Hoffnung
Unsere Hoffnung auf das Sühnopfer verleiht uns eine ewige Sichtweise.
Ich wuchs im Süden Utahs auf, einer öden Gegend hoch über dem Meeresspiegel. Es regnet selten und man kann nur hoffen, dass angesichts der kommenden Sommerhitze genügend Niederschlag fällt. Heute wie damals hofft und betet man dafür, dass es regnet; in schlimmen Zeiten fastet man auch dafür.
In dieser Gegend erzählt man sich, dass ein Großvater einmal mit seinem fünfjährigen Enkel in der Stadt spazieren ging. Schließlich machten sie in einem kleinen Lebensmittelgeschäft an der Hauptstraße Rast, um eine kalte Limonade zu kaufen. Ein Auto hielt an, und der Fahrer, der sich auf der Durchreise befand, ging auf den Großvater zu. Der Fremde deutete auf eine kleine Wolke am Himmel und fragte: „Meinen Sie, dass es regnen wird?“
„Das hoffe ich doch“, erwiderte der alte Mann, „nicht unbedingt um meinetwillen, aber wegen des Jungen. Ich weiß ja, wie Regen aussieht.“
Hoffnung ist ein Gefühl, das jeden Tag unseres Lebens reicher macht. Sie wird definiert als „Gefühl, dass alles gut werden wird“. Wer Hoffnung hat, „freut sich sehnlich und mit begründeter Zuversicht auf etwas“ (dictionary.reference.com/browse/hope). Hoffnung ist also ein besänftigender Einfluss, wenn wir voller Zuversicht Künftigem entgegenblicken.
Manchmal hoffen wir auf etwas, worauf wir nur wenig oder gar keinen Einfluss haben. Wir hoffen auf gutes Wetter. Wir hoffen, dass der Frühling bald beginnt. Wir hoffen, dass unsere Lieblingsmannschaft den Weltmeistertitel holt oder den Super Bowl oder das Finale gewinnt.
Solche Hoffnung macht das Leben interessant, führt jedoch oft dazu, dass man sich ungewöhnlich, sogar abergläubisch, verhält. Mein Schwiegervater beispielsweise, ein großer Sportfan, ist überzeugt: Wenn er ein Spiel seiner Lieblings-Basketballmannschaft im Fernsehen nicht anschaut, ist es wahrscheinlicher, dass sie gewinnt. Mit zwölf Jahren bestand ich darauf, bei jedem Baseballspiel der Jugendliga dieselben ungewaschenen Socken zu tragen, weil ich so die Hoffnung hatte, wir würden gewinnen. Meine Mutter bestand darauf, sie auf der Veranda hinterm Haus aufzubewahren.
Unsere Hoffnungen können aber auch zu Träumen führen, die uns inspirieren und uns dazu bringen, etwas zu tun. Wenn man darauf hofft, bessere Noten zu erzielen, kann man diese Hoffnung verwirklichen, indem man eifrig lernt und Opfer bringt. Wenn man hofft, dass die eigene Mannschaft gewinnt, kann diese Hoffnung zu einem besseren Training führen, zu Hingabe, Teamarbeit und schließlich zum Erfolg.
Roger Bannister war ein Medizinstudent in England, der eine sehr ehrgeizige Hoffnung hegte. Er wollte als Erster eine Meile unter vier Minuten laufen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts warteten Leichtathletik-Fans schon lange und sehnsüchtig darauf, dass jemand eine Meile in unter vier Minuten laufen würde. Im Laufe der Zeit hatten viele Läufer es beinahe geschafft, aber unter vier Minuten war noch keiner gekommen. Bannister hielt sich an einen ehrgeizigen Trainingsplan und hoffte darauf, sein Ziel zu erreichen und einen neuen Weltrekord aufzustellen. In der Sportwelt bezweifelte manch einer inzwischen, ob die Strecke in weniger als vier Minuten überhaupt zu schaffen sei. Angebliche Experten vermuteten sogar, der menschliche Körper sei physiologisch gar nicht imstande, über eine so lange Strecke ein so hohes Tempo beizubehalten. Am 6. Mai 1954, einem bewölkten Tag, verwirklichte Roger Bannister seine Hoffnungen. Er überquerte die Ziellinie nach 3 Minuten und 59,4 Sekunden – und stellte einen neuen Weltrekord auf. Seine Hoffnung, eine Meile in unter vier Minuten zu laufen, wurde zum Traum, und diesen erfüllte er sich durch Training, harte Arbeit und Hingabe.
