2012
Was denkt Christus über mich?
Mai 2012


Was denkt Christus über mich?

Wenn Sie den Herrn lieben, ihm vertrauen, ihm glauben und ihm folgen, werden Sie seine Liebe und seine Zustimmung spüren.

Elder Neil L. Andersen

Ein Reporter einer führenden brasilianischen Zeitschrift befasste sich im Zuge der Vorbereitung eines größeren Artikels mit der Kirche.1 Er untersuchte unsere Lehren und besuchte die Missionarsschule sowie das humanitäre Zentrum der Kirche. Er sprach sowohl mit Freunden der Kirche als auch mit denen, die der Kirche gegenüber weniger freundlich gesinnt waren. Bei dem Interview mit mir schien der Reporter ehrlich verwirrt, als er fragte: „Wie kann denn jemand meinen, Sie seien nicht christlich?“ Ich wusste, dass er die Kirche meinte, aber irgendwie nahm ich die Frage persönlich und fragte mich im Stillen: „Zeigt sich in meinem Leben meine Liebe zum Erlöser, meine Hingabe an ihn?“

Jesus fragte die Pharisäer: „Was denkt ihr über den Messias?“2 Bei der Beurteilung am Jüngsten Tag wird unser Leben als Jünger nicht von Freunden oder Feinden bewertet. Vielmehr müssen wir doch alle, wie Paulus sagt, „vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden“3. Dann wird für jeden von uns die entscheidende Frage lauten: „Was denkt Christus über mich?“

Trotz seiner Liebe zu allen Menschen nannte Jesus einige in seiner Umgebung tadelnd Heuchler4, Narren5 oder Übertreter.6 Andere lobt er als Söhne des Reiches7 und als Licht der Welt.8 Einige bezeichnete er missbilligend als Blinde9 und solche, die keine Frucht bringen.10 Von anderen sagte er wohlwollend, sie hätten ein reines Herz11 und würden nach der Gerechtigkeit hungern.12 Er klagte, dass einige ungläubig13 und aus dieser Welt seien,14 aber andere schätzte er als Erwählte,15 Jünger16 und Freunde.17 Und so fragen also wir: „Was denkt Christus über mich?“

Präsident Thomas S. Monson hat darauf hingewiesen, dass die heutige Welt sich „weit vom Geistigen entfernt hat“ und „Veränderungen uns umwirbeln und das Rückgrat der Gesellschaft immer weiter unmittelbar vor unseren Augen zerfällt“.18 Wir leben in einer Zeit, in der man immer weniger an Christus und seine Lehren glaubt und man immer weniger Achtung davor hat.

Trotz solcher Turbulenzen freuen wir uns, dass wir Jünger Jesu Christi sind. Allenthalben erkennen wir die Hand des Herrn. Unsere Bestimmung liegt herrlich vor uns. „Das ist das ewige Leben“, so die Worte Jesu im Gebet, „dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast.“19 In diesen schicksalhaften Tagen ein Jünger Jesu zu sein, wird in alle Ewigkeit als besondere Ehre gelten.

Die Botschaften, die wir bei dieser Konferenz gehört haben, sind Wegweiser vom Herrn für unseren Lebensweg als Jünger. Wenn wir in den vergangenen zwei Tagen zugehört und um geistige Führung gebetet haben und wenn wir uns in den kommenden Tagen mit diesen Botschaften beschäftigen und darüber beten, gibt uns der Herr durch die Gabe des Heiligen Geistes eine auf uns zugeschnittene Richtschnur. Diese Empfindungen führen zu Umkehr, Gehorsam und Gottvertrauen, wodurch wir uns Gott noch mehr zuwenden. Der Heiland geht auf uns ein, wenn wir so handeln, dass wir unseren Glauben unter Beweis stellen. „Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten; mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen.“20

Der Ruf Jesu, „Komm und folge mir nach“21, gilt nicht nur für diejenigen, die bereit sind, an einer geistigen Olympiade teilzunehmen. Die Nachfolge Christi ist nämlich kein Wettbewerb, sondern eine Einladung an alle. Unser Weg als Jünger ist weder ein kurzer Sprint um die Bahn noch lässt er sich so recht mit einem ausgedehnten Marathon vergleichen. Tatsächlich handelt es sich um ein lebenslanges Abwandern hin zu einer celestialeren Welt.

