Kapitel 38
Echt und unermesslich
Im Februar 2011 erhielten Marco und Claudia Villavicencio überraschenderweise eine E-Mail von Joshua Perkey, einem Redakteur der Zeitschriften der Kirche in Salt Lake City. Im Jahr davor war Joshua nach El Coca gereist, weil in den Zeitschriften mehr Artikel über die Heiligen in aller Welt erscheinen sollten. Mehrere Tage lang hatte Joshua die Villavicencios und weitere Mitglieder des Zweiges begleitet und interviewt, Versammlungen sowie Seminarklassen besucht und Fotos von der Stadt und ihren Bewohnern gemacht.
Zur Zeit von Joshuas Besuch war der Zweig in El Coca gerade einmal ein Jahr alt. In dieser Zeit war er von achtundzwanzig Mitgliedern auf dreiundachtzig angewachsen. Marco führte das Wachstum auf die Bemühungen des Zweiges zurück, jedem das Gefühl zu geben, gebraucht und geliebt zu werden. Marco hatte Joshua damals erklärt: „Wir versuchen, in die Tat umzusetzen, wozu Präsident Gordon B. Hinckley uns aufgefordert hat, nämlich dass jedes neue Mitglied einen Freund und eine Aufgabe braucht und durch das gute Wort Gottes genährt werden muss.“ Claudia, die nach wie vor Präsidentin der Jungen Damen im Zweig war, stimmte zu. „Wenn jemand zum ersten Mal in die Kirche kommt“, erklärte sie, „macht auf ihn vor allem Eindruck, wie er aufgenommen wird. Deshalb machen wir den Jungen Damen deutlich, wie wichtig dem Herrn jede einzelne Seele ist.“
Viele Mitglieder hatten Joshua bewegende Geschichten erzählt und mit ihm über ihr Zeugnis gesprochen. Lourdes Chenche etwa, die Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung des Zweiges, erzählte von der Freude, die sie und ihre Mitschwestern in der Präsidentschaft empfanden, wenn sie für die Frauen im Zweig da waren. Sie stellte fest: „Wir stehen ihnen zur Seite, wenn sie Probleme haben. Wir lassen sie spüren, dass sie nicht allein sind, dass uns Jesus Christus beisteht und der Zweig uns unterstützt.“
In der E-Mail an die Villavicencios erklärte Joshua nun, dass er für die Zeitschriften der Kirche gerade ein kurzes Video zusammenstelle. Das Video war Teil einer neuen Online-Reihe für PV-Kinder. Unter dem Motto „One in a Million“ wurden Kinder aus aller Welt vorgestellt, die aus ihrem Leben erzählten und Zeugnis gaben. In einem Video erzählte ein Junge aus der Ukraine, wie Präsident Thomas S. Monson ihn beim neuen Tempel in Kiew hatte Mörtel auf den Schlussstein auftragen lassen. In einem anderen berichtete ein Mädchen aus Jamaika, wie es sich bemüht, in der Schule ein gutes Beispiel zu geben.
Jedes Video war etwa anderthalb Minuten lang, und Joshua wollte wissen, ob Marco und Claudia es denn erlauben würden, dass auch ihr sechsjähriger Sair in so einem Video auftrete. Der Umzug weg von seinen Verwandten und seiner PV-Klasse war für Sair schwer gewesen. Doch im vergangenen Jahr waren immer mehr Kinder zur Kirche gekommen, und er konnte wieder die Primarvereinigung besuchen. Claudia fand, so ein Video sei eine gute Gelegenheit, ihm sein göttliches Wesen vor Augen zu führen.
Joshua schickte Sair Fragen zu seinen Hobbys, seinem Lieblingsessen und den Kirchenliedern, die er besonders gern sang. Und Claudia und Marco halfen ihrem Sohn, seine Antworten vorzubereiten. Sair konnte es kaum erwarten, mit Claudia die Aufnahme zu machen, und seine Mutter war von Herzen froh über die Zeit, die sie gemeinsam damit verbrachten.
Sie schickten die Audiodatei an Joshua; diese wurde mit einigen Fotos versehen, die Joshua bei seinem Besuch in El Coca gemacht hatte. Nachdem das Video eine Weile später online gestellt worden war, setzten sich die Villavicencios im Wohnzimmer vor den Computer und schauten es sich an. Sair war auf das Ergebnis natürlich besonders gespannt.
