2011
Ihr Potenzial, Ihr Anrecht
Mai 2011


Ihr Potenzial, Ihr Anrecht

Wenn Sie in den heiligen Schriften lesen und mit Herz und Sinn hundertprozentig den Worten der Propheten lauschen, wird der Herr Ihnen eingeben, wie Sie dem gerecht werden, was Ihnen durch Ihr Priestertum zusteht.

President Dieter F. Uchtdorf

Es war einmal ein Mann, der sein Leben lang davon geträumt hatte, eine Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer zu machen. Er träumte davon, durch Rom, Athen und Istanbul zu spazieren. Er sparte jeden Pfennig, bis er genügend Geld für die Fahrt beisammenhatte. Da seine Mittel knapp waren, nahm er einen zusätzlichen Koffer mit, der mit Bohnenkonserven, Keksdosen und Getränkepulver gefüllt war. Davon ernährte er sich jeden Tag.

Er hätte liebend gern die vielen Freizeitangebote auf dem Schiff wahrgenommen – Fitnesstraining in der Sporthalle, Minigolf spielen oder im Pool schwimmen. Er beneidete alle, die ins Kino, in eine Show oder zu einem Folkloreabend gingen. Und wie sehr sehnte er sich doch danach, nur ein klein wenig von dem fantastischen Essen, das er auf dem Schiff sah, zu kosten – jede Mahlzeit sah wie ein Festmahl aus! Aber der Mann wollte möglichst wenig Geld ausgeben, sodass er auf dies alles verzichtete. Er konnte die Städte sehen, die er schon so lange hatte besuchen wollen, aber den größten Teil der Reise verbrachte er in seiner Kabine, wo er seinen kargen Proviant verzehrte.

Am letzten Tag der Kreuzfahrt fragte ihn ein Besatzungsmitglied, an welcher der Abschiedspartys er teilnehmen wolle. Erst da erfuhr der Mann, dass nicht nur die Abschiedsparty, sondern fast alles auf dem Kreuzfahrtschiff – das Essen, die Unterhaltung, all die Freizeitangebote – im Preis für den Fahrschein inbegriffen war. Zu spät erkannte er, dass er sich mit weit weniger zufrieden gegeben hatte, als ihm zugestanden hatte.

Dieses Gleichnis wirft die Frage auf: Begnügen wir uns als Priestertumsträger mit weniger, als uns zusteht, wenn es um die heilige Macht, die Gaben und Segnungen geht, auf die alle, die das Priestertum Gottes tragen, Zugriff haben und Anspruch erheben können?

Das Priestertum ist herrlich und erhaben

Wir alle wissen, dass das Priestertum viel mehr ist als nur eine Bezeichnung oder ein Titel. Der Prophet Joseph Smith hat erläutert, dass „das Priestertum … ein immerwährendes Prinzip [ist und] mit Gott von Ewigkeit her existiert [hat], wie es auch in alle Ewigkeit existieren wird, ohne Anfang der Tage und Ende der Jahre“.1 Es hat „den Schlüssel der Gotteserkenntnis“2 inne, ja, durch das Priestertum wird selbst „die Macht des Göttlichen kundgetan“.3

Die Segnungen des Priestertums übersteigen unsere Vorstellungskraft. Diejenigen, die das Melchisedekische Priestertum tragen und treu sind, können „die Auserwählten Gottes“4 werden. Sie „werden vom Geist geheiligt, sodass sich ihr Körper erneuern wird“5, und können schließlich „alles …, was [der] Vater hat“6, empfangen. Dies mag schwer zu begreifen sein, dennoch ist es wunderbar, und ich bezeuge, dass es wahr ist.

Dass der Vater im Himmel den Menschen mit dieser Macht und Verantwortung betraut, beweist seine große Liebe zu uns und lässt erahnen, welches Potenzial wir als Söhne Gottes im Jenseits haben.

Dennoch legt unser Verhalten zu oft den Verdacht nahe, dass wir dieses Potenzial bei weitem nicht ausschöpfen. Wenn wir zum Priestertum befragt werden, können viele von uns eine korrekte Definition aufsagen, aber im Alltag weist möglicherweise nur wenig darauf hin, dass unsere Erkenntnis über das Niveau eines einstudierten Textes hinausgeht.

