2011
Das Sühnopfer schließt alle Schmerzen mit ein
Mai 2011


Das Sühnopfer schließt alle Schmerzen mit ein

Die große Herausforderung im Erdenleben besteht für uns alle darin, durch das Sühnopfer Christi selbst ein Heiliger zu werden.

Elder Kent F. Richards

Als Chirurg stellte ich fest, dass ich in meinem Beruf einen Großteil meiner Zeit mit Schmerzen zu tun hatte. Zwangsläufig rief ich im OP nahezu jeden Tag welche hervor – und bemühte mich dann, sie wieder in den Griff zu bekommen und zu lindern.

Ich habe über den Zweck von Schmerzen nachgedacht. Niemand von uns ist davor gefeit. Ich habe beobachtet, dass Menschen ganz unterschiedlich damit umgehen. Einige wenden sich voller Zorn von Gott ab, während andere durch ihr Leiden Gott näherkommen.

Genau wie Sie habe auch ich Schmerzen erfahren. Schmerzen sind ein Gradmesser für die Heilung. Sie lehren uns oft Geduld. Vielleicht bezeichnen wir den Kranken als Patienten, weil die Wurzel dieses Wortes „erdulden“ bedeutet.

Elder Orson F. Whitney schrieb einmal: „Kein Schmerz, den wir ertragen, keine Prüfung, die wir durchmachen, ist vergebens. Dies alles dient zu unserer Erziehung, zur Entwicklung solcher Eigenschaften wie Geduld, Glaube, Standhaftigkeit und Demut. … Durch Kummer und Leid, durch Mühsal und Bedrängnisse lernen wir das, was wir hier auf der Erde lernen sollen.“1

Ähnlich hat Elder Robert D. Hales es ausgedrückt:

„Der Schmerz stimmt uns demütig, und dadurch kommen wir zum Nachdenken. Ich bin dankbar, dass ich das erleben durfte. …

Ich erkannte, dass körperliche Schmerzen und die körperliche Heilung nach einer größeren Operation durchaus vergleichbar sind mit dem geistigen Schmerz und der seelischen Heilung während der Umkehr.“2

Viele Leiden sind nicht unbedingt selbstverschuldet. Unerwartete Ereignisse, widrige Umstände, Enttäuschungen, gesundheitliche Einschränkungen, ja sogar der Tod umgeben uns und durchdringen unser Erdendasein. Darüber hinaus geraten wir vielleicht auch durch die Taten anderer in Bedrängnis.3 Lehi stellte fest, dass Jakob „Bedrängnisse und viel Kummer ertragen [hatte] wegen der Rohheit [seiner] Brüder“.4 Widerstand gehört zum Plan des Glücklichseins, den der Vater im Himmel aufgestellt hat. Wir alle stoßen oft genug darauf, um gewahr zu werden, dass unser Vater uns liebt und dass wir die Hilfe des Erretters brauchen.

Der Heiland ist kein stiller Beobachter. Er kennt die Schmerzen, die wir leiden, uneingeschränkt aus eigener Erfahrung.

„Er erleidet die Schmerzen aller Menschen, ja, die Schmerzen jedes lebenden Geschöpfes, sowohl der Männer als auch der Frauen und Kinder.“5

„Lasst uns also voll Zuversicht hingehen zum Thron der Gnade, damit wir Erbarmen und Gnade finden und so Hilfe erlangen zur rechten Zeit.“6

Manchmal sind wir im tiefsten Schmerz versucht zu fragen: „Gibt es denn keinen Balsam in Gilead, ist dort kein Wundarzt?“7 Ich bezeuge, dass die Antwort lautet: Doch, es gibt einen Wundarzt. Das Sühnopfer Jesu Christi schließt all diese Gegebenheiten und die Bestimmung des irdischen Lebens mit ein.

Es gibt eine andere Art von Schmerzen, für die wir selbst die Verantwortung tragen. Geistiger Schmerz sitzt tief in unserer Seele und mag uns unauslöschlich vorkommen; so, als ob wir von „unaussprechlichem Entsetzen“ gepeinigt würden, wie Alma es beschreibt.8 Er ist die Folge von sündhaftem Tun und fehlender Umkehr. Auch für diesen Schmerz gibt es ein allumfassendes und unumschränkt wirksames Heilmittel. Es kommt vom Vater, durch den Sohn, und ist für jeden von uns bestimmt, der bereit ist, alles zu tun, was für die Umkehr erforderlich ist. Christus hat gesagt: „Wollt ihr nicht jetzt zu mir zurückkommen … und euch bekehren, damit ich euch heile?“9

Er hat auch verkündet:

„Und mein Vater hat mich gesandt, damit ich auf das Kreuz emporgehoben würde und damit ich, nachdem ich auf das Kreuz emporgehoben worden sei, alle Menschen zu mir zöge, …

Darum werde ich gemäß der Macht des Vaters alle Menschen zu mir ziehen.“10

Seine vielleicht bedeutendste Aufgabe ist das ständige Bemühen um einen jeden von uns, um uns emporzuziehen, zu segnen, zu stärken, zu stützen, zu leiten und zu vergeben.

