Die Prüfung
Weder Drangsalierungen noch die Armee konnten die Heiligen von dem abbringen, was sie als wahr erkannt hatten.
Ich möchte aufzeigen, dass uns der Herr in schwierigen Zeiten immer einen sicheren Weg bahnt. Wir leben in jenen „schweren Zeiten“, die, wie der Apostel Paulus prophezeite, in den Letzten Tagen anbrechen werden.1 Wenn wir für uns persönlich, als Familie oder als Kirche in Sicherheit sein wollen, müssen wir „die Gesetze und Verordnungen des Evangeliums befolgen“.2
Am 24. Juli 1849 waren die Heiligen auf den Tag genau seit zwei Jahren im Salzseetal. Endlich lagen die Jahre der Anfeindung und Verfolgung hinter ihnen. Das verlangte nach einer großen Feier.
Nur wenige Jahre zuvor litt der Prophet Joseph Smith monatelang unter entsetzlichen Bedingungen im Gefängnis zu Liberty, was ja Freiheit bedeutet, während der Pöbel die Heiligen aus ihren Häusern vertrieb. Die Wörter Freiheit und Gefängnis passen nicht sehr gut zusammen.
Joseph rief aus:
„O Gott, wo bist du? Und wo ist das Gezelt, das dein Versteck bedeckt?
Wie lange noch wird deine Hand sich zurückhalten und dein Auge, ja, dein reines Auge, von den ewigen Himmeln her das Unrecht ansehen, das deinem Volk und deinen Knechten widerfährt, und dein Ohr von ihrem Schreien durchdrungen werden?“3
Der Prophet Joseph Smith hatte schon zuvor um Weisung gebeten, und der Herr forderte die Heiligen auf, von den Richtern, dem Gouverneur und danach vom Präsidenten Wiedergutmachung zu verlangen.4
Ihr Gesuch an die Richter scheiterte. Im Laufe seines Lebens wurde Joseph Smith unter falschen Beschuldigungen aller Art über zweihundert Mal vor Gericht geladen. Er wurde niemals verurteilt.
Als man vom Gouverneur Missouris, Boggs, Entschädigung forderte, gab dieser einen Erlass heraus: „Die Mormonen müssen wie Feinde behandelt werden und notfalls im öffentlichen Interesse ausgerottet oder aus dem Staat vertrieben werden.“5 Damit wurden unsagbare Brutalität und Schlechtigkeit entfesselt.
Man appellierte an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Martin Van Buren, welcher zur Antwort gab: „Ihre Sache ist gerecht, aber ich kann nichts für Sie tun.“6
Ich lese nun die letzten Absätze der dritten Bittschrift an den Kongress der Vereinigten Staaten vor:
„Die Bedrängnisse der Verfasser dieses Gesuchs sind jetzt schon überwältigend, zu viel für einen Menschen, zu viel für amerikanische Bürger, um es klaglos zu ertragen. Wir haben so viele Jahre unter der eisernen Faust der Tyrannei und Unterdrückung gelitten. Man hat uns unseren Grund und Boden im Wert von zwei Millionen Dollar geraubt. Man hat uns gejagt wie die wilden Tiere des Waldes. Wir haben erlebt, wie unsere betagten Väter, die in der Revolution gekämpft hatten, und unsere unschuldigen Kinder von unseren Verfolgern gleichsam abgeschlachtet wurden. Wir haben erlebt, wie die schönen Töchter amerikanischer Bürger auf unmenschlichste Weise beschimpft und misshandelt wurden, und schließlich haben wir erlebt, wie fünfzehntausend Seelen, Männer, Frauen und Kinder, mit Waffengewalt im strengen Winter von ihrem heiligen Heim und Herd in ein fremdes Land vertrieben wurden, mittellos und schutzlos. Unter all diesen schwierigen Umständen strecken wir flehend die Hände nach der obersten Körperschaft unseres Landes aus und ersuchen die erlauchten Senatoren und Vertreter eines großen, freien Volkes ergebenst um Entschädigung und Schutz.
