeit.“