Freundschaftsbänder
„Der Freund erweist zu jeder Zeit Liebe.“ (Sprichwörter 17:17.)
Nach einer wahren Begebenheit
Ich lernte Megan kennen, als meine Familie in unser neues Haus zog. Sie wohnte in der derselben Straße, und wir waren beide in Schwester Crawfords PV-Klasse. Wir wurden Freundinnen und spielten oft zusammen. Ich beobachtete Megan genau und versuchte mich daran zu erinnern, wie sie einen Witz erzählte oder wie sie ihr Haar frisierte oder wie ungezwungen sie sich mit anderen Kindern unterhielt. Für mich war Megan einfach vollkommen. Ich war schüchtern. Ich wollte so gern wie Megan sein.
Einmal rief ich Megan an, um zu fragen, ob sie mit mir spielen wollte. Zuerst sagte sie gar nichts.
Schließlich sagte sie: „Caitlin ist schon hier.“
Caitlin war auch in unserer PV-Klasse. Ich wartete darauf, dass Megan mich auch einlud, aber sie tat es nicht. Am anderen Ende der Leitung war es ganz still.
„Ach so, na gut“, stammelte ich. Megan legte auf, ohne noch etwas zu sagen.
Am Sonntag in der PV fragte uns Schwester Crawford: „Was bedeutet es, ein guter Freund, eine gute Freundin zu sein?“
Ich lächelte Megan an, aber sie sah mich nicht. Sie drehte sich zu Caitlin und flüsterte ihr etwas zu. Plötzlich fing Caitlin an zu lachen.
„Etwas ruhiger, Mädchen“, bat Schwester Crawford. Sie hörten auf zu flüstern, kicherten aber leise weiter. Schwester Crawford wandte sich an mich. „Angie, was meinst du, was einen guten Freund ausmacht?“
„Das ist jemand, der nett ist und gern mit einem spielt und …“
Megan und Caitlin kicherten lauter. Ich wurde ganz rot im Gesicht und schaute zu Boden. Lachten sie über mich?
Schwester Crawford blickte sie stirnrunzelnd an. Dann lächelte sie mir zu. „Das stimmt, Angie“, sagte sie. Sie sah sich in der Klasse um. „Wie könnt ihr ein guter Freund oder eine gute Freundin sein?“
Adam meldete sich. „Wir können anderen helfen“, sagte er.
Schwester Crawford nickte. „Ein guter Freund möchte anderen helfen und dienen. Jesus Christus hat das gelehrt, als er auf der Erde lebte. Er hat uns auch gelehrt, dass wir zu jedem freundlich sein sollen.“
Ich schaute Megan an und lächelte ihr zu. Sie lächelte nicht zurück. Mein Herz zog sich zusammen. Konnte Megan mich nicht mehr leiden?
Am Ende des Unterrichts hielt Schwester Crawford einen kleinen Korb hoch. „Ich habe etwas für euch“, sagte sie. Sie holte aus dem Korb bunt geflochtene Bänder. „Das sind Freundschaftsbänder. Man trägt sie am Handgelenk. Immer, wenn man das Band ansieht, erinnert man sich daran, dass man ein guter Freund sein möchte.“
Vielleicht halfen ja die Freundschaftsbänder! Vielleicht konnten Megan und ich die gleiche Farbe tragen. Als der Korb herumgereicht wurde, lehnte ich mich zu Megan hinüber. „Welche Farbe nimmst du?“, fragte ich sie.
Megan zuckte die Schultern. „Vielleicht ein gelbes.“
„Ich auch“, sagte ich.
Caitlin suchte sich ein blaues Armband aus. Dann gab sie Megan den Korb. Megan sah ein paar Armbänder an und nahm sich dann ebenfalls ein blaues. Ich starrte sie an. Blau? Schnell reichte sie mir den Korb. Ich starrte hinein und wusste nicht, was ich tun sollte. Es gab nur noch gelbe Armbänder. Langsam holte ich eines heraus.