Hört! O hört die flehende Stimme vieler tausend amerikanischer Bürger, die nun im Exil stöhnen … ! Hört! O hört das Weinen und das bittere Klagen von Witwen und Waisen, deren Ehemänner und Väter grausam zu Märtyrern gemacht wurden, in dem Land, wo der stolze Adler … fliegt! Lasst es nicht in den Archiven der Völker vermerkt sein, dass … Verbannte bei euch um Schutz und Entschädigung ersuchten, aber vergeblich danach trachteten. Es liegt in eurer Macht, uns, unsere Ehefrauen und unsere Kinder vor einer Wiederholung der blutrünstigen Szenen in Missouri zu bewahren und dadurch einem verfolgten, verletzten Volk viel von seiner Angst zu nehmen; und eure Bittsteller werden beständig beten.“7
Man hatte kein Mitleid, und sie wurden abgewiesen.
1844 wurden der Prophet Joseph Smith und sein Bruder Hyrum, während sie unter dem erklärten Schutz des Gouverneurs von Illinois, Thomas Ford, standen, im Gefängnis von Carthage erschossen. Worte können die Brutalität und das Leid, das die Heiligen erduldet hatten, wohl kaum beschreiben.
An jenem 24. Juli 1849 nun, endlich frei von den Drangsalierungen, hatte man vor, zu feiern.8
Alles, was die Heiligen besaßen, war im Handkarren oder Planwagen 1600 Kilometer weit durch die Wildnis dorthin gelangt. Es sollte noch weitere zwanzig Jahre dauern, ehe die Eisenbahn bis Salt Lake City fuhr. Sie hatten fast nichts, womit sie arbeiten konnten, befanden jedoch, dass die Feier ein großartiger Anlass war, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen.
Sie bauten auf dem Tempelplatz einen laubenartigen Unterstand. Sie stellten eine knapp 32 Meter hohe Fahnenstange auf. Sie fertigten eine riesige Landesflagge von knapp 20 Metern Länge an und entrollten sie oben an dieser Freiheitsstange.
Es mag rätselhaft erscheinen, unfassbar, beinahe unglaublich, dass sie als Motto dieser ersten Feier Patriotismus wählten, Loyalität gegenüber eben jenem Staat, der sie abgewiesen und es versäumt hatte, ihnen beizustehen. Was haben sie wohl dabei gedacht? Wenn Sie verstehen können, warum sie dies taten, dann werden Sie begreifen, welche Macht die Lehren Christi haben.
Eine Blaskapelle spielte, als Präsident Brigham Young einen großen Festzug zum Tempelplatz hin anführte. Ihm folgten die Zwölf Apostel und die Siebziger.
Danach kamen vierundzwanzig junge Männer in weißer Hose und schwarzem Mantel, mit weißer Schärpe auf der rechten Schulter, einer kleinen oder größeren Krone auf dem Kopf und einem Schwert zu ihrer Linken. In der rechten Hand trug jeder, ausgerechnet, ein Exemplar der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung der Vereinigten Staaten. Die Unabhängigkeitserklärung wurde von einem dieser jungen Männer vorgelesen.
Darauf folgten vierundzwanzig weiß gekleidete junge Frauen mit einer blauen Schärpe auf der rechten Schulter und weißen Rosen auf dem Kopf. Jede trug eine Bibel und ein Buch Mormon.
Was danach kam, war nicht ganz so staunenswert wie die Entscheidung, als Motto Patriotismus zu wählen, aber doch beinahe: vierundzwanzig sogenannte alte Herren, angeführt von Patriarch Isaac Morley. Sie waren als die „Silbergrauen“ bekannt – alle sechzig Jahre oder älter. Jeder trug einen rot bemalten Stab, an dessen Spitze ein weißes Band wehte. Einer trug das Sternenbanner. Diese Männer waren ein Symbol für das Priestertum, das „von Anfang an war, ehe die Welt war“9, und in dieser Evangeliumszeit wiederhergestellt worden war.
Die Heiligen wussten, dass der Herr sie geheißen hatte, „Königen, Präsidenten, Herrschern und Obrigkeiten untertan zu sein und dem Gesetz zu gehorchen, es zu achten und für es einzutreten“.10 Dieses Gebot, damals offenbart, gilt auch heute für unsere Mitglieder in jedem Land. Wir sollen gesetzestreue, würdige Bürger sein.
