2008
Mögen wir so leben
August 2008


Botschaft von der Ersten Präsidentschaft

Mögen wir so leben

President Thomas S. Monson

An einem strahlenden Tag im September vor beinahe sieben Jahren stürzten plötzlich und ohne Vorwarnung zwei Verkehrsflugzeuge in die beiden Türme des World Trade Centers in New York und ließen dort Zerstörung und Tod zurück. Infolge eines weiteren Terroranschlags stürzten in Washington D.C. und in Pennsylvania zwei weitere Flugzeuge ab. Diesen Schick- salsschlägen fielen tausende Männer, Frauen und Kinder zum Opfer. Zukunftspläne wurden unversehens zunichtegemacht. An ihre Stelle traten die Tränen und der tiefe Schmerz der Leidtragenden.

Wir hörten unzählige Berichte von Betroffenen, die direkt oder indirekt mit den Ereignissen dieses Tages in Berührung gekommen waren. Rebecca Sindar saß in einem Flugzeug, das an jenem Dienstagmorgen, dem 11. September 2001, von Salt Lake City nach Dallas unterwegs war. Ihr Flug wurde, wie alle Flüge in den Vereinigten Staaten zum Zeitpunkt der Tragödie, unterbrochen, und sie musste in Amarillo in Texas zwischenlanden. Schwester Sindar schreibt: „Wir mussten alle aussteigen und scharten uns am Flughafen um die dort aufgestellten Fernsehgeräte, um die Nachrichten mitzuverfolgen. Die Leute standen vor den Telefonen Schlange, weil sie ihre Angehörigen beruhigen und ihnen sagen wollten, dass sie gelandet waren und sich in Sicherheit befanden. Ich werde wohl nie die gut zehn Missionare vergessen, die auf dem Weg in ihr Missionsgebiet in unserem Flugzeug gewesen waren. Sie tätigten ihre Anrufe, und dann sah ich sie in einer stillen Ecke des Flughafens zum Beten niederknien. Dieses Bild hätte ich nur zu gern für die Mütter und Väter dieser lieben Missionare festgehalten – wie diese jungen Männer sofort ans Gebet dachten.“

Das Dunkel des Todes wurde vertrieben

Wir alle müssen eines Tages sterben. Der Tod kommt zu den Alten, die auf schwachen Beinen stehen. Sein Ruf ergeht an diejenigen, die kaum die Hälfte ihres Lebensweges beschritten haben, und oft lässt er das Lachen kleiner Kinder verstummen. Jeder muss sterben. Das ist eine Tatsache, die keiner leugnen und der keiner entkommen kann.

Oft kommt der Tod als Eindringling. Er kommt als Feind, der plötzlich inmitten des Lebensfestes auftaucht und das Licht und die Fröhlichkeit auslöscht. Der Tod legt seine schwere Hand auf unsere Lieben und lässt uns mitunter verwirrt und voller Fragen zurück. In manchen Situationen, beispielsweise bei schwerem Leid und bei Krankheit, kommt der Tod als Engel der Barmherzigkeit.

Doch in den meisten Fällen betrachten wir ihn als Feind des Menschenglücks.

Das Dunkel des Todes kann aber durch das Licht offenbarter Wahrheit für immer vertrieben werden.

„Ich bin die Auferstehung und das Leben“, hat der Herr gesagt. „Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt,

und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben.“1

Diese Zusicherung – diese heilige Bestätigung vielmehr –, dass es ein Leben jenseits des Grabes gibt, kann ganz gewiss jenen Frieden schenken, den der Erretter seinen Jüngern mit den Worten verheißen hat: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch. Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht.“2

Inmitten der Finsternis und des Schreckens von Golgota konnte man die Stimme des Lammes vernehmen: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“3 Dann war die Finsternis nicht länger dunkel, denn Christus war bei seinem Vater. Er war von Gott gekommen und zu ihm zurückgekehrt. Und wer mit Gott durch das Erdenleben geht, der weiß aus eigener, heiliger Erfahrung, dass Gott seine Kinder nicht im Stich lässt, sofern sie ihm vertrauen. In der Nacht des Todes ist Gottes Gegenwart „besser als [ein] Licht und sicherer als jeder Weg, den man gut kennt“.4

Saulus sah auf dem Weg nach Damaskus in einer Vision den auferstandenen, erhöhten Christus. Als er dann Paulus geworden war, der Verteidiger der Wahrheit und ein furchtloser Missionar im Dienste des Meisters, gab er Zeugnis vom auferstandenen Herrn und schrieb den Heiligen in Korinth:

„Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift,

und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift,

und erschien dem Kephas, dann den Zwölf.

