2004
Wie man Kindern Toleranz beibringt
Juni 2004


Wie man Kindern Toleranz beibringt

Jeden Tag hielt der vierjährige Brandon Ausschau nach Jonathan, einem autistischen Mitschüler. Er half Jonathan, sich für die Pause anzustellen. Im Klassenzimmer suchte er oft Jonathans Buntstifte und Papier für ihn zusammen. Eines Tages berichtete Brandons Lehrerin seiner Mutter von seiner ungewöhnlichen Fürsorge. Etwas später erzählte ihm die Mutter, was die Lehrerin ihr gesagt hatte, und fragte ihn, warum er denn so freundlich zu dem Jungen sei. Brandon sah seine Mutter ganz ungläubig an, weil die Antwort auf ihre Frage doch wohl auf der Hand lag: „Na, Mutti, Jonathan ist doch mein Freund, und wenn ich ihm nicht helfen würde, käme er nicht zurecht.“ Für Brandon war Jonathan nicht ein Kind, das anders war, sondern ein Freund.

Kleine Kinder sind von Natur aus sanftmütig, demütig und voll von Liebe (siehe Mosia 3:19). Wenn sie dann aber älter werden, bemerken sie Unterschiede zwischen den Menschen. Sie treffen immer häufiger auf Menschen, die nicht zur Familie gehören, und sie stoßen auf Menschen, die eine andere Sprache sprechen, eine andere Hautfarbe oder Religion haben, körperlich oder geistig behindert sind oder eine andere Stellung in der Gesellschaft haben. Als Eltern wollen wir unseren Kindern helfen, christliche Eigenschaften wie Sanftmut, Demut und Mitgefühl zu bewahren. Wir wollen, dass sie jedermann ein liebevolles Herz entgegenbringen. Wie können wir ihnen dabei helfen?

Er hat allen seine Liebe erwiesen

Am besten können wir unseren Kindern beibringen, Menschen zu akzeptieren, die anders sind als sie, indem wir ihnen unter anderem erklären, dass Jesus möchte, dass wir zu allen Menschen freundlich sind. Die fünfjährige Jodi und ihre Familie haben bei einem besonderen Familienabend in einem Pflegeheim für die Menschen dort gesungen. Jodi war nervös, als sie das Pflegeheim betrat und dann neben einem Mädchen saß, das auf dem Kopf einen Helm trug, um den Hals ein Handtuch gewickelt hatte und in einem Rollstuhl saß. Das Mädchen konnte nur eine Hälfte seines Körpers bewegen. Es konnte nicht sprechen, gab aber vergnügte Laute von sich, als es Jodis Familie musizieren hörte.

An dem Abend meinte Jodis Mutter: „Es war schön, dass wir dort singen konnten, aber ich glaube, wir hätten uns noch die Zeit nehmen und jeden Einzelnen in die Arme nehmen sollen. Ein paar von ihnen haben niemanden, der sie in den Arm nimmt.“ Jodi räumte ein: „Ich glaube nicht, dass ich das Mädchen neben mir hätte umarmen können.“ Jodis Mutter holte ihre Tochter ans Klavier und spielte und sang:

Kannst du nicht wie die anderen gehn, …

treibt jemand seinen Spott mit dir;

doch ich nicht, ich nicht!

Ich geh mit dir, ich red mit dir;

so zeig ich meine Liebe dir.

Jesus half, wo Not er sah,

war liebevoll für alle da.

Auch ich tu’s, ich tu’s!1

Die Worte „war liebevoll für alle da“ regten Jodi zum Nachdenken an. Später erzählte sie ihrer Mutter, dass sie geträumt hatte, sie habe das Mädchen im Rollstuhl in die Arme genommen, und sie hoffe, dass die Familie noch einmal in das Pflegeheim gehen könne. Die liebevolle Unterweisung einer Mutter mit Hilfe eines PV-Liedes weckte in einem kleinen Mädchen Verständnis.

Die Bedeutung der Worte Einfühlungsvermögen und Mitgefühl ist offensichtlich. Einfühlungsvermögen bedeutet, dass man etwas aus der Sicht des anderen sieht, sich in den Betreffenden hineinversetzt und versteht, weshalb er so empfindet oder handelt. Wenn man Mitgefühl hat, möchte man jemandem helfen, sich wieder besser zu fühlen, weil man merkt, wenn dieser Mensch leidet.

Wenn wir unseren Kindern beibringen wollen, wie sie andere Menschen behandeln sollen, gibt es kaum ein besseres Beispiel als das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. „Dann kam ein Mann aus Samarien … Als er [den Verwundeten] sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin … und sorgte für ihn. … Geh und handle genauso!“ (Lukas 10:33,34,37.)

