Zum Gedenken – eine Beilage zum Liahona
Elder Joseph B. Wirthlin – dem Gottesreich verpflichtet
11. Juni 1917 – 1. Dezember 2008
An einem denkwürdigen Heiligen Abend im Jahr 1937 wanderte Elder Joseph B. Wirthlin, der damals Vollzeitmissionar war, mit seinem Mitarbeiter von Salzburg aus in die kleine Ortschaft Oberndorf mitten in den Salzburger Bergen. Bei ihrem Besuch in dem Dorf, das dafür bekannt ist, dass es einst zur Entstehung des Liedes „Stille Nacht, heilige Nacht“1 inspiriert hat, rasteten sie in einer kleinen Kirche, wo ein Chor Weihnachtslieder sang.
„Auf dem Rückweg gingen wir durch die klare, kalte Winternacht“, erzählte Elder Wirthlin. „Über uns stand der Himmel voller Sterne, und unter unseren Füßen lag wie eine Decke frisch gefallener Schnee.“2
Unterwegs unterhielten sich die jungen Missionare über ihre Hoffnungen und Träume und ihre Ziele für die Zukunft. In dieser wunderschönen Umgebung verpflichtete sich Elder Wirthlin erneut, dem Herrn zu dienen: „Ich nahm mir vor, jede Berufung, die mir im Reich des Herrn übertragen würde, groß zu machen.“3
Elder Wirthlin hielt dieses Versprechen, solange er auf Erden weilte. Am 1. Dezember 2008 ist er im Alter von 91 Jahren friedlich an Altersschwäche gestorben.
Über seine Berufungen als Bischof, Ratgeber in einer Pfahlpräsidentschaft, Ratgeber in der Sonntagsschulpräsidentschaft, als Assistent und später Mitglied des Ersten Kollegiums der Siebziger sagte er: „Jede Aufgabe, die ich im Gottesreich je übertragen bekam, hat mir große Freude bereitet.“ Als er am 4. Oktober 1986 als Mitglied des Kollegiums der Zwölf Apostel bestätigt wurde, erklärte er: „Wenn ich so diente, erschien mir jeder Tag wie ein Sonntag, weil ich eben im Dienst des Herrn stand.“4
Glaube und Football
Joseph Bitner Wirthlin wurde am 11. Juni 1917 in Salt Lake City geboren. Er war das erste der fünf Kinder von Joseph L. Wirthlin, der Präsidierender Bischof war, und Madeline Bitner Wirthlin. Josephs Vater sorgte für seine Familie als Inhaber der Firma Wirthlin’s Inc., eines Groß- und Einzelhandelsunternehmens für Lebensmittel, während seine Mutter ihre Kinder anhielt, sich vielseitig zu beschäftigen – darunter auch mit Musik und Sport. Joseph und Madeline brachten ihren Kindern bei, demütig, ehrlich und fleißig zu sein, Gutes zu tun und mitfühlend und gläubig zu sein.
Joseph junior hatte viele Talente, aber der Sport reizte ihn am meisten, und so erhielt er in der Highschool Auszeichnungen als Football- und Basketballspieler und als Läufer. Er war Quarterback an der East High School und später drei Jahre lang Runningback an der University of Utah.5
Vom Rednerpult aus berichtete Elder Wirthlin gern darüber, was er als Footballspieler gelernt hatte. Eine wichtige Lektion lernte er, als er bei einem Meisterschaftsspiel gerade unter zehn anderen Spielern begraben lag. Joseph hatte versucht, einen Touchdown zu landen, der den Sieg gebracht hätte, doch dann wurde er kurz vor der Ziellinie angegriffen.
„In diesem Moment war ich versucht, den Ball nach vorn zu schubsen. …… Ich [wäre] ein Held gewesen“, erzählte er. Doch dann kamen ihm die Worte seiner Mutter in den Sinn: „Joseph“, hatte sie ihm oft gesagt, „tu, was recht ist, und achte nicht auf die Folgen.“
Joseph wollte lieber ein Held in den Augen seiner Mutter als in den Augen seiner Mannschaftskameraden sein. „Also ließ ich den Ball dort, wo er war – fünf Zentimeter von der Ziellinie entfernt“6, erzählte er weiter.