Eingangs sah man ein Bild von der Familie. Dann ertönte Sairs kindliche Stimme auf Spanisch: „Ich heiße Sair und komme aus Ecuador.“ Auf dem Bildschirm erschienen Bilder von El Coca, und Sair beschrieb die bunten Vögel und die Tiere dort und nannte auch seine Lieblingsspeisen und die Sportarten, die ihm besonders gefielen. Er sprach auch darüber, wie sie nach El Coca gezogen waren, bevor es dort überhaupt einen Zweig gegeben hatte. „Es gab noch keine Kirche, in die wir gehen konnten“, erzählte er. „Bald zogen noch mehr Familien hierher und noch mehr Leute haben sich taufen lassen.
Wir sind alle Missionare!“, meinte er. „Jetzt habe ich viele Freunde in der Primarvereinigung. Wir singen von Jesus und vom Vater im Himmel – so wie die anderen Kinder überall auf der Welt. Ich singe gern ‚Ich bin ein Kind von Gott‘.“
Als Claudia so neben ihrem Sohn saß, konnte sie es kaum glauben, dass nun in aller Welt gesehen werden konnte, wie glücklich ihre Familie durch das Evangelium war. Das Video führte ihr vor Augen, dass Gott über alle Orte, auch über El Coca, wachte und dass er durch Menschen wie sie, Marco, Sair und die übrigen Heiligen im Zweig wirkte.
Sie hoffte, das Video werde Sair vor Augen führen, dass er zu einer großen und wichtigen Organisation, der Primarvereinigung, gehörte – und dass er schon als Kind dem Herrn dienen konnte.
Ende Februar 2011 überbrachte Emma Hernandez persönlich ihrem Vater die Einladung zu ihrer Abschlussfeier. Sechs Jahre zuvor hatte er sich gegen ihre Heirat mit Hector David ausgesprochen, da er befürchtete, die Ehe werde ihrer Ausbildung im Weg stehen. Doch dank der finanziellen Unterstützung durch den Ständigen Ausbildungsfonds hatte Emma an einer angesehenen Universität in Honduras ihren Abschluss in Marketing gemacht.
Ihr Vater war erfreut, und auch sie war froh über seinen Sinneswandel, hatte er doch schon vor längerer Zeit seine Meinung, was ihre Ehe betraf, geändert. Vor der Hochzeit hatte Emma darum gebetet, sein Herz möge sich erweichen. Auch ihre Mutter hatte ihm zu beweisen versucht, wie gut Hector David doch zu ihrer Tochter passe. Erst vor kurzem hatten die unermüdliche Betreuung durch den Ältestenkollegiumspräsidenten und zugleich auch der innige Wunsch ihres Vaters, zu Christus zu kommen und mit ihm Bündnisse zu schließen, ihren Vater nach vielen Jahren der Abwesenheit wieder zur Kirche gebracht.
Emma war von Herzen froh darüber, dass ihr Vater zur Kirche zurückgekehrt war. Sie und ihre Mutter hatten jahrelang darum gebetet, sein Herz möge sich wandeln, sodass die Familie gemeinsam in das Haus des Herrn gehen könne. Diese Gebete gingen am Vormittag des 1. April 2010 in Erfüllung: Emma und der Großteil ihrer Familie kamen beim Guatemala-Stadt-Tempel zusammen, um für die Ewigkeit aneinander gesiegelt zu werden. Der Himmel war wolkenlos, und frisch gepflanzte Blumen schmückten die Gartenanlage des Tempels, als Emma mit ihrem Vater, ihrer Mutter und ihrer Schwester den Tempel betrat.
Schließlich ging Emma in den Siegelungsraum hinein, wo sie ihre Eltern bereits am Altar knien sah. Sie verspürte den Heiligen Geist. Alle waren von Frieden und Liebe erfüllt, hielten einander an den Händen und blickten einander in die Augen. Nach der Zeremonie umarmten sie einander im celestialen Saal und weinten vor Freude. Emmas Vater war kein gefühlsbetonter Mensch, doch seine feste Umarmung ließ erahnen, wie gerührt er war.
