Kommt, hört auf den Propheten
Liebet einander
Ich bin mit einer Familie bekannt, die von Deutschland nach Amerika eingewandert ist. Die englische Sprache fiel ihnen sehr schwer. Sie besaßen nur wenig, doch jeder von ihnen war mit Arbeitseifer und Liebe zu Gott gesegnet.
Ihr drittes Kind kam zur Welt, starb aber schon nach zwei Monaten. Der Vater war Schreiner und fertigte für den Leichnam seines geliebten Kindes einen schönen Sarg an. Der Tag der Beerdigung war düster und spiegelte damit die Traurigkeit wider, die die Familie aufgrund des Verlustes empfand. Als sie zur Kapelle gingen und der Vater den kleinen Sarg vorantrug, hatte sich schon eine kleine Anzahl von Freunden eingefunden. Doch die Tür zur Kapelle war verschlossen. Der vielbeschäftigte Bischof hatte die Beerdigung vergessen. Alle Versuche, ihn zu erreichen, schlugen fehl. Der Vater wusste nicht, was er tun sollte, nahm den Sarg unter den Arm und ging im strömenden Regen mit seiner Familie nach Hause.
Wäre die Familie von schwächerem Charakter gewesen, hätte sie dem Bischof Vorwürfe machen und ihm grollen können. Als der Bischof merkte, was da passiert war, besuchte er die Familie und bat um Verzeihung. Man konnte dem Vater seinen Schmerz noch ansehen, doch mit Tränen in den Augen nahm er die Entschuldigung an, und die beiden umarmten einander voller Verständnis. Es blieb kein verborgener Keil zurück, der böse Gefühle verursacht hätte, sondern es herrschten Liebe und Akzeptanz. …
In vielen Familien sind Gefühle verletzt worden und man ist nicht bereit zu vergeben. Es kommt wirklich nicht darauf an, was die Ursache war. Doch sie kann und soll nicht bestehen bleiben, um keinen weiteren Schaden anzurichten. Vorwürfe halten die Wunden offen. Nur Vergebung heilt sie. George Herbert, ein Dichter, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts lebte, schrieb: „Wer anderen nicht vergeben kann, zerstört die Brücke, über die er selbst gehen muss, wenn er zum Himmel gelangen will, denn jeder braucht Vergebung.“ …
Mögen wir … keinen Groll hegen, sondern dem Wort des Erretters folgen: „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.”1
Nach einer Ansprache anlässlich der Generalkonferenz im April 2002.