Brüder, wir stehen vor einer Entscheidung. Wir können uns mit einer kümmerlichen Erfahrung als Priestertumsträger zufriedengeben und uns mit weit weniger abfinden, als uns zusteht. Oder wir laben uns an einem üppigen Festmahl geistiger Möglichkeiten und allumfassender Segnungen des Priestertums.

Wie können wir unserem Potenzial gerecht werden?

Die Worte, die in den heiligen Schriften festgehalten sind und die bei der Generalkonferenz gesprochen werden, sollen wir auf uns beziehen7 und nicht nur lesen oder anhören.8 Allzu oft besuchen wir eine Versammlung und nicken mit dem Kopf; vielleicht lächeln wir sogar wissend und zustimmend. Wir notieren ein paar Punkte und sagen uns möglicherweise: „Das mache ich!“ Aber irgendwo zwischen dem Hören, dem Abfassen einer Erinnerungsnotiz auf dem Smartphone und dem tatsächlichen Handeln stellt sich unser Schalter „Tu es“ auf die Position „später“. Brüder, achten wir doch darauf, dass der Schalter „Tu es“ immer auf die Position „jetzt“ gestellt ist!

Wenn Sie in den heiligen Schriften lesen und mit Herz und Sinn hundertprozentig den Worten der Propheten lauschen, wird der Herr Ihnen eingeben, wie Sie dem gerecht werden, was Ihnen durch Ihr Priestertum zusteht. Lassen Sie keinen Tag verstreichen, ohne den Eingebungen des Heiligen Geistes zu folgen.

Erstens: Lesen Sie das Benutzerhandbuch

Wenn Sie den modernsten und teuersten Computer der Welt besäßen, würden Sie ihn dann lediglich als Schreibtischdekoration verwenden? Der Computer mag beeindruckend aussehen. Er mag ein großes Potenzial an Möglichkeiten bieten. Aber erst wenn Sie das Benutzerhandbuch aufmerksam lesen, lernen, mit der Software umzugehen, und den Computer einschalten, können Sie dieses Potenzial auch voll ausschöpfen.

Für das heilige Priestertum Gottes gibt es ebenfalls ein Benutzerhandbuch. Fassen wir doch den Vorsatz, die heiligen Schriften und die Handbücher zielbewusster und konzentrierter zu lesen. Beginnen wir damit, dass wir erneut Abschnitt 20, 84, 107 und 121 im Buch Lehre und Bündnisse lesen. Je eingehender wir uns mit dem Zweck, dem Potenzial und der praktischen Anwendung des Priestertums befassen, desto mehr wird uns die Macht des Priestertums in Erstaunen versetzen, und der Geist wird uns lehren, wie wir auf diese Macht zugreifen und sie zum Wohle unserer Familie, der Gesellschaft und der Kirche nutzen können.

Als Mitglieder der Kirche legen wir zu Recht großen Wert auf weltliche Bildung und berufliche Weiterentwicklung. Wir wollen und müssen in Wissenschaft und Handwerk hervorragende Leistungen erbringen. Ich möchte Sie loben, weil Sie eifrig danach streben, eine gute Ausbildung zu erlangen und ein Fachmann auf Ihrem Gebiet zu werden. Und ich bitte Sie, auch auf dem Gebiet der Lehren des Evangeliums ein Fachmann zu werden – vor allem in der Lehre des Priestertums.

Wir leben in einer Zeit, in der die heiligen Schriften und die Worte neuzeitlicher Propheten leichter zugänglich sind als je zuvor in der Weltgeschichte. Daher haben wir nicht nur ein Anrecht, sondern auch die Pflicht und die Verantwortung, diese Worte aufzugreifen und zu begreifen. Die Grundsätze und Lehren des Priestertums sind erhaben und himmlisch. Je eingehender wir uns mit der Lehre und dem Potenzial befassen und dem praktischen Zweck des Priestertums Rechnung tragen, desto mehr wird sich unsere Seele erweitern und wird unser Verständnis vertieft, und wir werden erkennen, was der Herr für uns bereithält.