Ein Jahr nach der Siegelung hatten sie und Hector David nun beide ihre Ziele in puncto Ausbildung erreicht – und gleichzeitig eine Familie gegründet und in der Kirche gedient. Emma hatte ihre Leidenschaft für Marketing entdeckt und besaß nun das Rüstzeug für diesen Beruf. Und dank Hector Davids Abschluss in Finanzwesen sahen sich die beiden nun in der Lage, ihre Familie finanziell auf bessere Beine zu stellen. Vor allem aber war Emma während des Studiums gereift und hatte gelernt, wie man Herausforderungen überwindet und sich auf den Herrn stützt.
Anfangs war sie von ihrem Studium ja ein wenig überfordert gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie gemeint, ihre Familie habe nicht das Geld für ihr Studium. Durch den Ständigen Ausbildungsfonds waren jedoch auch diese Bedenken aus dem Weg geräumt worden, und die Unterstützung durch ihre Familie schenkte ihr die Kraft, an ihren Träumen festzuhalten und sie weiterzuverfolgen. Ihre Dankbarkeit dem Herrn gegenüber wuchs, und sie und Hector David sahen in ihrem Dienst in der Kirche eine Gelegenheit, dem Erretter ihre Dankbarkeit und Liebe zu bekunden. Nun freute sich Emma schon darauf, ihre Kenntnisse in die Tat umzusetzen und dem Ständigen Ausbildungsfonds ihr Darlehen zurückzuzahlen. Und sie ging davon aus, in Zukunft noch weit mehr erreichen zu können.
Am 4. März 2011 bekam Emma ihr Diplom. Wiederum war ihre Familie zusammengekommen – diesmal zur Abschlussfeier in der Sporthalle der Universität. Emma und ihre Kommilitonen waren schon früh dort, um die Zeremonie zu proben, bekleidet mit schwarzer Robe samt passender Kopfbedeckung. Als ihre Familie eintraf, freute sich Emma, nicht nur Hector David und Oscar David umarmen zu können, sondern auch ihre Mutter, ihren Vater und weitere Verwandte.
Der gesamte Lehrkörper stand Spalier, und sie schritt von einem zum anderen, schüttelte jedem die Hand und bekam schließlich ihr Diplom überreicht. Im Herzen dankte Emma dem Herrn für seine Segnungen. Ihr Vater war der Erste, der sie nach den Feierlichkeiten innig umarmte. „Glückwunsch, meine Tochter“, sagte er und sah dabei aus, als sei ihm eine Last von den Schultern genommen. Emma freute sich, dass er mit sich so im Reinen war.
Dann umarmte und küsste sie ihren Mann Hector David, dankbar für seine Unterstützung bei ihrem Studium.
„Vielen Dank“, flüsterte sie, als sie einander umarmten. „Ohne dich hätte ich das nicht geschafft.“
Am Morgen des 2. April 2011 stand Präsident Thomas S. Monson am Rednerpult des Konferenzzentrums und blickte auf die tausenden Heiligen, die sich zur Frühjahrs-Generalkonferenz versammelt hatten. „Als dieses Gebäude geplant wurde, dachten wir, dass wir es niemals füllen könnten“, meinte er gutgelaunt. „Doch lassen Sie jetzt einmal den Blick umherschweifen!“
Es war sein drittes Jahr als Präsident der Kirche, und die Berufung verlangte ihm zeitlich mehr ab, als man sich gemeinhin vorstellen konnte. Er war den Heiligen in aller Welt, die nun mehr als vierzehn Millionen zählten, zutiefst dankbar. „Ich danke Ihnen für Ihren Glauben und Ihre Hingabe ans Evangelium, für die Liebe und die Anteilnahme, die sie einander erweisen, und für den Dienst, den Sie in Ihren Gemeinden und Zweigen und Pfählen und Distrikten leisten“, meinte er.
Es war spannend, zu jener Zeit der Kirche anzugehören. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte sich Präsident David O. McKay über den guten Ruf gefreut, den die Kirche vor allem in den Vereinigten Staaten genoss. Doch damals war die Kirche noch relativ unbekannt gewesen. Das war nun nicht mehr der Fall. Jahrzehntelange Missionsarbeit rund um den Globus, zielführende Initiativen in der Öffentlichkeitsarbeit, große und kleine humanitäre Hilfsprojekte und die unauffälligen, alltäglichen guten Taten einzelner Mitglieder hatten dazu beigetragen, dass die Kirche in vielen Weltgegenden keine Unbekannte mehr war.
