Wenn mein Kind die Kirche verlässt
Die Verfasserin lebt in Massachusetts.
Auch wenn sich unsere Kinder für eine Richtung entscheiden, mit der wir nicht einverstanden sind, müssen wir den Grundsatz, dass sie die Entscheidungsfreiheit bekommen haben, bereitwillig annehmen.
Es waren schon Wochen vergangen, seit meine erwachsene Tochter in eine andere Stadt gezogen war, und jeder Sonntag, an dem sie nicht in die Kirche ging, erfüllte mich mit Sorge. Würde sie je wieder in der Kirche aktiv werden? Ich probierte einfach alles aus, was mir nur einfiel, um sie dazu zu bringen, in die Kirche zu gehen: Ermunterung, Logik, Flehen, als ihr Wecker fungieren, Beten, Fasten. Ich rief sogar ihren Bischof an. Da wir über 3000 Kilometer voneinander entfernt lebten, war es schwierig, sie in die Kirche zu begleiten, aber sogar das ließ ich nicht unversucht!
Ich stellte mir immer vor, ich bräuchte nur die Situation ein wenig zu verändern, dann werde meine Tochter ihre geistige Entwicklung wieder fortsetzen. Ich meinte, ich müsse nur den richtigen Menschen – ihre Besuchslehrerin, ihren Bischof, eine Freundin oder jemand aus der Familie – ihren Weg kreuzen lassen, und derjenige werde dann genau das sagen oder tun, was sie auf den Weg zurückbugsiert. Aber es blieb alles erfolglos. Meine sorgenvollen Gedanken drehten sich im Kreis und Schuldgefühle quälten mich. Hatte ich denn als Mutter versagt?
Viele andere haben Ähnliches erlebt. Wenn Kinder den Weg des Evangeliums verlassen, ist das für die Eltern, die treu bleiben, oft sehr schwer zu verkraften. Eine Mutter erzählte, dass sie wegen der Entscheidungen, die ihre Tochter traf, so bekümmert war, dass ihr sogar das Atmen Mühe bereitete. Ein Vater berichtete, er habe es so empfunden, dass seine Kinder ihn selbst und seine Lebensweise zurückwiesen. Eine junge Mutter war besorgt, dass ihre kleinen Kinder möglicherweise eines Tages alles anzweifeln und die Kirche verlassen würden.
Wie wird man nur mit dem Schmerz fertig, den man empfindet, wenn jemand aus der Familie die Kirche verlässt? Es gibt da einiges, was man tun kann.
Von anderen lernen, die dasselbe durchgemacht haben
Einige sehr rechtschaffene Familien in den heiligen Schriften hatten zu kämpfen, weil sich ihre Kinder auflehnten. Saria und Lehi hatten Kinder, die sich von den Lehren ihrer Eltern abwandten (siehe 1 Nephi 2:8-12). Ebenso war es bei Adam und Eva (siehe Genesis 4:8). Selbst unsere himmlischen Eltern trauerten, als ein Drittel ihrer Geistkinder einen anderen Weg wählte (siehe LuB 29:36). Der Plan des Glücklichseins schließt die Entscheidungsfreiheit mit ein. Das bedeutet, dass sich auch Angehörige einer rechtschaffenen Familie dafür entscheiden können, Evangeliumsgrundsätze abzulehnen. Wir können aus den Geschichten von Familien aus den heiligen Schriften, die auch damit zu kämpfen hatten, Trost schöpfen. Wir verstehen durch sie besser, was Entscheidungsfreiheit und Einfühlungsvermögen bedeuten, und dieses Verständnis hilft uns, Heilung zu finden und vorwärtszugehen.
Uns bewusst machen, dass unsere Kinder auch Gottes Kinder sind
Als ein Jugendlicher anfing, seinen Glauben anzuzweifeln, wurde seine Mutter von Schuldgefühlen, von dem Gefühl, versagt zu haben, überwältigt. Als sie nachgrübelte, was sie bei der Erziehung hätte anders machen können, empfing sie eine Eingebung und vernahm die gütigen Worte: „Er ist nicht nur dein Kind. Ich liebe ihn sogar noch mehr als du, und ich fühle mich seinetwegen nicht schuldig, auch nicht wegen irgendeines meiner anderen umherirrenden Kinder.“ Von diesem Moment an konnte die Mutter ihre Schuldgefühle loslassen und stattdessen ihr Augenmerk darauf richten, was für ein wundervolles Kind Gottes ihr Sohn war.