Jesu Ruf kommt der Aufforderung gleich, täglich unsere Pflicht zu tun. Er sagt: „Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten.“22 „Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“23 Wir sind vielleicht nicht jeden Tag in Hochform, aber solange wir uns Mühe geben, stecken in diesem Appell Jesu viel Aufmunterung und Hoffnung: „Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen.“24

An welcher Stelle auch immer Sie sich auf Ihrem Weg als Jünger befinden – Sie sind auf dem richtigen Weg, nämlich dem Weg zu ewigem Leben. Gemeinsam können wir einander stützen und stärken in den bedeutenden Tagen, die vor uns liegen. Welchen Schwierigkeiten wir auch begegnen, welche Schwächen uns auch einengen, welche Unmöglichkeiten uns auch umgeben – haben wir doch Glauben an den Sohn Gottes, der verkündet hat: „Alles kann, wer glaubt.“25

Ich möchte Ihnen zwei Beispiele für die gelebte Nachfolge Jesu erzählen. Das erste ist aus dem Leben von Präsident Thomas S. Monson. Es veranschaulicht, wie viel man mit schlichter Freundlichkeit erreicht und was Jesus gesagt hat, nämlich: „Der Größte von euch soll euer Diener sein.“26

Vor fast 20 Jahren sprach Präsident Monson bei der Generalkonferenz über eine 12-jährige Junge Dame, die an Krebs litt. Er sprach von ihrem Mut und der Liebenswürdigkeit ihrer Freundinnen, die sie auf den Berg Timpanogos im Zentrum von Utah getragen hatten.

Vor einigen Jahren lernte ich Jami Palmer Brinton kennen und hörte die Geschichte aus einer anderen Perspektive. Ich erfuhr nämlich, was Präsident Monson für Jami getan hatte.

Jami traf Präsident Monson im März 1993, einen Tag, nachdem sie erfahren hatte, dass die Schwellung über ihrem rechten Knie ein schnell wachsender Knochenkrebs war. Präsident Monson spendete ihr, gemeinsam mit ihrem Vater, einen Priestertumssegen und verhieß ihr: „Jesus wird zu deiner Rechten und zu deiner Linken stehen, um dich zu stützen.“

„Als ich an diesem Tag sein Büro verließ“, sagte Jami, „band ich einen Ballon los, der an meinem Rollstuhl hing, und gab ihn ihm. Darauf stand in leuchtenden Buchstaben: ‚Das Beste bist du!‘“

Präsident Monson vergaß Jami nicht – weder in der Zeit ihrer Chemotherapie und noch nach der Operation, die ihr das Bein rettete. Jami sagte: „Präsident Monson zeigte beispielhaft, was es bedeutet, ein wahrer Jünger Christi zu sein. [Er] hob mich aus meinem Kummer empor zu fester Hoffnung.“ Drei Jahre nach ihrer ersten Begegnung saß Jami wieder in Präsident Monsons Büro. Am Ende des Gesprächs tat er etwas, was Jami nie vergessen wird. Er überraschte sie mit demselben Ballon, den sie ihm drei Jahre zuvor überreicht hatte – eine kleine Aufmerksamkeit, die so typisch ist für ihn. „Das Beste bist du!“, verkündete der Ballon. Er hatte ihn aufbewahrt, weil er wusste, dass Jami in sein Büro zurückkehren würde, wenn sie vom Krebs geheilt war. 14 Jahre, nachdem Jami ihm zum ersten Mal begegnet war, nahm Präsident Monson im Salt-Lake-Tempel ihre Trauung an Jason Brinton vor.27

Von Präsident Monson können wir viel über den Weg eines Jüngers lernen. Er ruft den Generalautoritäten oft in Erinnerung, stets an die einfache Frage zu denken: „Was würde Jesus tun?“

Jesus sagte zu dem Synagogenvorsteher: „Sei ohne Furcht; glaube nur!“28 Jünger zu sein bedeutet, dass man dem Herrn in Zeiten des Friedens glaubt und ebenso in schwierigen Zeiten, wenn unser Schmerz und unsere Angst nur durch die Überzeugung besänftigt werden, dass er uns liebt und zu seinen Verheißungen steht.

Vor kurzem lernte ich eine Familie kennen, die ein wunderbares Beispiel für dieses Gottvertrauen ist. Olgan und Soline Saintelus aus Port-au-Prince in Haїti erzählten mir ihre Geschichte.

Am 12. Januar 2010 war Olgan auf der Arbeit und Soline in der Kirche, als ein verheerendes Erdbeben Haїti heimsuchte. Ihre drei Kinder – Gancci, fünf Jahre, Angie, drei Jahre, und Gansly, ein Jahr – waren mit einer Bekannten daheimgeblieben.

Überall bot sich ein Bild der Zerstörung. Wie Sie wissen, haben damals im Januar Zehntausende in Haїti ihr Leben verloren. So schnell sie konnten, rannten Olgan und Soline nach Hause, um nach ihren Kindern zu sehen. Das dreistöckige Mietshaus, in dem Familie Saintelus wohnte, war eingestürzt.