Als im Jahr 1936 die Footballsaison vorbei war, wurde Joseph von seinem Vater angesprochen, ob er nicht auf Mission gehen wolle. Europa stand vor einem Krieg, und so musste Joseph bald gehen, wenn er die Gelegenheit nicht verpassen wollte.
„Ich wollte meinen Traum weiter verfolgen – wollte weiter Football spielen und mein Studium beenden“, berichtete Elder Wirthlin. „Wenn ich die Berufung auf Mission annahm, musste ich alles aufgeben. Damals diente man noch 30 Monate, und mir war klar, dass ich danach wohl kaum mehr Football spielen würde. Vielleicht konnte ich sogar mein Studium nicht mehr abschließen.“7
Aber Joseph hatte auch davon geträumt, ein Missionar zu sein, und so wusste er, was er zu tun hatte. Wenige Monate später war er auf dem Weg nach Europa, wo er von 1937 bis 1939 in der Deutsch-Österreichischen und der Schweizerisch-Österreichischen Mission diente.
Er spielte nie wieder Football, sondern schloss vielmehr ein Universitätsstudium mit Betriebswirtschaft als Hauptfach ab. „Und dennoch hat es mir nie leid getan, dass ich eine Mission erfüllt und mich entschlossen habe, dem Herrn zu dienen“, erklärte er. „Mein Leben ist dadurch spannender geworden; es hat geistige Erlebnisse gegeben und Freude, die alles übertrifft.“8
„Eine vollkommene Ehe“
An dem Heiligen Abend in Oberndorf hatte Elder Wirthlin sich unter anderem vorgenommen, eine geistig starke Frau zu heiraten, die nach dem Evangelium lebt. Er beschrieb seinem Mitarbeiter, wie sie aussehen sollte: 1 Meter 65 groß, blondes Haar und blaue Augen. Zweieinhalb Jahre nach seiner Mission lernte Elder Wirthlin Elisa Young Rogers kennen. Sie entsprach exakt seiner Beschreibung.
„Ich weiß noch, wie ich ihr das erste Mal begegnete“, erzählte Elder Wirthlin bei einer Konferenzansprache im Jahr 2006, zwei Monate nach ihrem Tod. „Um einem Freund einen Gefallen zu tun, fuhr ich zu ihrem Haus, um ihre Schwester, Frances, abzuholen. Elisa öffnete die Tür, und es war, zumindest für mich, Liebe auf den ersten Blick.
Sie muss wohl auch etwas empfunden haben, denn die ersten Worte, die ich je von ihr hörte, waren: ‚Ich wusste, wer du war.‘“
Elder Wirthlin scherzte über diesen grammatikalischen Fehler, zumal Elisa ja Englisch als Hauptfach studierte. Doch er sagte auch: „Bis zum heutigen Tag gehören diese fünf Wörter für mich zu den schönsten der menschlichen Sprache.“9
Sie heirateten am 26. Mai 1941 im Salt-Lake-Tempel und führten 65 Jahre lang eine, wie Elder Wirthlin sagte, „vollkommene Ehe“10. Sie stärkten, ermutigten und stützten einander, und sie berieten sich bei Entscheidungen. Elder Wirthlin ging nie aus dem Haus, ohne sich von Elisa mit einem Kuss zu verabschieden, und rief jeden Tag mehrmals an, um sich zu erkundigen, wie es ihr ging.11
Elder Wirthlins Vater wurde 1938 in die Präsidierende Bischofschaft berufen, und so übernahm Elder Wirthlin nach seiner Mission das Lebensmittelgeschäft der Familie. Später, als Elisa und er Kinder hatten, verbrachte er unzählige Stunden damit, den Anforderungen seiner Arbeit und den Pflichten in der Kirche Genüge zu tun. Doch Elisa und die Kinder, sieben Töchter und ein Sohn, waren immer sein ganzer Stolz. Elder Wirthlin hinterlässt 59 Enkelkinder und fast 100 Urenkel.