Zweitens: Bemühen Sie sich um Offenbarungen des Geistes

Zu einem sicheren Zeugnis von Jesus Christus und seinem wiederhergestellten Evangelium gehört mehr als Erkenntnis – man braucht persönlich Offenbarung, die gefestigt wird, wenn Evangeliumsgrundsätze aufrichtig und fleißig in die Tat umgesetzt werden. Der Prophet Joseph Smith hat erklärt, das Priestertum sei ein „Kanal, über den der Allmächtige begonnen hat, am Anfang der Erschaffung dieser Erde seine Herrlichkeit zu offenbaren, und über den er sich den Menschenkindern bis zur gegenwärtigen Zeit weiter offenbart hat“.9

Wenn wir uns nicht darum bemühen, diesen Kanal der Offenbarung zu nutzen, begnügen wir uns mit weniger, als uns als Priestertumsträgern zusteht. Da gibt es beispielsweise diejenigen, die glauben, aber nicht wissen, dass sie glauben. Sie haben durch die sanfte, leise Stimme über längere Zeit hinweg immer wieder Antworten erhalten, aber diese Inspiration erscheint ihnen so gering und unbedeutend, dass sie sie nicht als solche erkennen. Dies hat zur Folge, dass sie sich durch Zweifel davon abhalten lassen, ihr Potenzial als Priestertumsträger auszuschöpfen.

Offenbarung und ein Zeugnis empfängt man nicht unbedingt mit erdrückender Wucht. Viele erlangen ein Zeugnis ganz allmählich – Schritt für Schritt. Manchmal geht diese Entwicklung so unmerklich vor sich, dass man sich kaum an den genauen Augenblick erinnern kann, als man tatsächlich wusste, dass das Evangelium wahr ist. Der Herr gibt uns „Zeile um Zeile …, Weisung um Weisung, hier ein wenig und dort ein wenig“.10

In mancher Hinsicht ist unser Zeugnis wie ein Schneeball, der mit jeder Umdrehung größer wird. Wir beginnen mit einer kleinen Menge Licht – und wenn es nur der Wunsch ist, zu glauben. Nach und nach „hält [Licht] fest an Licht“11, und „wer Licht empfängt und in Gott verbleibt, empfängt mehr Licht; und jenes Licht wird heller und heller bis zum vollkommenen Tag“12, wenn wir „zur gegebenen Zeit von seiner Fülle empfangen“13.

Überlegen Sie einmal, wie herrlich es ist, dass wir unsere irdischen Einschränkungen durchbrechen können, dass die Augen unseres Verständnisses aufgetan werden und wir aus himmlischen Quellen Licht und Erkenntnis empfangen! Als Priestertumsträgern steht es uns zu und ist es uns möglich, uns um persönliche Offenbarung zu bemühen und zu lernen, wie wir durch das sichere Zeugnis des Heiligen Geistes selbst die Wahrheit erkennen können.

Bemühen wir uns doch aufrichtig um das Licht persönlicher Inspiration. Bitten wir den Herrn inständig, in unserem Verstand und unserer Seele den Funken Glauben zu entfachen, der uns befähigt, das göttliche Wirken des Heiligen Geistes in unseren konkreten Lebensumständen und in unseren Herausforderungen und Priestertumspflichten zu empfangen und zu erkennen.

Drittens: Finden Sie Freude am Dienst im Priestertum

In meiner beruflichen Laufbahn als Flugkapitän konnte ich auch Piloten prüfen und ausbilden. Zu dieser Aufgabe gehörte auch, erfahrene Piloten zu schulen und zu testen, damit sichergestellt war, dass sie das notwendige Wissen und Können besaßen, so ein prächtiges großes Düsenflugzeug sicher und geschickt zu bedienen.

Ich stellte fest, dass es Piloten gab, denen selbst nach vielen Jahren Flugerfahrung nie die Faszination abhandengekommen war, in die Atmosphäre emporzusteigen, nachdem sie „den zähen Fesseln der Erde entkommen waren und auf silbrigen Schwingen fröhlich durch die Lüfte tanzten“.14 Sie begeisterte der Klang des brausenden Luftstroms, das Dröhnen der kraftvollen Motoren und das Gefühl, „eins zu sein mit dem Wind und eins mit dem dunklen Himmel und den Sternen da droben“.15 Ihre Begeisterung war ansteckend.