In letzter Zeit war die Kirche abermals in den Mittelpunkt des Medieninteresses gerückt. Während der Olympischen Winterspiele 2002 entpuppte sich die Berichterstattung über die Kirche als bloßer Auftakt zu jener wahrhaftigen Flut an Medienpräsenz, die einsetzte, als Mitt Romney, Vorsitzender des Organisationskomitees der Olympischen Spiele 2002 und zugleich bekannter Politiker und Mitglied der Kirche, seine Kandidatur für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten bekanntgab. Obwohl er von seiner Partei 2008 nicht aufgestellt worden war, wurde damit gerechnet, dass er 2012 erneut kandidieren werde.
Das öffentliche Interesse an der Kirche war daher nach wie vor groß. Häufig standen Mitglieder im Rampenlicht, die in gesetzgebenden Versammlungen mitwirkten oder größeren Wirtschaftsunternehmen vorstanden. Einige traten in Reality-TV-Shows auf oder taten sich als Profisportler hervor. Andere erlangten Berühmtheit als Rockstar oder Virtuose klassischer Musik. Wiederum andere schrieben Bestseller-Romane, von denen einige verfilmt wurden und zu einem Kassenschlager wurden.
Das wachsende Interesse an der Kirche und ihren Mitgliedern bedeutete jedoch nicht zwangsläufig, dass nun jeder freudig das wiederhergestellte Evangelium annehmen wollte. Viele Menschen verkannten die Kirche oder waren mit ihren Lehren keineswegs einverstanden. Präsident Monson und weitere Führer der Kirche befürchteten zudem, die Gesellschaft stehe vor der Abkehr von ihren althergebrachten christlichen Idealen und auch den Lehren und Gepflogenheiten in der Kirche. Nirgends schien diese Trendumkehr offensichtlicher zu sein als bei den Ansichten zur Ehe.
In den vergangenen Jahren hatten sich Fürsprecher von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, transgender und queeren Personen (LGBTQ) für das Recht auf eine gleichgeschlechtliche Ehe eingesetzt. Die Kirche und weitere religiöse Institutionen sprachen sich allerdings dagegen aus und bekräftigten ihre Ansicht, die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau sei von Gott verordnet.
Im November 2008 wurden die Diskussionen besonders laut, als die Bürger Kaliforniens über einen Zusatzartikel zur Verfassung abstimmen sollten, der die Ehe von Rechts wegen als Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau definierte. So wie andere religiöse Gruppierungen unterstützte die Kirche das Gesetzesvorhaben finanziell. Die führenden Amsträger in Salt Lake City legten den Mitgliedern in Kalifornien ans Herz, den Zusatzartikel aktiv zu unterstützen und sich dafür einzusetzen.
Das Gesetzesvorhaben wurde zwar mit knapper Mehrheit angenommen, doch die Kirche wurde wegen ihrer Rolle beim Zustandekommen heftig kritisiert, und Aktivisten demonstrierten sogar vor einigen Tempeln.
Präsident Monson und weitere führende Amtsträger der Kirche waren jedoch entschlossen, die Lehre von der Ehe und die Maßstäbe der Kirche weiterhin hochzuhalten. Sie sprachen sich dafür aus, dass man auf Basis der geltenden Religionsfreiheit für sich auch die Freiheit in Anspruch nehmen dürfe, die Ehe als heilige Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau anzusehen und dies auch öffentlich zu vermitteln. Sie versuchten auch den Brückenschlag zu weiteren Institutionen wie etwa der römisch-katholischen Kirche, die ja dieselbe Glaubensansicht vertrat.