Megan und Caitlin kicherten und hielten die Arme nebeneinander, um ihre passenden blauen Armbänder zu bewundern. Ich spürte einen Kloß im Hals. Tränen brannten mir in den Augen. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht zu weinen. Ich wollte auf keinen Fall vor ihnen weinen.
* * * *
Sobald wir nach der Kirche zu Hause angekommen waren, warf ich mich meiner Mutter in die Arme. „Was ist los, Schatz?“, fragte sie, als ich zu weinen begann. Unter Tränen erzählte ich ihr, was geschehen war. Sie saß neben mir auf meinem Bett und drückte mich ganz fest. „Das tut mir leid, Angie“, sagte sie.
„Möchte Megan nicht mehr meine Freundin sein?“, fragte ich.
Mama strich mir über das Haar. „Manchmal wissen wir nicht, warum jemand etwas tut“, sagte sie. „Es tut mir leid, dass das passiert ist.“
„Schwester Crawford hat heute gesagt, dass wir versuchen sollen, zu jedem freundlich zu sein, wie Jesus es war. Ich will aber zu Megan nicht freundlich sein.“
„Das verstehe ich“, antwortete Mama. „Es stimmt aber, was Schwester Crawford gesagt hat. Vielleicht ist es schwer, aber wir sollen versuchen, freundlich zu sein, auch wenn uns jemand verletzt hat. Jesus hat gelehrt, dass wir anderen vergeben sollen.“
„Wie soll ich das schaffen?“, fragte ich. Ich dachte daran, wie Megan und Caitlin gelacht hatten, und mein Herz zog sich wieder zusammen.
Mama zeigte auf die kleine Statue, die auf meinem Nachtisch stand – ein Mädchen, das im Gebet kniete. „Wenn mich jemand verletzt hat, dann bitte ich den himmlischen Vater, mir zu helfen, demjenigen zu vergeben. Ich bitte ihn, mir und auch dem anderen das Herz zu erweichen.“
„Und das hilft?“, fragte ich.
Mama lächelte und küsste mich aufs Haar. „Ich fühle mich immer besser, wenn ich mit dem himmlischen Vater gesprochen habe“, sagte sie.
Als ich an diesem Abend betete, dankte ich dem himmlischen Vater für die Freundschaft, die ich mit Megan gehabt hatte. Dann bat ich ihn, mir zu helfen, ihr zu vergeben. Ich kniff die Augen zusammen und dachte angestrengt nach. „Bitte hilf Megan und mir, wieder Freundinnen zu werden“, sagte ich.
Dafür betete ich noch mehrmals in den folgenden Tagen. Am Samstag saß ich auf unserer Schaukel, als Megan auf unser Haus zukam. Ich hörte auf zu schaukeln. Wir sahen einander an, sagten aber nichts. Schließlich streckte Megan den Arm vor und legte mir etwas in die Hand.
„Das ist für dich“, sagte sie. Ich öffnete die Hand und sah ein blaues Freundschaftsband.
„Möchtest du spielen?“, fragte Megan. „Caitlin kommt zu mir. Wir wollen Prinzessinnen spielen und Noodle ist die Königin.“
Noodle war Megans graugestreifte Katze. Ich kicherte, als ich mir Noodle mit einer Krone vorstellte. Mir wurde leichter ums Herz. „Ja, ich komme gern“, sagte ich. „Danke.“
Ich lächelte sie an, und dieses Mal lächelte Megan zurück.
„Jede von euch kann anderen eine Freundin sein – vielleicht sogar einfach durch ein Lächeln. … Ihr [könnt] dem Sonnenschein, der in eurem Herzen ist, in eurem Gesicht Ausdruck verleihen.“
Präsident James E. Faust, Zweiter Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, „Euer Licht – allen Nationen ein Banner“, Liahona, Mai 2006, Seite 113f.