Es gab auch einige wenige, die ihre Arbeit völlig mechanisch zu verrichten schienen. Sie beherrschten die Systeme und die Handhabung des Flugzeugs, aber die Freude daran, dort zu fliegen, „wo nie die Lerche oder gar ein Adler flog“16, war irgendwo auf der Strecke geblieben. Sie hatten auf ihren Flügen über Meere und Kontinente das ehrfürchtige Staunen über einen glühenden Sonnenaufgang, über die Schönheit von Gottes Schöpfungen verloren. Wenn sie die offiziellen Anforderungen erfüllten, erhielten sie von mir die Zulassung, aber sie taten mir gleichzeitig auch leid.

Vielleicht wollen Sie sich einmal fragen, ob Sie als Priestertumsträger Ihre Arbeit nur mechanisch verrichten – tun, was erwartet wird, aber nicht die Freude erleben, die Sie dabei empfinden sollten. Wer das Priestertum trägt, hat reichlich Gelegenheit, die Freude zu verspüren, die Ammon zum Ausdruck brachte: „Haben wir also nicht großen Grund, uns zu freuen? … Wir sind Werkzeuge in [den Händen des Herrn] gewesen, um dieses große und wunderbare Werk zu verrichten. Darum lasst uns frohlocken [im Herrn;] ja, wir wollen uns freuen.“17

Brüder, unsere Religion ist eine Religion der Freude! Es ist ein enormer Segen, das Priestertum Gottes tragen zu dürfen! In den Psalmen lesen wir: „Wohl dem Volk, das dich als König zu feiern weiß! Herr, sie gehen im Licht deines Angesichts.“18 Wir können diese große Freude erleben, wenn wir nur nach ihr Ausschau halten.

Zu oft versäumen wir es, das Glück zu erfahren, welches das tägliche, praktische Dienen im Priestertum mit sich bringt. Manchmal empfinden wir unsere Aufträge als Last. Brüder, ziehen wir doch nicht müde, gequält oder jammernd die Decke über den Kopf. Wir begnügen uns mit weniger, als uns zusteht, wenn wir zulassen, dass weltliche Hemmnisse uns von der übergroßen Freude abhalten, die durch treues, hingebungsvolles Dienen im Priestertum entsteht – vor allem in den eigenen vier Wänden. Wir begnügen uns mit weniger, als uns zusteht, wenn wir es versäumen, von dem Festmahl des Glücks, des Friedens und der Freude zu kosten, das Gott jedem, der treu im Priestertum dient, so reichlich gewährt.

Ihr jungen Männer, wenn ihr es eher beschwerlich als segensreich findet, früh zur Kirche zu kommen, um bei der Vorbereitung des Abendmahls mitzuhelfen, fordere ich euch auf, darüber nachzudenken, was diese heilige Handlung für ein Gemeindemitglied bedeuten kann, das vielleicht eine sehr schwierige Woche hinter sich hat. Brüder, wenn Sie meinen, Ihre Bemühungen als Heimlehrer seien wirkungslos, fordere ich Sie auf, mit gläubigem Auge zu erkennen, was der Besuch eines Dieners des Herrn bei einer Familie auslöst, die im Verborgenen viele Probleme hat. Wenn Sie das göttliche Potenzial Ihres Priestertumsdienstes begreifen, wird der Geist Gottes Ihnen Herz und Sinn erfüllen, und Ihre Augen und Ihr Gesicht werden diesen Geist ausstrahlen.

Mögen wir als Priestertumsträger nie so gefühllos werden, dass wir nicht mehr erkennen, wie wunderbar und erstaunlich das ist, was der Herr uns anvertraut hat.

Zum Abschluss

Meine lieben Brüder, mögen wir eifrig danach streben, die Lehre des heiligen Priestertums zu lernen, mögen wir unser Zeugnis Zeile um Zeile stärken, indem wir die Offenbarungen des Geistes empfangen, und mögen wir beim täglichen Dienen im Priestertum wahre Freude finden. Dann beginnen wir, unserem Potenzial und dem, was uns als Priestertumsträgern zusteht, gerecht zu werden, und wir werden imstande sein, durch Christus, der uns Kraft gibt19, alles zu tun. Davon gebe ich Zeugnis als Apostel des Herrn, und ich segne Sie im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.