Immer mehr ging die Kirche jedoch auch daran, sich um eine gemeinsame Basis mit der LGBTQ+-Community zu bemühen. Die Diskussionen über die Ehe und die Rechte von Homosexuellen hielten allerdings an, und die Führer der Kirche legten den Mitgliedern ans Herz, bei Meinungsverschiedenheiten liebevoll und respektvoll zu reagieren und sich klar gegen das Mobbing von LGBTQ+-Personen auszusprechen. Im November 2009 schloss sich die Kirche der Meinung der gesetzgebenden Versammlung in Salt Lake City an und trat für das Recht auf faire Wohnungsvergabe an alle ein – unabhängig von deren sexueller Orientierung. Die Führer der Kirche waren auch bemüht, bessere Unterlagen zur Verfügung zu stellen und sich für mehr Einfühlungsvermögen jenen Mitgliedern der Kirche gegenüber auszusprechen, die sich als LGBTQ definierten und die bei den Debatten oftmals zwischen zwei Fronten standen. Zu dem Material, das entwickelt wurde, gehörte etwa auch eine neue Website der Kirche mit Artikeln und Videos über Mitglieder und Angehörige, die von ihren Erfahrungen berichteten und Zeugnis gaben.
In einem Video wurde etwa die Geschichte von Suzanne Bowser erzählt, einer Heiligen der Letzten Tage, die sich über Jahre hinweg allmählich mit ihrer Neigung zu Frauen aussöhnen musste. Sie ging zwar weiterhin in die Kirche, doch bisweilen fühlte sie sich innerlich völlig zerrissen. Mit der Zeit und mit Hilfe von Freunden und Angehörigen, die sie auf ihrem Weg begleiteten, fand sie zu einem gewissen Maß an innerem Frieden. „Das ist ein Teil von mir und wird immer ein Teil von mir sein, und ich bin okay so, wie ich bin“, stellte sie fest. „Ich kann trotzdem glücklich sein. Der Erretter kann immer noch Teil meines Lebens sein.“ Seine göttliche Liebe füllte die innere Leere aus, die sie mitunter empfand.
Es gab auch Führer der Kirche, die wirklich bereit waren, ihr zuzuhören, und das machte viel aus. „Ich hatte Priestertumsführer“, meinte sie, „die wollten das alles unbedingt besser verstehen lernen.“
Mit seinen abschließenden Worten bei der Generalkonferenz im April 2011 forderte Präsident Monson die Heiligen eindringlich auf, ihr Licht leuchten zu lassen, wie der Erretter es gewollt hatte. „Mögen wir in unserem Heimatland ein guter Staatsbürger und an unserem Wohnort ein guter Nachbar sein, der auf Andersgläubige ebenso zugeht wie auf seine Glaubensbrüder“, betonte er. „Mögen wir, wo auch immer wir uns aufhalten und was auch immer wir tun, beispielhaft Ehrlichkeit und Redlichkeit verkörpern.“
Er und die anderen Führer der Kirche verstanden und betonten, wie wichtig es ist, Christus in Wort und Tat nachzufolgen. Nicht zuletzt hatte das jüngste Medieninteresse gezeigt, dass zwar viele Menschen durchaus von der Kirche gehört hatten, dass jedoch die Wahrnehmung dieser Religion und ihrer Kernbotschaften ganz unterschiedlich ausfiel. Für viele war die Kirche immer noch ein Rätsel.
Den führenden Amtsträgern der Kirche war klar, dass sich dies ändern musste. Es sollte niemals irgendein Zweifel daran herrschen, dass die Heiligen der Letzten Tage tatsächlich Jesus Christus nachfolgten.
Am 17. August 2011 flogen Silvia und Jeff Allred nach San Salvador in El Salvador, wo Silvia ja geboren worden und aufgewachsen war und wo in vier Tagen ein Haus des Herrn geweiht werden sollte. Der Tempel war kurz nach ihrer Berufung in die Präsidentschaft der Frauenhilfsvereinigung der Kirche angekündigt worden, und ihre neuen Aufgaben hatten sie daran gehindert, beim ersten Spatenstich zugegen zu sein. Doch nun hatte sie auf Einladung der Ersten Präsidentschaft die schöne Gelegenheit, bei der Weihung zu sprechen. Jeff und sie freuten sich schon sehr.
