Die Tugenden Güte und Freundlichkeit
Güte und Freundlichkeit stehen im Mittelpunkt einer celestialen Lebensweise. So geht ein Christenmensch mit seinen Mitmenschen um.
Als ich vor vielen Jahren Bischof war, lag mir sehr daran, dass die Bischofschaft diejenigen besuchte, die in der Kirche weniger aktiv waren, denn ich wollte wissen, ob wir etwas tun könnten, um ihnen die Segnungen des Evangeliums zu bringen.
So trafen wir uns einmal auch mit einem angesehenen Mechaniker, der schon in die fünfzig war. Er erzählte mir, dass er zuletzt als Kind die Kirche besucht hatte. Damals hatte sich der folgende Vorfall ereignet: Er hatte sich in der Klasse schlecht benommen und war ziemlich laut gewesen, und seine Lehrerin hatte ihn verärgert aus dem Klassenzimmer gezerrt und ihm gesagt, er solle ja nicht wiederkommen.
Er kam tatsächlich nie wieder.
Für mich war es erstaunlich, dass ein unfreundliches Wort, das vor mehr als vierzig Jahren gesprochen worden war, eine solch weitreichende Wirkung haben konnte. Aber das war der Fall. Der Mann war nie wieder zur Kirche gegangen, und seine Frau und seine Kinder auch nicht.
Ich entschuldigte mich und sagte ihm, es tue mir Leid, dass er damals so behandelt worden war. Ich drückte ihm mein Bedauern aus, dass ein unbedachtes Wort, vor so langer Zeit gesprochen, dazu geführt hatte, dass seine Familie sich nicht der Segnungen erfreuen konnte, die denen offen stehen, die in der Kirche aktiv sind.
„Nach vierzig Jahren“, sagte ich ihm, „ist es an der Zeit, dass die Kirche das ins Reine bringt.“
Ich bemühte mich, so gut ich konnte, und versicherte ihm, dass er in der Kirche willkommen sei und gebraucht werde. Ich freute mich, dass der Mann samt seiner Familie schließlich zur Kirche zurückkehrte und dass sie starke, treue Mitglieder wurden. Insbesondere der Bruder wurde ein wahrhaft guter Heimlehrer, denn er wusste um die Folgen, die eine Kleinigkeit wie ein unfreundliches Wort ein Leben lang und vielleicht sogar im Jenseits haben kann.
Güte und Freundlichkeit zeichnen einen wahrhaft großen Menschen aus und sind eine grundlegende Eigenschaft der besten Menschen, die ich kenne. Sie sind wie ein Pass, der Türen öffnet und durch den man sich Freunde schafft. Sie berühren das Herz und schaffen Beziehungen, die ein Leben lang halten können.
Ein freundliches Wort gibt nicht nur augenblicklich Auftrieb, sondern kann uns auch jahrelang im Gedächtnis haften bleiben. Während meines Studiums hat mir einmal ein Mann, der sieben Jahre älter war als ich, zu meinen guten Leistungen bei einem Football-Spiel gratuliert. Er lobte nicht nur mein Spiel, sondern auch meine Fairness. Seit diesem Gespräch sind schon mehr als 60 Jahre vergangen, und es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass sich derjenige noch daran erinnert, aber ich habe die freundlichen Worte nie vergessen, die Gordon B. Hinckley, der später Präsident der Kirche wurde, an dem Tag zu mir gesagt hatte.
Rücksichtnahme und Freundlichkeit – diese beiden Eigenschaften sind untrennbar mit Präsident Hinckley verbunden. Als 1963 mein Vater starb, war Präsident Hinckley der Erste, der uns zu Hause aufsuchte. Seine Güte und Freundlichkeit werde ich nie vergessen. Er gab meiner Mutter einen Segen und verhieß ihr unter anderem, sie könne sich noch auf vieles freuen und werde das Leben genießen. Diese Worte trösteten meine Mutter und mich, und ich werde diese Güte und Freundlichkeit nie vergessen.
Güte und Freundlichkeit stehen im Mittelpunkt einer celestialen Lebensweise. So geht ein Christenmensch mit seinen Mitmenschen um. All unsere Worte und Taten am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Kirche und besonders zu Hause müssen von Güte und Freundlichkeit geprägt sein.
Jesus Christus, unser Heiland, war der Inbegriff von Güte und Mitgefühl. Er heilte die Kranken. Er verbrachte einen großen Teil seiner Zeit damit, anderen geistlich zu dienen – sei es dem Einzelnen oder der Menge. Er fand mitfühlende Worte für die Samariterin, die ja viele verachteten. Er wies seine Jünger an, die kleinen Kinder zu ihm kommen zu lassen. Er war gütig und freundlich zu denen, die gesündigt hatten, und er verdammte lediglich die Sünde, nicht aber den Sünder. In seiner Güte ließ er es zu, dass tausende Nephiten zu ihm kamen und die Nägelmale an seinen Händen und Füßen berührten. Seine größte gütige Tat bestand jedoch darin, dass er das Sühnopfer vollbrachte, wodurch er alle Menschen von den Folgen des Todes befreite – und alle, so sie umkehren, auch von den Folgen der Sünde.