Hoffnung kann Träume wecken und uns anspornen, diese zu verwirklichen. Hoffnung allein führt jedoch nicht zum Erfolg. Viele gute Hoffnungen wurden nicht erfüllt und sind an den Klippen guter Absichten und Faulheit zerschellt.
Als Eltern setzen wir die größten Hoffnungen in unsere Kinder. Wir hoffen, dass sie einmal verantwortungsbewusst und rechtschaffen leben. Solche Hoffnungen werden schnell zunichtegemacht, wenn wir kein gutes Beispiel geben. Hoffnung allein reicht nicht aus, damit unsere Kinder rechtschaffen bleiben. Wir müssen Zeit mit ihnen verbringen, etwa beim Familienabend und bei sinnvollen Aktivitäten. Wir müssen ihnen beibringen, wie man betet. Wir müssen mit ihnen in den heiligen Schriften lesen und sie wichtige Evangeliumsgrundsätze lehren. Nur dann ist es möglich, dass unsere größten Hoffnungen wahr werden.
Wir dürfen nie zulassen, dass Verzweiflung die Hoffnung vertreibt. Der Apostel Paulus schrieb, man solle seine Arbeit erwartungsvoll verrichten (vgl. 1 Korinther 9:10). Wenn man Hoffnung hat, wird das Leben reicher und man blickt der Zukunft freudig entgegen. Ob bei der Arbeit oder allgemein im Leben – es ist unumgänglich, dass wir als Heilige der Letzten Tage Hoffnung haben.
Im Evangelium Jesu Christi ist Hoffnung der Wunsch seiner Jünger, durch das Sühnopfer des Heilands Errettung zu erlangen.
Dies ist wahrhaftig die Hoffnung, die wir alle haben müssen. Sie unterscheidet uns vom Rest der Welt. Petrus ermahnte die Nachfolger Christi zu jener Zeit: „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt.“ (1 Petrus 3:15.)
Unsere Hoffnung auf das Sühnopfer verleiht uns eine ewige Sichtweise. Diese Sichtweise ermöglicht es uns, übers Erdenleben hinaus auf das zu blicken, was in der Ewigkeit auf uns wartet. Wir brauchen uns nicht von den engen Grenzen einschränken zu lassen, die die unstete Gesellschaft vorgibt. Wir können, an unsere Familie und alle unsere Lieben gesiegelt, freudig der celestialen Herrlichkeit entgegensehen.
Im Evangelium hängt Hoffnung fast immer eng mit Glauben und Nächstenliebe zusammen. Präsident Dieter F. Uchtdorf hat gesagt: „Hoffnung ist ein Bein eines dreibeinigen Hockers, die anderen beiden sind Glauben und Nächstenliebe. Diese drei geben unserem Leben Halt, egal wie rau und uneben die Lage ist, in der wir uns befinden.“ („Die unendliche Macht der Hoffnung“, Liahona, November 2008, Seite 21.)
Der Prophet Moroni schreibt im letzten Kapitel des Buches Mormon:
„Darum muss es Glauben geben; und wenn es Glauben geben muss, dann muss es auch Hoffnung geben; und wenn es Hoffnung geben muss, dann muss es auch Nächstenliebe geben.
Und wenn ihr keine Nächstenliebe habt, könnt ihr keineswegs im Reich Gottes errettet werden; auch könnt ihr nicht im Reich Gottes errettet werden, wenn ihr nicht Glauben habt; auch könnt ihr es nicht, wenn ihr keine Hoffnung habt.“ (Moroni 10:20,21.)
Elder Russell M. Nelson hat gesagt: „Der Glaube ist in Jesus Christus begründet. Hoffnung beruht auf dem Sühnopfer. Nächstenliebe zeigt sich in der ,reinen Christusliebe‘. Die drei Eigenschaften gehören zusammen wie die Adern in einem Kabel und können nicht immer völlig voneinander abgegrenzt werden. Gemeinsam sind sie unser Bindeglied zum celestialen Reich.“ („A More Excellent Hope“, Ensign, Februar 1997, Seite 61.)