Silvia war seit vier Jahren in der FHV-Präsidentschaft der Kirche tätig. In dieser Zeit hatten die Grundsätze Glaube, Familie und Helfen alle Bemühungen der Organisation geleitet. Die Präsidentschaft reiste viel und schulte anhand des überarbeiteten Handbuchs Allgemeine Anweisungen der Kirche die Führerinnen der Frauenhilfsvereinigung vor Ort darin, wie man Offenbarung empfängt, in den Ratsgremien der Kirche mitwirkt, sich der Bedürftigen annimmt oder sonstige Aufgaben erfüllt. Silvia selbst hatte in zwanzig Ländern auf insgesamt fünf Kontinenten die Schwestern der Frauenhilfsvereinigung besucht.
Gemeinsam mit den Mitgliedern des FHV-Ausschusses erstellte die Präsidentschaft außerdem Videos, anhand derer neu berufene Führungsverantwortliche in aller Welt umgehend geschult werden konnten. Die Videos waren auf der Internetseite der Frauenhilfsvereinigung abrufbar und wurden in die „Schulungsbibliothek für Führungsbeamte“ aufgenommen, eine neue Sammlung von online verfügbaren Schulungsunterlagen auf der Website der Kirche.
Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt der Arbeit der FHV-Präsidentschaft war die Stärkung der Besuchslehrarbeit. Jahrelang hatte in den Zeitschriften der Kirche jeweils einfach eine Besuchslehrbotschaft gestanden. Nun gab es zusätzliche Tipps und Unterlagen, wodurch die Botschaft besser vermittelt werden konnte. In Silvias Zuständigkeit fiel auch, mit den Mitgliedern des Hauptausschusses Möglichkeiten zu erarbeiten, wie der Übergang von den Jungen Damen zur Frauenhilfsvereinigung reibungsloser vonstatten gehen konnte. Auf ihren Reisen sprach Silvia oft mit den Führerinnen der Frauenhilfsvereinigung und der Jungen Damen vor Ort darüber, wie man die Kluft zwischen den beiden Organisationen überbrücken und zu mehr Austausch ermuntern könne. Sie forderte die Schwestern in der Frauenhilfsvereinigung auch auf, sich ihrer neuen Mitglieder anzunehmen und Möglichkeiten zu finden, die Jungen Damen auf deren Weg zu begleiten.
Inspiriert durch den Geschichtsbericht, der den Schwestern von Präsident Boyd K. Packer übergeben worden war, bereitete die Frauenhilfsvereinigung auf Weisung der Ersten Präsidentschaft die Veröffentlichung eines Buches mit dem Titel Die Töchter in meinem Reich – Die Geschichte und das Werk der Frauenhilfsvereinigung vor. Das Buch war durchgehend illustriert und in einfachem Stil geschrieben – geeignet für Leserinnen unterschiedlicher Lesefertigkeit. Es sollte zudem in dreiundzwanzig Sprachen übersetzt und an die Frauen in der Kirche verteilt werden. Die Präsidentschaft hoffte, es werde dazu beitragen, dass die Schwestern aus der Vergangenheit lernen, ihr geistiges Erbe als Jüngerinnen Christi besser begreifen und die gottgegebene Mission der Frauenhilfsvereinigung gern annehmen.
Am Tag vor der Weihung des San-Salvador-Tempels besichtigten Silvia und Jeff das Gebäude und bestaunten die kunstvollen Details – die wundervollen Holzschnitzereien und die hübschen Elemente aus Glas und Messing, in welche die Yucca-Blume, die Nationalblume El Salvadors, eingeätzt war. Gleich beim Eingang, hinter dem Tempelscheinpult, erblickte Silvia ein Originalgemälde, das den Erretter zeigte. Er hatte die Arme um zwei Kinder gelegt, die etwa acht oder neun Jahre alt waren und aussahen, als kämen sie aus Mittelamerika. Der Hintergrund war üppig grün, wie die Vegetation in ganz El Salvador. Silvia war von der Liebe, die der Erretter für alle seine Kinder empfindet, zu Tränen gerührt.
Bei der Weihung am nächsten Tag musste Silvia unweigerlich an die Vergangenheit denken. Sie war eines der ersten Mitglieder der Kirche in El Salvador gewesen, und obgleich ihre Reisen sie um die ganze Welt geführt hatten, war es doch eindrucksvoll zu sehen, wie die Kirche auch in ihrem Heimatland aufblühte.