Der Prophet Joseph Smith ist sein Leben lang zu allen Menschen, ob alt oder jung, gütig und freundlich gewesen. Ein Kind, zu dem der Prophet einmal freundlich gewesen war, schreibt darüber:
„Mein älterer Bruder und ich gingen in der Nähe des Gebäudes, das als Josephs Backsteinladen bekannt war, zur Schule. Am Vortag hatte es geregnet, und der Boden war daher sehr matschig, vor allem in dieser Straße. Mein Bruder Wallace und ich blieben im Morast stecken und begannen natürlich zu weinen, weil wir, wie es für Kinder so typisch ist, meinten, wir säßen für immer fest. Doch als ich aufblickte, sah ich den liebevollen Freund aller Kinder, den Propheten Joseph Smith, auf uns zukommen. Es dauerte nicht lang, da hatte er uns befreit, und wir hatten wieder festen, trockenen Boden unter den Füßen. Dann beugte er sich nieder und reinigte unsere kleinen, verschmutzten Schuhe vom Schlamm. Er nahm sein Taschentuch und wischte uns die Tränen aus dem schmutzigen Gesicht. Er sagte noch ein paar freundliche und aufmunternde Worte und schickte uns dann guter Dinge zur Schule.“1
Güte und Freundlichkeit in der Familie sind durch nichts zu ersetzen. Das habe ich von meinem Vater gelernt. Er hat immer auf den Rat meiner Mutter gehört. Das hat ihn zu einem besseren, weiseren und gütigeren Menschen gemacht.
Ich bemühe mich, dem Beispiel meines Vaters zu folgen und auf das zu hören, was meine Frau mir sagt. Ich schätze ihre Meinung. Wenn meine Frau etwa sagt „Ich denke, du solltest …“, schenke ich ihr sogleich meine Aufmerksamkeit und überlege, was ich falsch gemacht haben könnte. Oft habe ich mir schon eine großartige Entschuldigung zurechtgelegt, bevor sie überhaupt noch mit ihrem Satz zu Ende gekommen ist.
Meine Frau ist wahrhaftig ein Wesen von beispielhafter Güte, Sanftheit und Milde. Ihre Einsicht, ihr Rat und ihr Beistand sind für mich von unschätzbarem Wert. Durch sie bin auch ich ein weiserer und gütigerer Mensch.
Was Sie sagen und wie Sie es sagen, Aufgebrachtheit oder Gelassenheit im Tonfall – all dies bleibt vor den Kindern und anderen nicht verborgen. Sie sehen und übernehmen sowohl die freundlichen als auch die unfreundlichen Worte und Taten. Durch nichts anderes zeigen wir unseren wahren Charakter so sehr wie durch die Art und Weise, wie wir als Familie miteinander umgehen.
Ich frage mich oft, weshalb manch einer meint, er müsse andere ständig kritisieren. Ich nehme an, es geht ihm in Fleisch und Blut über, und er merkt es dann gar nicht mehr. Er kritisiert anscheinend alles und jeden – die Art, wie Schwester Müller dirigiert oder wie Bruder Schmidt den Unterricht hält oder seinen Rasen mäht.
Selbst wenn wir meinen, unsere Kritik richte keinen Schaden an, so hat sie doch oft Folgen – etwa in der Geschichte von dem Jungen, der dem Bischof ein Spendenkuvert überreichte mit den Worten, das sei für ihn. Der Bischof wollte die Gelegenheit für eine kleine Belehrung nutzen und erklärte dem Jungen, er solle auf dem Spendenzettel vermerken, ob das Geld der Zehnte, das Fastopfer oder sonst eine Spende sei, doch der Junge sagte noch einmal, das Geld sei allein ihm, dem Bischof, zugedacht. Als der Bischof sich nach dem Grund erkundigte, erwiderte der Junge: „Naja, mein Vater sagt, Sie sind der armseligste Bischof, den wir je hatten.“
Die Kirche ist kein Ort, wo vollkommene Menschen zusammenkommen und Vollkommenes sagen, Vollkommenes denken oder Vollkommenes empfinden. Die Kirche ist ein Ort, wo unvollkommene Menschen zusammenkommen, um einander zu ermutigen, einander beizustehen und zu dienen, während jeder bestrebt ist, zum himmlischen Vater zurückzukehren.
Jeder von uns hat im Leben seinen eigenen Weg zu gehen. Keine zwei machen gleich schnell Fortschritt. Eine Versuchung, mit der Ihr Bruder ringt, lässt Sie vielleicht kalt. Etwas, was Ihnen leicht fällt, kommt einem anderen vielleicht wie ein Ding der Unmöglichkeit vor.
Schauen Sie niemals auf diejenigen herab, die weniger vollkommen sind als Sie. Regen Sie sich nicht über die auf, die nicht so gut nähen oder werfen können wie Sie oder die nicht so gut rudern oder die Hacke gebrauchen können.