Wie Nephi in einer Vision gesehen hat, bestand ein Großteil des irdischen Wirkens Christi darin, Kranke zu segnen und zu heilen; Menschen mit allerart Leiden – körperlich, seelisch und geistig. „Und ich sah Scharen von Menschen, die siech waren und die von allerart Krankheiten bedrängt wurden … Und sie wurden durch die Macht des Lammes Gottes geheilt.“11

Alma hat auch prophezeit, dass er „hingehen und Schmerzen und Bedrängnisse und Versuchungen jeder Art leiden [wird]; und [er wird] die Schmerzen und die Krankheiten seines Volkes auf sich nehmen …,

auf dass sein Inneres von Barmherzigkeit erfüllt sei …, damit er gemäß dem Fleische wisse, wie er seinem Volk beistehen könne gemäß dessen Schwächen“.12

Eines späten Abends, als ich in einem Krankenhausbett lag, diesmal als Patient und nicht als Arzt, las ich diese Verse immer wieder. Ich überlegte: „Wie geschieht das? Für wen? Was berechtigt dazu? Ist das wie mit der Sündenvergebung? Müssen wir uns seine Liebe und seine Hilfe verdienen?“ Als ich so nachsann, erkannte ich, dass Christus während seines irdischen Lebens freiwillig Schmerzen und Bedrängnis ertragen hatte, um uns zu verstehen. Vielleicht müssen auch wir die Tiefpunkte des Erdenlebens kennenlernen, um ihn und unsere ewige Bestimmung zu verstehen.13

Präsident Henry B. Eyring hat gesagt: „Wenn wir in unserer Not auf die verheißene Hilfe des Erlösers warten müssen, ist es tröstlich zu wissen, dass er aus Erfahrung weiß, wie er uns heilen und uns helfen kann. … Der Glaube an diese Macht schenkt uns Geduld, während wir beten, uns anstrengen und auf Hilfe warten. Jesus hätte schlicht und einfach durch Offenbarung erfahren können, wie er uns beistehen kann, aber er entschied sich dafür, aus eigener Erfahrung zu lernen.14

Ich habe an diesem Abend gespürt, wie er mich „mit den Armen [seiner] Liebe“15 umschloss. Tränen benetzten mein Kissen, so dankbar war ich. Als ich später im Matthäusevangelium über das irdische Wirken Christi las, machte ich eine weitere Entdeckung: „Am Abend brachte man viele … zu ihm … und [er] heilte alle Kranken.“16 Er heilte alle, die zu ihm kamen. Niemand wurde abgewiesen.

Elder Dallin H. Oaks hat erklärt: „Heilende Segnungen kommen auf vielerlei Weise, immer auf unsere individuellen Bedürfnisse abgestimmt, die ihm, der uns am meisten liebt, bekannt sind. Manchmal befreit uns eine ‚Heilung‘ von unserer Krankheit oder Last. Aber manchmal werden wir ,geheilt‘, indem uns die Kraft, die Einsicht oder die Geduld gegeben wird, die Lasten zu tragen, die uns auferlegt werden.“17 Alle, die kommen wollen, kann „Jesus … in seine Arme … schließen“.18 Alle Menschen können durch seine Macht geheilt werden. Jeder Schmerz kann gelindert werden. In ihm können wir „Ruhe finden für [unsere] Seele“.19 Unsere Lebensumstände ändern sich vielleicht nicht sofort, aber unser Schmerz, unsere Sorgen, unsere Leiden und unsere Furcht können in seinem Frieden und seinem heilenden Balsam verschlungen werden.

Mir ist aufgefallen, dass Kinder Schmerz und Leid oftmals auf natürlichere Weise hinnehmen. Sie ertragen es still in Demut und Sanftmut. Ich habe gespürt, dass diese Kleinen von einem guten, wunderbaren Geist umgeben sind.

Die 13-jährige Sherrie unterzog sich einer 14-stündigen Operation wegen eines Rückenmarkstumors. Als sie auf der Intensivstation wieder zu sich kam, sagte sie: „Papa, Tante Cheryl ist hier, und … Opa Norman … und Oma Brown … sind hier. Und, Papa, wer ist das, der neben dir steht? … Er sieht so aus wie du, nur etwas größer. … Er sagt, er ist dein Bruder Jimmy.“ Ihr Onkel Jimmy war mit 13 Jahren an Mukoviszidose gestorben.

„Fast eine Stunde lang beschrieb Sherrie ihre Besucher, die allesamt verstorbene Mitglieder der Familie waren. Dann schlief sie erschöpft ein.“

Später erzählte sie ihrem Vater: „Papa, alle Kinder hier auf der Intensivstation haben Engel, die ihnen helfen.“20

Zu uns allen hat der Erretter gesagt:

„Siehe, ihr seid kleine Kinder, und ihr könnt jetzt noch nicht alles ertragen; ihr müsst in der Gnade und in der Erkenntnis der Wahrheit wachsen.

Fürchtet euch nicht, kleine Kinder, denn ihr seid mein. …

Darum bin ich mitten unter euch, und ich bin der gute Hirte.“21

Die große Herausforderung im Erdenleben besteht für uns alle darin, „durch das Sühnopfer Christi“22 selbst ein Heiliger zu werden. Vielleicht wird dieser Vorgang hauptsächlich an den Schmerzen, die wir erleiden, gemessen. In äußerster Not können wir im Herzen wie Kinder werden, uns demütigen und geduldig „beten, uns anstrengen und … warten“23, dass unsere Seele und unser Körper geheilt werden. Gleich Ijob werden wir, nachdem wir durch unsere Prüfungen geläutert wurden, wie Gold daraus hervorgehen.24

Ich gebe Zeugnis, dass Jesus Christus unser Erlöser ist, unser Freund, unser Fürsprecher, der große Arzt und der große Heiler. In ihm können wir trotz unserer Schmerzen und Sünden Trost finden und Linderung erfahren, wenn wir nur mit demütigem Herzen zu ihm kommen. Seine „Gnade ist ausreichend“.25 Im Namen Jesu Christi. Amen.