Sie saß im celestialen Saal und blickte auf die Mitglieder, die dort Platz genommen hatten. Viele von ihnen waren schon älter und hatten sich, wie sie ja auch, taufen lassen, als die Kirche in El Salvador noch in den Kinderschuhen steckte. Sie waren ihren Bündnissen treu geblieben – oftmals inmitten von Armut und Widrigkeiten. Einige von ihnen sollten Verordnungsarbeiter werden, wenn der Tempel dann seine Pforten öffnete. Ihr war klar, dass sie schon jahrelang um diesen Tempel gebetet hatten.
Als sich Silvia 1959 als Jugendliche der Kirche angeschlossen hatte, hatte sich der nächste Tempel in Mesa in Arizona befunden. Das war damals vier Tagesreisen weit entfernt gewesen. Jetzt gab es in El Salvador hunderttausend Heilige. Die Kirche war dort gewachsen, wie es sich Silvia in ihrer Jugend nie hätte vorstellen können.
Als Silvia mit ihrer Ansprache an der Reihe war, erhob sie sich und trat ans Pult. Sie sprach zwar fließend Englisch, doch Spanisch war weiterhin ihre Sprache – die Sprache, in der sie dachte, betete und nach dem Heiligen Geist strebte. Bei dieser Weihung sollte sie nun in ihrer Muttersprache sprechen, was es für sie leichter machte, ihre innigsten Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Sie sprach nicht nur zu denen, die im Haus des Herrn zusammengekommen waren, sondern auch zu den tausenden Heiligen im Tempeldistrikt, die die Übertragung der Weihung in ihrem jeweiligen Gemeindehaus verfolgten.
„Mein Herz ist heute voll Freude und Dankbarkeit“, begann sie. „Ich bezeuge Ihnen, dass die Segnungen, die uns im Tempel verheißen werden, echt und unermesslich sind. Der Tempel ist das Haus des Herrn. Er selbst hat es geheiligt. Seine Augen und sein Herz werden allezeit hier weilen.“
Sechs Wochen später erwachte am 2. Oktober 2011 im Gemeindehaus von Luputa in der Demokratischen Republik Kongo ein benzinbetriebener Generator ratternd zum Leben. Etwa zweihundert Heilige, unter ihnen auch Willy und Lilly Binene, suchten sich einen Sitzplatz vor dem Fernseher in der Kapelle. In wenigen Augenblicken sollte die Übertragung der Sonntagabendversammlung der 181. Herbst-Generalkonferenz der Kirche beginnen, übersetzt ins Französische, also in eine der einundfünfzig Sprachen, in denen die Konferenz den Heiligen in aller Welt nun zur Verfügung stand. Es war die erste Generalkonferenz, die sich die Heiligen in Luputa als Mitglieder eines Zionspfahles ansehen konnten.
Drei Monate zuvor war der Pfahl Luputa gegründet worden – das war für niemanden, der das rasante Wachstum der Kirche in der Stadt miterlebt hatte, eine Überraschung. 2008, nämlich in dem Jahr, als Familie Binene im Tempel gesiegelt wurde, lebten mehr als zwölfhundert Heilige in Luputa. Damals gab es dort keine Vollzeitmissionare. Dennoch hatten Willy und weitere Führer der Kirche in den darauffolgenden drei Jahren gemeinsam mit treuen Zweigmissionaren dazu beigetragen, dass sich die Zahl der Heiligen im Distrikt mehr als verdoppelte. Zweifellos hatte auch die tatkräftige Hilfe der Kirche bei der Trinkwasserversorgung für die Stadt ihren Anteil daran. Aus dem Distrikt waren sogar vierunddreißig Vollzeitmissionare in andere Gegenden der Demokratischen Republik Kongo, andere afrikanische Länder oder weitere Regionen der Welt entsandt worden.
Nichtsdestotrotz hatte es Willy überrascht, als Elder Paul E. Koelliker und Elder Alfred Kyungu von den Siebzigern ihn als Präsidenten des neuen Pfahles berufen hatten. In Luputa gab es doch auch andere erfahrene Priestertumsführer, von denen jeder für das Amt des Pfahlpräsidenten geeignet gewesen wäre. Wäre es denn nicht an der Zeit, dass nun ein anderer die Zügel in die Hand nähme?