Nachdem Nephi am Ende seines Berichts über Jesus Christus prophezeit hatte, schrieb er: „Darum müsst ihr mit Beständigkeit in Christus vorwärtsstreben, erfüllt vom vollkommenen Glanz der Hoffnung und von Liebe zu Gott und zu allen Menschen.“ (2 Nephi 31:20.)
Dieser „vollkommene Glanz der Hoffnung“, von dem Nephi spricht, ist die Hoffnung auf das Sühnopfer, die ewige Errettung, die uns durch das Opfer des Heilands ermöglicht wird. Diese Hoffnung hat schon immer dazu geführt, dass Menschen Bemerkenswertes zustande brachten. Die Apostel aus alter Zeit reisten weit und gaben Zeugnis von Jesus Christus, und letztlich gaben sie in seinem Dienst sogar ihr Leben.
In dieser Evangeliumszeit ließen viele Mitglieder der Kirche ihre Heimat zurück. Ihr Herz war voller Hoffnung und Glauben, als sie über die Prärie westwärts ins Salzseetal zogen.
1851 schloss sich Mary Murray Murdoch in Schottland der Kirche an. Sie war eine Witwe von 67 Jahren. Diese kleine Frau war nur einen Meter vierzig groß und wog nicht einmal 41 Kilo. Sie hatte acht Kinder zur Welt gebracht, von denen zwei im Kindesalter verstorben waren. Wegen ihrer Größe nannten ihre Kinder und Enkel sie liebevoll „wee Granny“ – „kleine Omi“.
Ihr Sohn, John Murdoch, und seine Frau schlossen sich der Kirche an. 1852 wanderten sie mit ihren beiden kleinen Kindern nach Utah aus. Trotz der Not, die seine eigene Familie litt, schickte John vier Jahre später seiner Mutter die notwendigen Mittel, damit sie zu ihrer Familie nach Salt Lake City kommen konnte. Erfüllt von einer Hoffnung, die ihre Körpergröße weit überstieg, trat Mary mit 73 Jahren die mühsame Reise westwärts nach Utah an.
Nachdem sie sicher über den Atlantik gekommen war, schloss sie sich der unglückseligen Handkarrengruppe Martin an. Diese Pioniere machten sich am 28. Juli auf den Weg in den Westen. Was diese Handkarrengruppe durchmachen musste, ist wohlbekannt. Von den 576 Pionieren verstarb fast ein Viertel auf dem Weg nach Utah. Viele weitere wären gestorben, wenn Präsident Brigham Young keine Hilfsmaßnahmen ergriffen und den im Schnee festsitzenden Heiligen Wagen und Vorräte hätte zukommen lassen.
Mary Murdoch verstarb am 2. Oktober 1856 in der Nähe des Chimney Rock in Nebraska. Hier erlag sie der Erschöpfung und den Belastungen und Strapazen der Reise. Ihr zerbrechlicher Körper konnte den körperlichen Zumutungen, denen die Heiligen ausgesetzt waren, einfach nicht standhalten. In ihren letzten Atemzügen dachte sie an ihre Familie in Utah. Die letzten Worte dieser treuen Pionierin lauteten: „Sagt John, dass ich mit dem Blick nach Zion gestorben bin.“ (Siehe Kenneth W. Merrell, Scottish Shepherd: The Life and Times of John Murray Murdoch, Utah Pioneer, 2006, Seite 34, 39, 54, 77, 94ff., 103, 112f., 115.)
Mary Murray Murdoch ist beispielhaft für die Hoffnung und den Glauben so vieler Pioniere, die mutig die Reise in den Westen antraten. Die geistigen Reisen, die wir heutzutage bestreiten, erfordern nicht weniger Glauben und Hoffnung als die der Pioniere von damals. Wir sind zwar mit anderen Schwierigkeiten konfrontiert, aber der Kampf ist nicht leichter.
Ich bete darum, dass unsere Hoffnungen dazu führen, dass unsere rechtschaffenen Träume in Erfüllung gehen. Ich bete besonders darum, dass unsere Hoffnung auf das Sühnopfer unseren Glauben stärkt, unsere Nächstenliebe vertieft und unseren Blick auf unsere Zukunft lenkt. Mögen wir alle diesen vollkommenen Glanz der Hoffnung haben. Im Namen Jesu Christi. Amen.