Den Erfolg im Blick haben
Manchmal leiden Eltern, weil sie nicht völlig verstehen, was die Aussage „Kein anderweitiger Erfolg kann ein Versagen in der Familie wettmachen“1 bedeutet. Erfolg und Misserfolg lassen sich nicht leicht definieren. Elder John K. Carmack, ehemals Mitglied der Siebziger, erklärte: „Da mit dieser Aussage beabsichtigt wurde, Eltern anzuregen, sich überhaupt und anhaltend um ihre Kinder zu kümmern, darf sie keinesfalls so gedeutet werden, dass Eltern, die tatsächlich viel Zeit, Mühe und Opfer in die Erziehung ihrer Kinder investiert und dennoch nicht den ersehnten Lohn erhalten haben, versagt hätten.“2 Wir müssen uns an den guten Eigenschaften unserer Kinder und den glücklichen Momenten erfreuen, die wir miteinander erlebt haben. Wir sollen den Grundsatz, dass unsere Angehörigen das Geschenk der Entscheidungsfreiheit bekommen haben, bereitwillig annehmen, ganz gleich, wie sie davon Gebrauch machen.
Unsere Erwartungen anpassen
Auch wenn wir hoffen, dass unsere Angehörigen dem Weg folgen, den wir gewählt haben, müssen sie sich doch selbst dafür entscheiden, um die Segnungen des Evangeliums zu empfangen. Elder Carmack rät den Eltern, nicht gegen diese Tatsache anzukämpfen, sondern lieber „ihre derzeitigen Erwartungen und Methoden anzupassen und die Umstände so zu akzeptieren, wie sie sind, anstatt sich weiter verrückt zu machen“3.
Eine Mutter war enttäuscht und traurig, als ihr klar wurde, dass ihr Sohn nicht auf Mission gehen wollte. Mit der Zeit erkannte sie, dass sie sich von dem Gedanken lösen musste, dass ihr Sohn auf Mission gehen müsse, nur damit sie glücklich sei. „Endlich wurde mir klar, dass es hier nicht um mich ging“, sagte sie. „Jedes Kind lebt sein eigenes Leben. Ich bin nur seine Mutter. Meine Kinder gehören mir nicht.“
Einsichten gewinnen
Viele Eltern finden Trost und die richtige Sichtweise durch das Gebet, das Schriftstudium und den Tempelbesuch. Eine Mutter erzählte, dass ihr durch das Beten erneut bewusst wurde, wie kostbar ihr Kind in den Augen des Vaters im Himmel ist. Das linderte ihren Schmerz. Das Beten bringt uns wertvolle Einsichten und Anregungen, was wir tun oder sagen sollen. Außerdem werden wir getröstet.
In den heiligen Schriften wird von Menschen berichtet, die schlechte Entscheidungen getroffen haben, und davon, wie ihre Angehörigen damit fertig geworden sind. „Es ist gut, dass es in den Schriften nicht lauter Geschichten von vollkommenen Familien gibt, sonst würden wir wohl gleich allen Mut verlieren und aufgeben!“, meinte eine Mutter. Die Geschichte von Alma dem Jüngeren sichert uns zu, dass die rechtschaffenen Gebete von Eltern gehört werden (siehe Mosia 27:14). Das Gleichnis vom verlorenen Sohn zeigt uns, wie groß die Freude ist, wenn jemand, der verloren war, zurückkehrt (Lukas 15:20-24).
Auch der Besuch des Tempels lässt uns wertvolle Einsichten gewinnen, wie man mit Problemen in der Familie umgeht. „Ich glaube, dass ein viel beschäftigter Mensch … im Haus des Herrn Probleme besser und schneller lösen kann als irgendwo sonst“, sagte Elder John A. Widtsoe (1872–1952) vom Kollegium der Zwölf Apostel. „Gerade dann, wenn wir es überhaupt nicht erwarten, wird [uns] schließlich – innerhalb oder außerhalb des Tempels – in Form einer Offenbarung die Lösung für die Probleme eingegeben, die [uns] bedrücken.“4 Wenn Eltern in den Tempel gehen, werden sie in Herz und Gedanken empfänglicher für den Frieden, den sie sich ersehnen.
Weiterhin Liebe zum Ausdruck bringen
Lehi und Saria liebten Laman und Lemuel zweifellos ebenso, wie sie Sam, Nephi, Jakob und Joseph liebten. Auch wenn es einfacher sein mag, mit Familienmitgliedern, die die gleichen Glaubensansichten und die gleiche Lebensweise wie wir haben, gut auszukommen, müssen wir unbedingt lernen, auch allen anderen, bei denen das nicht der Fall ist, unsere Liebe zum Ausdruck zu bringen.