Heranwachsende Kinder brauchen Anleitung

Wenn die Kinder größer werden und mehr Unterschiede bei den Menschen in ihrem Umfeld wahrnehmen, können wir ihnen Fragen stellen und sie damit zum Nachdenken anregen: Wer ist unser Nächster? Glaubst du, Jesus will, dass wir nur die Menschen lieb haben, die in unserer Nähe sind? Wie können wir Jesu Lehren befolgen und anderen Menschen Liebe entgegenbringen? Wie sollen wir uns verhalten, wenn jemand unsere Hilfe benötigt? Wie sollen wir jemanden behandeln, der anders ist als wir?

Die Einstellung der Eltern ist wie ein Modell, das sie ihren Kindern von klein auf vor Augen halten. Eine Einstellung wird, so wie eine Sprache, gelernt und nicht vererbt. Es ist äußerst wichtig, dass bereits ein sehr kleines Kind die richtige Einstellung vermittelt bekommt. Lernt ein Kind eine Fremdsprache erst, wenn es schon älter als acht Jahre alt ist, bleibt oft ein Akzent haften. Fehler bei der Einstellung können auch bei größeren Kindern noch behoben werden, aber je älter sie sind, desto mehr Anstrengung erfordert es, den „Akzent“ zu beseitigen.2

Wenn einem Kind Unterschiede an jemandem auffallen und es uns darauf hinweist, können wir die Gelegenheit zur Unterweisung nutzen. Angenommen, Sie sind mit Ihrer Tochter im Supermarkt und sie sagt: „Der Mann da hat nur ein Bein!“ Sagen Sie nicht, sie soll den Mund halten und den Mann nicht anstarren. Bestätigen Sie stattdessen, was sie beobachtet hat, und gehen Sie ein wenig darauf ein. „Ja, das stimmt. Er braucht einen Rollstuhl, um vom Fleck zu kommen. Es ist bestimmt ganz schön schwierig für ihn, wenn er viel einkaufen muss.“ Sie können derartige Situationen nutzen, um Ihrem Kind etwas über Respekt und Mitgefühl beizubringen. Ein Kind muss lernen, dass Menschen mit Behinderungen zwar so sind wie wir (sie gehen auch einkaufen), aber auch mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben (im Rollstuhl sitzen).

Ein Kind hat vielleicht Angst davor, einem Behinderten zu helfen, oder traut sich nicht so recht. Wir müssen uns die Bedenken unserer Kinder genau anhören und ihnen dann die Angst nehmen. Ein Kind kann einen Menschen, der anders ist, akzeptieren, wenn die Eltern ihm beibringen, dass Menschen äußerlich zwar anders aussehen, innerlich jedoch mehr oder weniger gleich sind. Erklären Sie Ihren Kindern, dass ein Mensch mit Behinderungen auch nur ein Mensch ist. Mit einem nicht Behinderten verbindet ihn mehr, als ihn trennt.

Man lehrt durch sein Beispiel

Wenn wir wollen, dass unsere Kinder christliche Eigenschaften wie Toleranz und Mitgefühl entwickeln, spielt unser Beispiel eine ganz entscheidende Rolle. Was man vorlebt, prägt sich leichter ein, als was man zeigt.

Erfährt ein Kind Freundlichkeit und Mitgefühl, weiß es, wie es sich dabei fühlt. Dann kann es auch anfangen, andere so zu behandeln. Wenn Sie etwas aus der Sicht Ihres Kindes sehen, wird es angeregt, auch etwas aus der Sicht eines anderen zu sehen.

Eine Frau fragte sich, wie ihre Freundin, die im Ausland lebte, ihren Kindern geholfen hat, sich so gut an die dortigen Lebensumstände anzupassen. Sie berichtete, dass sie und ihr Mann sich bemüht hatten, den Kindern Toleranz und Achtung vor Menschen, die anders sind, beizubringen, indem sie Kinder aus der Nachbarschaft zum Spielen zu sich nach Hause einluden. Aber ihre Kinder werteten die anderen noch immer ab und mäkelten an ihnen herum. „Was können wir denn noch tun, um unseren Kindern Toleranz beizubringen?“, fragte sie ihre Freundin. Die Freundin erwiderte, sie und ihr Mann hätten nicht nur die Kinder zu sich eingeladen, sondern auch deren Eltern.

Wir können unsere Kinder dazu anhalten, mit vielen verschiedenen Kindern zu spielen und hoffen, dass sie dadurch einen großen Freundeskreis aufbauen. Aber wenn wir selbst uns nur mit Leuten anfreunden, die uns ähnlich sind, stoßen all unsere Anregungen und Unterweisungen auf taube Ohren. Die Kinder hören zwar, was gesagt wird, wissen aber nicht so recht, was sie damit anfangen sollen.