Der Herr erklärte ihnen: „Ich [habe] die Verfassung dieses Landes durch die Hand weiser Männer eingerichtet, die ich zu ebendiesem Zweck erweckt habe.“11
Und in einem anderen Vers sagte der Herr: „Es [ist] nicht recht, dass irgendjemand in der Knechtschaft eines anderen sei.“12 Sie waren daher gegen die Sklaverei. Das war ein sehr wunder Punkt bei den Siedlern in Missouri.
Und so trat an jenem feierlichen Tag im Jahr 1849 „Elder Phineas Richards vor, stellvertretend für die vierundzwanzig älteren Herren, und las ihre ergebene, patriotische Rede vor“.13 Er sprach darüber, dass sie ihren Kindern Patriotismus beibringen müssten und auch, die Freiheit zu lieben und zu ehren. Nachdem er kurz die Gefahren aufgeführt hatte, die sie durchgestanden hatten, sagte er:
„Brüder und Freunde, wir, die wir schon seit sechzig Jahren leben, haben die Regierung der Vereinigten Staaten in ihrer Glanzzeit gesehen und wissen, dass die abscheulichen Grausamkeiten, die wir erlitten haben, von einer verdorbenen und verkommenen Verwaltung ausgingen, doch die unverfälschten Grundsätze unserer hoch geschätzten Verfassung bleiben unverändert. …
Da wir den Freiheitsgeist und das Feuer des Patriotismus von unseren Vätern ererbt haben, so lasst uns beides in reiner Form an unsere Nachkommen weitergeben.“14
Man könnte meinen, dass die Heiligen, getrieben von der menschlichen Natur, nach Rache trachteten, doch etwas, was viel stärker ist als selbst die menschliche Natur, gewann die Oberhand.
Der Apostel Paulus erklärte:
„Der irdisch gesinnte Mensch aber lässt sich nicht auf das ein, was vom Geist Gottes kommt. Torheit ist es für ihn, und er kann es nicht verstehen, weil es nur mit Hilfe des Geistes beurteilt werden kann. …
Wir … haben den Geist Christi.“15
Dieser Geist zeichnete diese ersten Mitglieder der Kirche als Nachfolger Christi aus.
Wenn Sie ein Volk verstehen können, das so langmütig, so tolerant, so vergebungsbereit, so christlich war nach dem, was es erlitten hatte, dann werden Sie entschlüsselt haben, was ein Heiliger der Letzten Tage ist. Anstatt sich von Rache verzehren zu lassen, waren sie in Offenbarung verankert. Ihr Kurs wurde von den Lehren bestimmt, die noch heute im Alten und Neuen Testament zu finden sind, im Buch Mormon, im Buch Lehre und Bündnisse und in der Köstlichen Perle.
Wenn Sie verstehen können, warum sie so feierten, wie sie es taten, dann können Sie auch verstehen, warum wir Glauben an den Herrn Jesus Christus haben, an die Grundsätze des Evangeliums.
Im Buch Mormon lesen wir: „Wir reden von Christus, wir freuen uns über Christus, wir predigen von Christus, wir prophezeien von Christus, und wir schreiben gemäß unseren Prophezeiungen, damit unsere Kinder wissen mögen, von welcher Quelle sie Vergebung ihrer Sünden erhoffen können.“16
Und daher lehren wir heute, in diesen ungewohnt schweren Zeiten, in der wahren Kirche Jesu Christi17 die Grundsätze des Evangeliums und leben danach.
Drei Merkmale der Gedenkfeier von 1849 waren sowohl symbolisch als auch prophetisch: erstens, dass die jungen Männer die Verfassung und die Unabhängigkeitserklärung trugen, dann, dass jede junge Frau die Bibel und das Buch Mormon trug, und schließlich, dass die alten Männer – die Silbergrauen – in diesem Festzug geehrt wurden.
Nach dem Programm gab es ein Festessen an behelfsmäßigen Tischen. Mehrere hundert Durchreisende, die dem Goldrausch folgten, und auch sechzig Indianer wurden eingeladen.
Danach ging man wieder an die Arbeit.