Eine Frau, die als Jugendliche aufgehört hatte, in die Kirche zu gehen, berichtete, wie ihre Familie ihr zeigte, dass sie sie ungeachtet dessen lieb hatte. In ihrer Großfamilie gehörten alle der Kirche an. Wer auf Mission ging, wurde sichtlich geehrt. Im Wohnzimmer ihrer Großmutter zierten Fotos von allen Missionaren der Familie die Wand. „[Diese Wand] war in unserer Familie sozusagen der Mittelpunkt des Universums“, erklärte sie. Sie wusste, dass sie nie auf Mission gehen würde. Daher war sie überzeugt, dass sie wohl nie einen Platz an der Wand im Wohnzimmer ihrer Großmutter erhalten werde, mochte sie noch so viel Gutes tun.
Mit 30 beschloss sie, sich dem Friedenskorps der Vereinigten Staaten anzuschließen. Sie kam nach Madagaskar und widmete ihre ganze Kraft ihrer neuen Aufgabe. Während sie noch dort war, erfuhr sie, dass ihr Foto nun auch bei ihrer Großmutter an der Wand hing. Als ihre Dienstzeit beim Friedenskorps zu Ende war, lagen sich Großmutter und Enkeltochter in den Armen und vergossen Tränen. „Dienst ist Dienst“, erklärte ihre Großmutter. Ob wir nun Fotos von den Missionaren der Familie an der Wand hängen haben oder nicht, es gibt zahlreiche Möglichkeiten, allen unseren Angehörigen zu zeigen, dass wir sie lieben und schätzen.
An der Hoffnung festhalten
Wenn wir unsere Kinder lieben, so wie sie jetzt sind, können wir dennoch an der Hoffnung festhalten, dass sie zu einem am Evangelium ausgerichteten Leben zurückkehren. Oft kehren Familienmitglieder nach einer Zeit des Umherstreifens wieder zurück. Wie der verlorene Sohn erkennen sie, dass ihnen ihr früheres Leben gute Gedanken und Grundsätze beschert hat, und sie machen sich diese Ideale wieder zu eigen. Ja, Propheten haben verheißen, dass Kinder, die an ihre Eltern gesiegelt sind und in Rechtschaffenheit erzogen wurden, den Einfluss dieser Erziehung spüren und eines Tages zurückkehren.5 Solche Verheißungen schenken uns große Hoffnung für unsere Lieben.
Den Blick auf die Ewigkeit gerichtet halten
Wir dürfen nicht vergessen, dass wir schlicht und einfach nicht wissen, wie es mit unseren Lieben weitergeht. Ein Vater, der widerspenstige Söhne im Teenageralter hat, hat erkannt, dass er nicht davon ausgehen darf, dass jetzt eine Katastrophe droht, nur weil seine Söhne im Moment nicht rechtschaffen leben. Präsident Dieter F. Uchtdorf, Zweiter Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, wies darauf hin, dass wir manchmal meinen, das Ende einer Geschichte sei bereits geschrieben, obwohl wir uns erst in den mittleren Kapiteln befinden.6 Gottes Zeitrechnung unterscheidet sich erheblich von unserer, und wir wissen nicht, wie die Geschichte eines jeden enden wird.
Wenn wir wüssten, dass ein Familienmitglied eines Tages zurückkehrt, würden wir uns dann jetzt, an dieser Stelle der Geschichte, anders verhalten? Ich glaube, wir könnten sehr viel mehr Frieden, Liebe und Akzeptanz in unser Leben einfließen lassen. Während wir daran arbeiten, dass unsere Geschichte gut ausgeht, ist es hilfreich, immer daran zu denken, dass wir es selbst in der Hand haben, wie wir auf unsere Lieben zugehen: voll Liebe und friedlicher Gesinnung oder mit Ärger und Furcht. Paulus schrieb: „Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ (2 Timotheus 1:7.) Elder Carmack rät uns eindringlich: „Geben Sie niemals auf. Wenn Sie Ihre Tochter oder Ihren Sohn jetzt nicht zu erreichen scheinen, können Sie sich doch zumindest weiter darum bemühen und nicht aufhören, Ihr Kind zu lieben. … Lassen Sie sich nicht durch Schuldgefühle und Hoffnungslosigkeit lähmen. Bemühen Sie sich um Gottes Hilfe und inneren Frieden. Seien Sie stark und mutig. Sie werden es schaffen.“7
Meine Tochter ist noch nicht zur Kirche zurückgekehrt. Aber unsere Ziele sind klar. Wir beide arbeiten daran, einander nahezubleiben. Wir unterhalten uns häufig, und ich weiß, dass sie dadurch, dass sie in der Kirche Jesu Christi großgeworden ist, ein freundlicher, disziplinierter und rücksichtsvoller Mensch geworden ist. Auch wenn ich den Weg, auf dem sie jetzt geht, gewiss nicht ausgesucht hätte, bin ich doch dankbar für alles, was wir entlang des Weges lernen. Ich habe Frieden gefunden, weil ich akzeptieren kann, dass wir uns auf unserer Reise nach Hause an verschiedenen Punkten befinden.