Unser schwieriger Nachbar
Mein Mann und ich wohnten mit unserem kleinen Sohn und unserer Tochter in einer Wohnung im zweiten Stock. Wir freuten uns darauf, in dem Jahr mit unseren zwei Kindern Weihnachten feiern zu können. Unser Sohn wuchs schnell heran, und wie jedes normale Kleinkind hatte er großen Bewegungsdrang. Oftmals rannte er nur zum Spaß durch die ganze Wohnung. Seine Possen amüsierten uns, aber unser Nachbar in der Wohnung darunter war nicht ganz so geduldig. Oft rächte er sich, indem er die Musik laut stellte oder nach oben kam, um sich zu beschweren.
Die Situation war für uns frustrierend. Was soll ein kleiner Junge denn den ganzen Tag tun, wenn er sich nicht frei bewegen darf? Es brach mir das Herz, ihn ruhig zu halten, wo doch so viel Fröhlichkeit und Energie ihn ihm steckten. Wir setzten uns mit dem Hausverwalter und unserem Nachbarn zusammen, um den Konflikt zu lösen. Während des Gesprächs fiel mir auf, dass unser Nachbar in seinen Worten und in seiner Einstellung besonders abwehrend war. Da kamen mir die Worte des Erretters in den Sinn: „Liebt eure Feinde, segnet die, die euch fluchen, tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, die euch böswillig behandeln und euch verfolgen.“ (3 Nephi 12:44.) Ich betrachtete ihn nicht unbedingt als Feind, aber wir waren ganz gewiss nicht auf einer Wellenlänge.
Er war im Militär, und seine Frau hatte noch nicht nachkommen können, also war er allein in einer fremden Stadt. Und wenn er von der Arbeit nach Hause kam, musste er den Lärm in der Wohnung über ihm ertragen. Allmählich wurde mir klar, wie schwierig es wohl für ihn sein mochte, aber ich hatte immer noch keine faire Lösung. Ich betete für ihn, und ich wurde im Herzen dazu bewegt, etwas einfühlsamer zu sein.
In dem Jahr hatten wir über die Feiertage meine Schwiegereltern zu Gast. Am Heiligen Abend genossen wir die gemeinsame Zeit und die besondere, weihnachtliche Atmosphäre. Doch schon bald hörten wir laute Musik und spürten die Vibrationen, die aus der Wohnung unter uns nach oben drangen. Diesmal schien es ganz besonders laut zu sein. Ich weiß noch, dass ich unseren Nachbarn mehr bedauerte, als dass ich ungeduldig war. Ich musste an die Worte des Erretters denken, und ich bereitete für ihn einen Teller mit selbstgemachten Plätzchen vor.
Mein Mann und ich gingen nach unten, um sie ihm zu überreichen. Unser Nachbar öffnete die Tür und fragte mit finsteren Gesicht: „WAS IST?“ Es war offensichtlich, dass er eine unschöne Konfrontation erwartete. Doch wir verloren kein Wort über die laute Musik, sondern wünschten ihm nur von Herzen frohe Weihnachten. Wir lächelten, und ich konnte sehen, wie sich seine Gesichtszüge lockerten, als er die Plätzchen annahm. Er lächelte zurück, dankte uns und wünschte uns ebenfalls eine frohe Weihnacht. Es dauerte nicht lang, bis er die Musik leiser stellte.
Ein paar Tage später trafen wir unseren Nachbarn draußen, und er dankte uns erneut für die Plätzchen. Wieder lächelte er uns an, und es fiel uns gar nicht schwer, zurückzulächeln. Da er neu in der Stadt war, fragten wir ihn, ob er bereits eine Kirche besuche. Er sagte, er habe noch keine gefunden, also luden wir ihn in unsere ein, was er auch annahm. Er traf sich mit den Missionaren und wollte sich schon bald taufen lassen. Am Tag seiner Taufe ließ er sich zusammen mit unserem Sohn fotografieren.
Ich kann mich nicht erinnern, dass wir je wieder Probleme mit lauter Musik hatten, aber ich denke noch immer an die besonderen Segnungen, die daraus resultieren, dass man den heiligen Schriften folgt. Es wärmt mir noch immer das Herz, wenn ich daran denke, wie ein einfaches Geschenk in Form von Weihnachtsplätzchen eine belastete Beziehung rasch in eine wunderbare Freundschaft verwandelt hat.