Unsere Tochter Emily geht oft mit ihrer einjährigen Tochter Ella in den Park spielen. Wenn sie an den sechs Häuserblocks entlanggeht, lächelt Ella und sagt den Leuten auf der Straße „Hallo!“ Gelingt es Ella, jemanden auf sich aufmerksam zu machen, fängt sie sofort an zu plappern. Ein ausländischer Akzent, die Hautfarbe oder ein Rollstuhl haben keinen Einfluss auf Ellas freundliches Lächeln. Ihr Lächeln ist genauso spontan wie das ihrer Mutter.

Der Blick ins Herz

Vor ein paar Jahren machte unsere Familie einen Ausflug aufs Land, nachdem wir eine Woche lang wegen starker Regenfälle das Haus nicht verlassen konnten. Wir fuhren an den Straßenrand und wollten die Kirschblüten genauer betrachten. Da merkten wir, wie die Autoreifen in den Schlamm sanken. Wir versuchten, wieder auf die Straße zu gelangen, aber bei unseren Anstrengungen sanken wir nur noch tiefer in den treibsandartigen Matsch. Die Radkappen waren schon nicht mehr zu sehen. Wir saßen hoffnungslos fest und hatten auch schon eine Weile kein anderes Auto mehr gesehen.

Auf einmal kam ein großer Geländewagen, der schon fast auseinander fiel, mit sechs grölenden Teenagern. Er hielt hinter uns an. Als sie aus dem Wagen stiegen, fiel uns auf, dass sie tätowiert waren, Kautabak kauten und wilde Frisuren hatten. Mein Mann fürchtete um unsere Sicherheit und sagte, wir sollten ins Auto einsteigen und die Türen verriegeln. Die jungen Männer fragten meinen Mann, ob wir Hilfe bräuchten. Mein Mann sagte nein, wir würden das schon in den Griff bekommen.

Diese Jungen machten einen noch bedenklicheren Eindruck als unser Auto, das bis zu den Achsen im Schlamm versunken war. Die Jungen sahen die fünf kleinen Kinder und die Frau im Auto, die mein Mann offenbar mit „wir“ gemeint hatte. Sie schlugen vor, dass er wieder einsteigen und den Motor anlassen sollte, und sie würden dann schieben. Die Räder verteilten den Schlamm in alle Richtungen, sodass die Jungen von Kopf bis Fuß besudelt wurden, als sie unser Auto wieder auf die Straße beförderten.

Mein Mann nahm Geld aus seiner Brieftasche und wollte die Jugendlichen bezahlen, aber sie nahmen nichts an, stiegen wieder in ihren Geländewagen und erklärten, es sei ihnen eine Freude gewesen, einem Bruder zu helfen. Noch bevor wir uns richtig bei ihnen bedanken konnten, waren sie schon verschwunden. Mein Mann, der zunächst mit dem Schlimmsten gerechnet hatte, war zutiefst dankbar. Manchmal hält uns eben die äußere Erscheinung davon ab, ins Herz zu schauen.

Wir haben oft erzählt, wie wir festsaßen und dann gerettet wurden, wenn wir für einen Augenblick das Gute im Menschen vergessen oder andere grundlos verurteilt hatten. Jesus blickte durch die vergängliche Hülle in das Herz, wenn er sich mit Steuereintreibern abgab, Schuldnern vergab und Sünder heilte.

Eine mitfühlende Gruppe

Wenn unsere Kinder lernen, tolerant zu sein und andere zu akzeptieren, spüren sie auch, wie viel Freude es macht, wenn man andere so liebt, wie Jesus liebt. Ein zehnjähriges Mädchen mit Downsyndrom und eingeschränkter Sprechfähigkeit sollte einmal bei der Darbietung der Kinder in der Abendmahlsversammlung eine kurze Schriftstelle aufsagen. Es gab sich alle Mühe. Da kam seine vierjährige Schwester sofort zu ihm und flüsterte ihm die Worte ins Ohr. Die PV-Führerinnen hielten sich zurück und ermöglichten so, dass beide Mädchen ganz natürlich Fortschritt machen und lernen konnten. Als sich die Zehnjährige wieder auf ihren Platz auf dem Podium setzte, gaben ihr viele Kinder durch eine Berührung oder einen Blick zu verstehen, dass sie ihre Sache gut gemacht hatte.

Eine ganze Gruppe mitfühlender Kinder hat diese Freude erlebt, die in einem PV-Lied beschrieben wird:

Jesus sagt: Hab alle lieb,

freundlich sollst du sein.

Wenn dein Herz voll Liebe ist,

kannst du glücklich sein.3

Anmerkungen

  1. „Ich geh mit dir“, Liederbuch für Kinder, Seite 78

  2. Aus einem Interview mit Dr. Richard Ferre, Spezialist für Kinder- und Jugendpsychiatrie im PV-Kinderkrankenhaus in Salt Lake City, 16. November 2002

  3. „Jesus sagt: Hab alle lieb!“, Liederbuch für Kinder, Seite 39