2016
Sind wir nicht alle Bettler?
October 2016


Stimmen von Heiligen der Letzten Tage

Sind wir nicht alle Bettler?

begging for mercy

Illustration von Stan Fellows

Als ich in Estland vor einiger Zeit in einer Stadt war, in der ich zehn Jahre zuvor auf Mission gewesen war, sah ich einen Mann, der um Geld bettelte. Erstaunt stellte ich fest, dass ich ihn während meiner Mission schon öfter gesehen hatte. Er trug, genau wie früher, einen riesigen Sack mit Plastikflaschen, die er gegen das Pfandgeld eintauschen wollte. Ich erinnerte mich daran, dass er immer um etwas Kleingeld gebettelt hatte, und wenn man ihm ein paar Münzen gegeben hatte, hatte er immer gefragt, ob er nicht noch etwas bekommen könne.

Ich war bestürzt, als ich ihn nun sah. Nach zehn Jahren sah er immer noch so aus wie damals. Die Haare waren zwar etwas grauer, aber es schien, als hätte er tagein, tagaus ein eintöniges Leben als Bettler verbracht. Ich dachte daran, wie schön die vergangenen zehn Jahre für mich gewesen waren. Ich hatte im Tempel geheiratet, eine Ausbildung abgeschlossen, eine gute Anstellung bekommen und erfreute mich bester Gesundheit.

Da dies wahrscheinlich das letzte Mal sein würde, dass ich den Mann sah, hatte ich das Gefühl, ich solle ihm ein bisschen Geld geben. Allerdings hatte ich nur einen Geldschein dabei, der mehr wert war, als ich ihm eigentlich zustecken wollte. Ich saß in der Zwickmühle: Sollte ich ihm doch nichts geben oder mehr, als ich mochte? Schließlich befand ich, dass ich das Geld schon verschmerzen, ihm jedoch damit weiterhelfen könne, und so gab ich ihm den Schein.

Nicht einmal zwei Tage später befand ich mich in einer ähnlichen Situation – nur war dieses Mal ich derjenige, der um Erbarmen bat. Ich hatte den Termin für eine wichtige Bewerbung um ein Stipendium falsch in Erinnerung gehabt. Ich dachte, ich hätte die Bewerbung zwei Wochen vor dem Stichtag eingesandt, aber als ich noch einmal nachsah, stellte ich zu meinem Schrecken fest, dass ich sie einen Tag zu spät abgeschickt hatte!

Die Höhe des Stipendiums betrug genau das Hundertfache dessen, was ich dem Bettler gegeben hatte. Die Ironie dieser Situation war mir durchaus bewusst. So war nun ich derjenige, der um Erbarmen flehte – sowohl im Gebet an meinen himmlischen Vater als auch in einer E-Mail an die Verwaltung der Universität. Diese teilte mir mit, sie werde die Bewerbung berücksichtigen, jedoch den verspäteten Eingang festhalten.

Mein Gebet wurde erhört: Ich erhielt das Stipendium, was für meine Frau und mich finanziell ein außerordentlicher Segen war. Doch noch wichtiger war, dass dieses Erlebnis mich etwas Wertvolles gelehrt hat: Sind wir vor Gott nicht alle Bettler? (Siehe Mosia 4:19.)