Präsident Young hatte gesagt: „Wenn das Volk der Vereinigten Staaten uns zehn Jahre lang in Ruhe lässt, werden wir es um keinen Gefallen bitten.“18
Auf den Tag acht Jahre nach der Feier von 1849 waren die Heiligen im Big Cottonwood Canyon, um erneut den 24. Juli zu feiern. Vier Männer kamen angeritten, um zu melden, dass eine zweitausendfünfhundert Mann starke Armee über die Prärie anrückte. Die Armee der Vereinigten Staaten, unter dem Kommando von Oberst Albert Sydney Johnston, hatte Befehl von Präsident James Buchanan, einen nicht vorhandenen Mormonenaufstand niederzuschlagen.
Die Heiligen brachen das Lager ab und begaben sich nach Hause, um sich für die Verteidigung bereit zu machen. Diesmal sollten die Heiligen nicht fliehen. Präsident Young erklärte: „Wir haben kein Gesetz übertreten und wir haben keinen Anlass, dies zu tun, beabsichtigen dies auch nicht. Aber was Nationen betrifft, die hierher unterwegs sind, um dieses Volk zu vernichten – da Gott, der Allmächtige, mein Helfer ist, so können sie nicht hierherkommen.“19
Meine Urgroßeltern begruben ein Kind auf dem Weg, als sie von Far West nach Nauvoo vertrieben wurden, und ein weiteres in Winter Quarters, als man sie nach Westen vertrieb.
Eine andere Urgroßmutter, damals ein Teenager, zog einen Handkarren am südlichen Ufer des Flusses Platte entlang. Man sang:
Es liegt der Ort, den Gott für uns bestimmt,
westwärts dort, in der Fern,
wo nichts uns stört, nichts uns den Frieden nimmt,
da winkt Ruh in dem Herrn.20
Jenseits des Flusses konnten sie sehen, wie die Waffen der Soldaten der Armee in der Sonne aufblitzten.21
In St. Louis hatte meine Urgroßmutter eine kleine glasierte Anstecknadel mit der amerikanischen Flagge gekauft. Diese trug sie ihr Leben lang an ihrem Kleid.
Weder Drangsalierungen noch die Armee konnten die Heiligen von dem abbringen, was sie als wahr erkannt hatten. Ein Übereinkommen wurde ausgehandelt, und der Utah-Krieg (den man später „Buchanans Schnitzer“ nannte) war vorüber.
Wir werden heute von denselben Offenbarungen angeleitet und von einem Propheten geführt. Als der Prophet Joseph Smith starb, nahm ein anderer seinen Platz ein. Die Ordnung bei der Nachfolge galt seither und gilt noch heute.
Bei der Generalkonferenz vor sechs Monaten wurde Thomas S. Monson als 16. Präsident der Kirche bestätigt, nur fünf Monate vor seinem 81. Geburtstag. Er folgte auf Präsident Gordon B. Hinckley, der in seinem 98. Lebensjahr verstarb.
Die dienstältesten Führer der Kirche werden fast immer gereift sein, in jahrzehntelanger Vorbereitung.
Präsident Monson ist ideal geeignet für die Herausforderungen unserer Zeit. Er wird von zwei Ratgebern gestützt und vom Kollegium der Zwölf Apostel – allesamt Propheten, Seher und Offenbarer.
Derselbe Luzifer, der aus der Gegenwart unseres Vaters ausgestoßen wurde, ist noch immer am Werk. Er wird mit den Engeln, die ihm folgten, das Werk des Herrn stören und es vernichten, falls er das kann.
Aber wir werden den Kurs halten. Wir verankern uns als Familien und als Kirche in diesen Grundsätzen und heiligen Handlungen. Welche Prüfungen auch vor uns liegen mögen – und es werden viele sein: Wir müssen glaubenstreu bleiben.
Ich gebe Zeugnis, dass Gottvater und sein Sohn Jesus Christus leben, dass Thomas S. Monson durch Prophezeiung von Gott berufen wurde.
„Das Banner der Wahrheit ist aufgerichtet, keine unheilige Hand kann den Fortschritt dieses Werkes aufhalten.“ (History of the Church, 4:540.) Heute findet rund um die Uhr irgendwo auf der Welt eine Versammlung der Kirche statt. Im Namen Jesu Christi. Amen.