Liebe zu den Menschen
Alle, die Elder Wirthlin kannten, hatten ihn gern. Präsident Thomas S. Monson sagte von ihm, er sei „die Güte selbst“12. In den 33 Jahren, die Elder Wirthlin Generalautorität war, 22 Jahre davon auch Apostel, trat diese Güte immer wieder zutage, wenn er vom Erlöser und dessen wiederhergestelltem Evangelium Zeugnis gab – und zwar in Wort und Tat.
In aller Bescheidenheit und oft auch humorvoll hielt Elder Wirthlin die Mitglieder der Kirche dazu an, aus ihrem Leben auf Erden das Beste zu machen, indem sie dem Beispiel des Erlösers nacheifern. Dazu müsse man sich jedem Einzelnen zuwenden, sich um Freundlichkeit bemühen und seine Mitmenschen lieb haben, sagte er.
„Die am meisten geschätzten und heiligsten Augenblicke unseres Lebens sind die, die vom Geist der Liebe erfüllt sind“, betonte er. „Je größer unsere Liebe ist, desto größer ist unsere Freude. Letztendlich ist das wahre Maß für den Erfolg im Leben, ob wir solche Liebe entwickeln.“ Um zu lernen, wie man liebt, müssten wir nur über das Leben unseres Erlösers nachdenken, meinte er.13
„Wir sind alle sehr beschäftigt“, sagte Elder Wirthlin ein andermal. „Man findet leicht Entschuldigungen dafür, warum man sich nicht um andere kümmern kann, aber für den himmlischen Vater klingen sie vermutlich so hohl wie die Entschuldigung eines Grundschülers, der seiner Lehrerin eine Notiz mit der Bitte überreicht, ihn vom 30. bis zum 34. März vom Unterricht freizustellen.“14
Elder Wirthlin bestärkte die Mitglieder der Kirche auch darin, „jeden Tag … voller Dankbarkeit“ zu verbringen, ungeachtet aller Widerstände.15 „Wenn wir bedenken, welche Segnungen wir haben“, so meinte er, „[vergessen] wir manche unserer Sorgen.“16
Ein Zeugnis zum Abschied
„Der eine oder andere glaubt vielleicht, dass eine Generalautorität nur selten Schmerz, Leid und Kummer erlebt. Wenn dem doch nur so wäre!“, sagte Elder Wirthlin bei seiner letzten Ansprache auf einer Generalkonferenz. „Der Herr bewahrt in seiner Weisheit niemanden vor Leid und Traurigkeit.“17
Seinen größten Kummer erfuhr Elder Wirthlin mit dem Tod seiner geliebten Elisa. In den einsamen Stunden danach gab ihm „die tröstende Lehre vom ewigen Leben“ Kraft und auch sein Zeugnis, dass auf den finsteren Freitag, an dem der Erlöser gekreuzigt wurde, der helle Sonntag folgte, an dem er auferstand.18
Weil Elder Wirthlin ein festes Zeugnis vom Sühnopfer des Erretters hatte, wusste er, dass das Leben nicht mit dem Tod endet und dass die Glaubenstreuen, die in einem heiligen Tempel Gelübde abgelegt haben, sich einmal wiedersehen werden.
„Wir alle werden vom Grab auferstehen“, bezeugte er im Oktober 2006. „An diesem Tag wird mein Vater meine Mutter in die Arme schließen. An diesem Tag werde ich meine geliebte Elisa wieder in die Arme schließen.“19
Und an diesem Tag wird sich die Verpflichtung, die Elder Wirthlin an einem kalten Winterabend vor langer Zeit einging, endlich ausgezahlt haben.