Danach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern zugleich; …

Danach erschien er dem Jakobus, dann allen Aposteln.

Als letztem von allen erschien er auch mir.“5

In unserer Evangeliumszeit ist dieses Zeugnis unerschrocken vom Propheten Joseph Smith verkündet worden, der mit Sidney Rigdon bezeugt hat:

„Und nun, nach den vielen Zeugnissen, die von ihm gegeben worden sind, ist dies, als letztes von allen, das Zeugnis, das wir von ihm geben: Dass er lebt!

Denn wir haben ihn gesehen, ja, zur rechten Hand Gottes; und wir haben die Stimme Zeugnis geben hören, dass er der Einziggezeugte des Vaters ist –

dass von ihm und durch ihn und aus ihm die Welten erschaffen werden und wurden, und deren Bewohner sind für Gott gezeugte Söhne und Töchter.“6

Dieses Wissen hält uns aufrecht und verleiht uns Kraft. Diese Wahrheit tröstet. Diese Zusicherung führt den, der von Kummer gebeugt ist, aus dem Schatten ins Licht. Diese Kenntnis steht jedem offen.

Tun wir heute etwas

So zerbrechlich das Leben ist, so gewiss ist der Tod. Wir wissen nicht, wann wir aus dem Leben scheiden müssen. Und deshalb frage ich: „Was machen wir aus dem Heute?“ Wenn wir nur für das Morgen leben, schauen wir irgendwann auf viele leere Tage zurück. Haben wir nicht auch schon manchmal gesagt: Ich möchte ja ein paar Kurskorrekturen vornehmen – morgen nehme ich das in Angriff! Wer so denkt, für den kommt das Morgen nie. Denn dieses Morgen kommt meist nur dann, wenn wir schon heute etwas dafür tun. Wir singen ja in dem bekannten Lied:

So viel Freude und Arbeit harrt heute dein,

o so gehe und nutze die Zeit.

Lass bis morgen nicht ruhn, was du heute kannst tun,

und sei stets zum Wirken bereit.7

Stellen wir uns doch die Frage: „Hab ich Gutes am heutigen Tag getan? Half ich jemand in Kummer und Plag?“ Das ist ein Rezept, das einen glücklich machen kann! Das ist eine Medizin, die Zufriedenheit und inneren Frieden bringt – wenn wir nämlich dazu beigetragen haben, dass ein anderer Mensch Dankbarkeit empfindet.

Wir haben wahrhaft unzählige Möglichkeiten, von uns selbst zu geben, aber sie verstreichen rasch. Dem einen können wir Trost und Zuspruch geben, dem anderen ein freundliches Wort. Hier freut sich einer über ein Geschenk, dort muss man tatkräftig zupacken. Es gilt, Menschen zu retten.

„Wenn ihr im Dienste eurer Mitmenschen seid, [seid] ihr nur im Dienste eures Gottes.“8 Wer sich dies stets vor Augen hält, findet sich nicht in der beklagenswerten Lage von Jacob Marleys Geist wieder, der in der unsterblichen Weihnachtsgeschichte von Charles Di- ckens mit Ebenezer Scrooge spricht. Marley bringt zum Ausdruck, wie traurig er ist, weil er so viele Möglichkeiten ungenutzt hat verstreichen lassen. Er sagt: „Weißt nicht, dass jede christliche Seele, die in ihrem kleinen Kreis, wie immer er sei, mildtätig wirkt, ihr irdisches Leben zu kurz findet für die ausgedehnten Möglichkeiten, nützlich zu sein. Weißt nicht, dass keine noch so lange Reue die versäumten Gelegenheiten eines Lebens aufwiegen kann! So einer war ich! Oh, so war ich!“

Und dann fügt Marley hinzu: „Warum wandelte ich auch durch das Gewühl der Mitmenschen mit gesenkten Augen und erhob sie nie zu dem segensvollen Stern, der die drei Weisen zu einer armen Herberge führte? Gab es nicht ärmliche Hütten genug, zu denen sein Licht mich hätte leiten können?“