Der Pfahl wurde am 26. Juni gegründet, und Willy war an diesem Tag Elder Koelliker und Elder Kyungu behilflich, die soeben fünfzehn jungen Frauen und Männern im Pfahl ihre Berufung als Vollzeitmissionar zukommen ließen. Anschließend posierte Willy lächelnd für ein Foto mit der Gruppe. Zwei Jahrzehnte war es jetzt schon her, seit ihn ethnische Unruhen und Blutvergießen aus seiner Heimat vertrieben und ihn der Möglichkeit beraubt hatten, selbst eine Vollzeitmission für den Herrn zu erfüllen. Doch sein jahrelanger engagierter Dienst in der Kirche in Luputa hatte dazu beigetragen, dass sich nun der heranwachsenden Generation Gelegenheiten eröffneten, die ihm selbst verwehrt geblieben waren.
Zu Beginn der Konferenzübertragung lehnte sich Willy entspannt zurück und hörte den Rednern zu. Eigentlich wäre Präsident Monson ja bei der Eröffnungsversammlung der erste Redner gewesen, doch wegen eines gesundheitlichen Problems hatte er erst später ins Konferenzzentrum kommen können. Nach dem Zwischenlied trat er jedoch ans Rednerpult und begrüßte die Anwesenden mit einem fröhlichen „Hallo“.
„Wenn man viel zu tun hat, scheint die Zeit viel zu schnell zu verfliegen“, sagte er, „und die vergangenen sechs Monate waren da für mich keine Ausnahme.“
Präsident Monson sprach über die Weihung des Tempels in El Salvador sowie über die erneute Weihung des Tempels in Atlanta im Süden der Vereinigten Staaten. „Der Bau von Tempeln wird ununterbrochen fortgesetzt, Brüder und Schwestern“, bestätigte er. „Ich freue mich, heute mehrere neue Tempel ankündigen zu können.“
Willy lauschte aufmerksam. In letzter Zeit war der Tempel unter den Führern der Kirche in Luputa ein Thema gewesen, das ihnen nicht aus dem Kopf ging. Gleich bei der ersten Pfahlkonferenz in der Stadt hatten sich viele Ansprachen darum gedreht, wie man die Heiligen auf das Haus des Herrn vorbereiten könne. Außer den Binenes hatten nur ganz wenige Mitglieder aus Luputa den Tempel in Johannesburg besuchen können. Reisepässe waren in der Demokratischen Republik Kongo ziemlich einfach zu bekommen, ein Reisevisum nach Südafrika hingegen nicht. Das bedeutete, dass viele Mitglieder aus der Demokratischen Republik Kongo sozusagen in der Warteschleife hingen und befürchten mussten, ihr Pass werde ablaufen, bevor sie überhaupt das Visum erhalten und in den Tempel gehen konnten.
Der erste Tempel, den Präsident Monson ankündigte, war der zweite für Provo in Utah. Vor kurzem war das historische Tabernakel der Stadt durch unglückliche Umstände in Brand geraten. Bis auf die Außenmauern war fast alles ein Raub der Flammen geworden. Jetzt wollte die Kirche das Tabernakel wieder aufbauen und zu einem Haus des Herrn umfunktionieren.
„Ich freue mich, auch an den folgenden Standorten neue Tempel ankündigen zu dürfen“, fuhr Präsident Monson fort. „Barranquilla in Kolumbien, Durban in Südafrika, Kinshasa in der Demokratischen Republik Kongo und …“
Bei der Namensnennung „Kinshasa“ sprangen Willy und alle anderen im Raum wie elektrisiert auf und jubelten. Die Nachricht kam für sie völlig überraschend. Schon bald mussten sich die dortigen Heiligen also keine Sorgen mehr wegen des Visums oder eines ablaufenden Reisepasses machen. Die schlichte Ankündigung des Propheten hatte alles verändert.
Es hatte weder Gerüchte noch Andeutungen gegeben, dass die Kirche in der Demokratischen Republik Kongo einen Tempel bauen wolle. Es hatte nur ihre Hoffnung gegeben – die Hoffnung nämlich, dass der Herr in ihrem Land eines Tages doch sein Haus errichten werde.