Wir sind alle Kinder des himmlischen Vaters, und wir sind alle aus dem gleichen Grund hier: Wir sollen lernen, Gott mit ganzem Herzen, ganzer Seele, all unseren Gedanken und all unserer Kraft zu lieben und unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst.2
Wenn Sie wissen möchten, wie nützlich Sie für das Gottesreich sind, können Sie sich beispielsweise fragen: „Wie gut gelingt es mir, einem anderen zu helfen, die ihm innewohnenden Möglichkeiten auszuschöpfen? Unterstütze ich die anderen in der Kirche oder kritisiere ich sie?“
Wenn Sie andere kritisieren, schwächen Sie auch die Kirche. Wenn Sie andere erbauen, bauen Sie zugleich auch das Gottesreich auf. Da der Vater im Himmel gütig und freundlich ist, sollten wir uns anderen gegenüber ebenso verhalten.
Elder James E. Talmage, der wegen seiner Aussagen zur Lehre der Kirche bekannt ist, hat einer ihm völlig fremden Familie aus seiner Nachbarschaft in einer Notlage viel Güte erwiesen. Elder Talmage war damals noch kein Apostel. Er hatte selbst kleine Kinder, und so rührte ihn das entsetzliche Leid, das eine Nachbarsfamilie mit mehreren Kindern durchmachen musste, als bei ihr die gefürchtete Krankheit Diphtherie ausbrach. Er fragte nicht, ob die Leute der Kirche angehörten, sondern seine Güte und Nächstenliebe bewegten ihn dazu, Beistand zu leisten. Die FHV-Leiterin hatte sich krampfhaft bemüht, jemanden zu finden, der helfen könnte, doch da die Krankheit so ansteckend war, wollte niemand hingehen.
Bruder Talmage aber ging hin und sah, dass ein kleines Kind bereits gestorben war und zwei andere schwer krank waren. Er machte sich umgehend an die Arbeit, brachte das vernachlässigte Haus in Ordnung, richtete den kleinen Leichnam für das Begräbnis her und wusch und pflegte den ganzen Tag lang die kranken Kinder. Als er am nächsten Morgen wiederkam, war ein weiteres Kind gestorben. Ein Mädchen litt furchtbare Schmerzen. Im Tagebuch von Bruder Talmage lesen wir: „Sie klammerte sich an meinen Hals und hustete mir [Keime] ins Gesicht und auf die Kleidung …, aber ich konnte das Kind einfach nicht loslassen. In der halben Stunde vor ihrem Tod ging ich mit der Kleinen in den Armen auf und ab. Sie starb um 10.10 Uhr unter größten Schmerzen.“ Innerhalb von 24 Stunden waren alle drei Kinder heimgegangen. Bruder Talmage half sodann den Eltern bei den Vorbereitungen für die Beerdigung und hielt eine Grabrede.3 Das alles tat er für eine völlig unbekannte Familie. Was für ein großartiges Beispiel für christliche Güte und Freundlichkeit!
Wer von Güte und Freundlichkeit beseelt ist, spielt sich nicht zum Richter über andere auf. Jesus Christus hat gesagt: „Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden. Verurteilt nicht, denn werdet auch ihr nicht verurteilt werden. Erlasst einander die Schuld, dann wird auch euch die Schuld erlassen werden.“4 Er hat auch gesagt: „Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden.“5
„Aber“, werden Sie jetzt einwenden, „was ist, wenn jemand unverschämt ist?“
Lieben Sie ihn!
„Und wenn er aufdringlich ist?“
Lieben Sie ihn!
„Was ist, wenn er mich beleidigt? Dann muss ich doch wohl etwas unternehmen!“
Lieben Sie ihn!
„Wenn er in die Irre geht?“
Die Antwort bleibt dieselbe. Seien Sie gütig und freundlich! Lieben Sie ihn!
Weshalb? Der Apostel Judas sagt in der heiligen Schrift: „Erbarmt euch derer, die zweifeln.“6
Wer kann ermessen, wie weit unser Einfluss reicht, wenn wir nur gütig und freundlich sind?
Brüder und Schwestern, das Evangelium Jesu Christi erstreckt sich über das Erdenleben hinaus. Unsere Arbeit hier ist nur ein Vorgeschmack auf weit größere, unvorstellbarere Dinge, die da kommen werden.
Der Himmel hat sich dem Propheten Joseph Smith aufgetan. Er hat den lebendigen Gott und dessen Sohn, Jesus, den Messias, gesehen.
Heute gibt es auf der Erde einen Propheten, nämlich Präsident Gordon B. Hinckley, der uns Weisung für unsere Zeit erteilt.
Wie unser Vater im Himmel uns liebt, sollten auch wir seine Kinder lieben.
Mögen wir ein Vorbild an Güte und Freundlichkeit sein, und mögen wir stets so leben, wie es den Worten des Erretters entspricht: „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“7 Von diesen Wahrheiten gebe ich Zeugnis im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.