Die Kinder hatten es nicht ins Freie geschafft. Und niemand würde in einem so vollständig zerstörten Gebäude nach Überlebenden suchen.

Olgan und Soline Saintelus hatten beide eine Vollzeitmission erfüllt und im Tempel geheiratet. Sie glaubten an den Erretter und an seine Verheißungen für sie. Aber jetzt waren sie völlig verzweifelt. Sie weinten hemmungslos.

Olgan erzählte mir, dass er in seiner finstersten Stunde zu beten anfing: „Vater im Himmel, wenn es dein Wille ist, dann lass doch wenigstens eines meiner Kinder am Leben. Bitte, bitte, hilf uns!“ Er ging immer wieder um das zerstörte Gebäude herum und betete um Inspiration. Die Nachbarn wollten ihn trösten und ihm helfen, sich mit dem Verlust seiner Kinder abzufinden. Olgan ging jedoch weiter um den Trümmerhaufen und hoffte und betete. Dann geschah ein Wunder. Olgan vernahm den kaum hörbaren Schrei eines Babys. Es war die Stimme seines Babys.

Stundenlang gruben die Nachbarn fieberhaft in den Trümmern, wobei sie ihr Leben aufs Spiel setzten. Im Dunkel der Nacht hörten die Retter zwischen dem dröhnenden Lärm der Hämmer und Meißel noch einen anderen Ton. Sie hörten auf zu klopfen und horchten. Sie trauten ihren Ohren kaum. Es war die Stimme eines kleinen Kindes – und es sang. Der fünfjährige Gancci sagte später, er habe gewusst, sein Vater würde ihn hören, wenn er singt. Unter dem drückenden Gewicht des Betons – weshalb man ihm später einen Arm abnehmen musste – sang Gancci sein Lieblingslied: „Ich bin ein Kind von Gott.“29

Die Stunden vergingen, und Familie Saintelus erlebte – inmitten von Dunkelheit, Verzweiflung und dem Tod so vieler anderer kostbarer Söhne und Töchter Gottes in Haїti – ein Wunder. Gancci, Angie und Gansly wurden lebend aus den Trümmern des dem Erdboden gleichgemachten Gebäudes geborgen.30

Aber nicht immer geschieht gleich ein Wunder. Manchmal fragen wir uns, warum das Wunder, um das wir so aufrichtig gebetet haben, nicht auf der Stelle geschieht. Aber wenn wir auf den Heiland vertrauen, werden die verheißenen Wunder geschehen. Alles kommt in Ordnung, ob in diesem Leben oder im nächsten. Jesus Christus verkündet: „Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht.“31 „In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt.“32

Ich bezeuge: Wenn Sie den Herrn lieben, ihm vertrauen, ihm glauben und ihm folgen, werden Sie seine Liebe und seine Zustimmung spüren. Wenn Sie fragen: „Was denkt Christus über mich?“, werden Sie wissen, dass Sie sein Jünger und sein Freund sind. Durch seine Gnade wird er das für Sie tun, was Sie nicht selbst tun können.

Wir sind gespannt auf die abschließenden Worte unseres geliebten Propheten. Präsident Thomas S. Monson wurde zum Apostel des Herrn Jesus Christus ordiniert, als ich zwölf Jahre alt war. Seit über 48 Jahren dürfen wir immer wieder hören, wie er Zeugnis von Jesus Christus ablegt. Ich bezeuge, dass er derzeit der dienstälteste Apostel Jesu Christi auf der Erde ist.

Mit großer Liebe und Bewunderung für die vielen Jünger Jesu Christi, die nicht dieser Kirche angehören, verkünden wir demütig, dass in unserer Zeit Engel auf die Erde zurückgekehrt sind. Die Kirche Jesu Christi ist wiederhergestellt worden, wie der Herr sie einst aufgerichtet hat – mit der Macht, den Verordnungen und den Segnungen des Himmels. Das Buch Mormon ist ein weiterer Zeuge für Jesus Christus.

Ich bezeuge, dass Jesus Christus der Erretter der Welt ist. Er hat für unsere Sünden gelitten und ist für uns gestorben, und am dritten Tag hat er sich aus dem Grab erhoben. Er ist auferstanden. Eines Tages wird sich jedes Knie beugen und jede Zunge bekennen, dass er der Messias ist.33 An dem Tag werden wir uns nicht fragen: „Sehen andere mich als christlich an?“ Vielmehr werden unsere Augen auf ihn gerichtet sein, und wir werden nur eine Frage auf dem Herzen haben: „Was denkt Christus über mich?“ Er lebt. Dies bezeuge ich im Namen Jesu Christi. Amen.