Glücklicherweise ändert sich Ebenezer Scrooge und wird ein besserer Mensch. Mir gefällt sein Ausspruch: „Ich bin nicht mehr der Mann, der ich war.“9

Weshalb ist diese Geschichte so berühmt? Wieso hat sie uns immer noch etwas zu sagen? Meiner Meinung nach ist sie von Gott inspiriert. Sie bringt das Gute im Menschen zum Vorschein. Sie macht uns Hoffnung und bewegt uns dazu, uns zu ändern. Wir können uns abwenden von den Wegen, die uns hinabziehen, und mit einem Lied im Herzen einem Stern am Himmel folgen und auf das Licht zugehen. Wir können größere Schritte machen, Mut fassen und uns am Sonnenlicht der Wahrheit erfreuen. Wir können das Lachen der Kinder bewusster wahrnehmen. Wir können dem, der weint, die Tränen abwischen. Wir können den Sterbenden trösten, indem wir ihm die Verheißung ewigen Lebens nahebringen. Wenn wir auch nur eine herabgesunkene Hand emporheben und nur einem Menschen, der in Schwierigkeiten ist, Frieden bringen, wenn wir geben, wie der Herr gegeben hat, dann können wir anderen den Weg weisen und für einen verirrten Seemann ein Leitstern sein.

Seien wir liebevoll

Da das Leben so zerbrechlich und der Tod unausweichlich ist, müssen wir aus jedem Tag das Beste machen.

Man kann Gelegenheiten auf ganz unterschiedliche Weise ungenutzt verstreichen lassen. Einmal habe ich eine zu Herzen gehende Geschichte von Louise Dickinson Rich gelesen, in der diese Wahrheit eindrucksvoll zum Ausdruck kommt. Sie schreibt:

„Meine Großmutter hatte eine Feindin namens Mrs. Wilcox. Großmutter und Mrs. Wilcox waren beide nach ihrer Hochzeit in zwei Nachbarhäuser an der Hauptstraße eines kleinen Dorfes eingezogen. Dort sollten sie dann ihr gesamtes Leben verbringen. Ich weiß nicht, was der Auslöser ihrer Feindseligkeiten war, und ich glaube, dass damals, als ich zur Welt kam – mehr als dreißig Jahre danach –, auch keine der beiden Frauen den Grund noch wusste. Jedenfalls war es kein bloßes Wortgefecht, sondern ein richtiger Krieg. …

Das gesamte Dorf wurde in Mitleidenschaft gezogen. Die dreihundert Jahre alte Kirche, die den Unabhängigkeitskampf, den Bürgerkrieg und den Krieg gegen Spanien überdauert hatte, überlebte kaum den Kampf um den Vorsitz im Frauenverein, den Großmutter und Mrs. Wilcox ausfochten. Damals gewann zwar Großmutter, doch es war ein schaler Sieg, denn Mrs. Wilcox trat verstimmt aus dem Verein aus. Und was nutzt ein Sieg, wenn danach diejenige, die man demütigen will, nicht mehr da ist? Mrs. Wilcox gewann dafür die Schlacht um die Bibliothek, und ab dem Tag, da ihre Nichte Gertrude anstelle von Tante Phyllis Bibliothekarin wurde, las Großmutter keine Bücher aus der Bücherei mehr. Von da an waren das nur noch ‚Bazillenüberträger‘. Der Kampf um die Highschool endete mit einem Unentschieden, denn der Direktor nahm rechtzeitig einen besseren Posten an und konnte daher weder von Mrs. Wilcox abgesetzt noch von Großmutter auf Lebenszeit in dieses Amt bestellt werden.

Wenn wir Kinder bei Großmutter zu Besuch waren, machten wir uns einen Spaß daraus, die Enkel von Mrs. Wilcox zu ärgern. Eines denkwürdigen Tages steckten wir eine Schlange in die Regentonne von Mrs. Wilcox. Meine Großmutter tat zwar so, als wolle sie uns davon abhalten, aber wir begriffen, dass sie im Grunde genommen gar nichts gegen unser Treiben hatte.

Selbstverständlich waren das keine einseitigen Scharmützel, denn auch Mrs. Wilcox hatte Enkelkinder, und so wurden auch Großmutter Streiche gespielt. Es gab keinen windigen Waschtag, an dem die Wäscheleine mit der frisch gewaschenen Wäsche nicht aus mysteriösen Gründen riss und Großmutters Wäsche auf dem Boden lag.

Ich weiß nicht, wie Großmutter das alles so lange hätte ertragen können, wenn es da nicht den Hausfrauenteil in ihrer Bostoner Tageszeitung gegeben hätte. Dieser Hausfrauenteil war eine wunderbare Sache: Es gab da nicht nur die üblichen Rezepte und Haushaltstipps, sondern auch eine Spalte mit Leserbriefen. Angenommen, jemand hatte ein Problem – oder wollte sich auch nur etwas von der Seele schreiben –, dann konnte er der Zeitung anonym unter einem Phantasienamen schreiben, wie beispielsweise Arbutus – damit unterzeichnete Großmutter ihre Briefe. Und wenn dann eine andere Frau das gleiche Problem hatte, antwortete sie und erklärte, was sie gemacht hatte, und sie unterschrieb ebenfalls mit einem fiktiven Namen – etwa ‚Eine, die das auch kennt‘ oder ‚Xanthippe‘ oder was auch immer. Und selbst, wenn das Problem dann gelöst war, kam es immer wieder vor, dass manche Frauen einander von ihren Kindern und dem Einwecken oder der neuen Wohnzimmereinrichtung berichteten. Das war auch bei Großmutter der Fall. Sie und eine Frau, die sich ‚Möwe‘ nannte, schrieben einander schon 25 Jahre lang. ‚Möwe‘ war die einzige wahre Freundin meiner Großmutter.

Als ich etwa sechzehn Jahre alt war, starb Mrs. Wilcox. In einer kleinen Ortschaft verlangte es der Anstand, dass man, selbst wenn man mit der Nachbarin völlig zerstritten war, doch hinüberging und fragte, ob man etwas für die Hinterbliebenen tun könne. So zog sich Großmutter eine Baumwollschürze über, um zu zeigen, dass sie es ernst meinte und tatsächlich mit Hand anlegen wollte, und ging über den Rasen zum Haus der Familie Wilcox. Die Töchter baten sie, das ohnehin schon saubere Wohnzimmer für die Begräbnisfeierlichkeiten zu putzen. Und dort lag auf dem Couchtisch auf einem Ehrenplatz ein großes Album, in das in ordentlichen Spalten Großmutters Briefwechsel mit ,Möwe‘ eingeklebt war. Was die beiden Frauen nicht gewusst hatten: Großmutters schlimmste Feindin war in Wirklichkeit ihre beste Freundin gewesen. Das war das einzige Mal, dass ich Großmutter habe weinen sehen. Damals verstand ich den Grund nicht, aber heute weiß ich es: Sie weinte wegen all der vergeudeten Jahre, die unwiederbringlich verloren waren.“10

Nehmen wir uns doch vor, dass wir ab heute ein liebevolles Herz haben wollen. Gehen wir die zweite Meile und nehmen wir uns derer an, die einsam oder bedrückt sind oder sonst in irgendeiner Weise leiden. Sorgen wir dafür, dass „ein Herz [getröstet] und ein Schmerz [gelindert]“11 wird. Mögen wir so leben, dass wir, wenn wir abberufen werden, nichts Schwerwiegendes bedauern müssen und nichts unerledigt geblieben ist, sondern wir mit dem Apostel Paulus sagen können: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue gehalten.“12

Anmerkungen

  1. Johannes 11:25,26

  2. Johannes 14:27

  3. Lukas 23:46

  4. Minnie Louise Haskins, „The Gate of the Year“, in Masterpieces of Religious Verse, Hg. James Dalton Morrison, 1948, Seite 92

  5. 1 Korinther 15:3-8

  6. LuB 76:22-24

  7. Will L. Thompson, „Hab ich Gutes am heutigen Tag getan?“, Gesangbuch, Nr. 150

  8. Mosia 2:17

  9. (New York: Stewart, Tabori & Chang, 1990), Seite 34, 138

  10. „Grandma and the Seagull“, Alice Arlen, She Took to the Woods: A Biography and Selected Writings of Louise Dickinson Rich, 2000, Seite 211ff.

  11. Gesangbuch, Nr. 150

  12. 2 Timotheus 4:7