Sei ein Vorbild
Nach der Ansprache „An Example of the Believers“, die am 14. Juni 2016 bei einer Andacht an der Brigham-Young-Universität Idaho gehalten wurde. Den englischen Text findet ihr in voller Länge unter web.byui.edu/devotionalsandspeeches.
Wie kann man die Lehre des Evangeliums Jesu Christi am besten darlegen und verteidigen, zugleich aber liebevoll, freundlich und verständnisvoll sein?
Man erzählt sich von einem kleinen Trupp Soldaten, der mit einer sehr schwierigen Mission weit hinter den feindlichen Linien betraut wurde. Als sich der kleine Trupp seinem Ziel näherte, wurden feindliche Einheiten auf ihn aufmerksam. Sie waren bei weitem überlegen, hatten den Trupp rasch umzingelt und feuerten von allen Seiten. Als die Soldaten des kleinen Trupps feststellten, dass sie von allen Seiten unter Beschuss waren, schauten sie auf und sahen, dass ihr Anführer auf einem Felsen stand und sie anspornte.
Den Blick auf seine Soldaten gerichtet, brüllte er: „Männer, wir haben sie genau da, wo wir sie haben wollen. Ihr könnt einfach in jede Richtung feuern!“
Auch wir haben heutzutage eine schwierige Mission zu bewältigen. Uns ist aufgetragen, die Wahrheiten des Evangeliums Jesu Christi darzulegen und zu verteidigen. Ich weiß, wie schwierig es sein kann, klar zu erkennen, wie man sich in der Welt, in der wir leben, am besten verhält, vor allem wenn man von so vielen Stimmen umgeben ist, die die Wahrheit in Frage stellen. Oft wird man mit so vielen unterschiedlichen Sichtweisen bombardiert, dass es schwierig ist, zu entscheiden, wie man darauf reagieren soll.
Ich möchte darauf eingehen, was es bedeutet, ein Vorbild zu sein (siehe 1 Timotheus 4:12) – was es bedeutet, ewige Wahrheit so darzulegen und zu verteidigen, wie der himmlische Vater es möchte, zugleich aber den Respekt, das Mitgefühl und die tiefe Liebe an den Tag zu legen, die Christus vorgelebt hat; was es bedeutet, das, was wir als richtig erkannt haben, ernsthaft zu verteidigen, ohne einfach willkürlich in jede Richtung zu feuern, in der wir einen Feind vermuten.
Tatsächlich scheint es oft so, als bestünde ein Widerspruch zwischen diesen zwei Grundsätzen. Wir sind angehalten, gegen geistige Schlechtigkeit in jeglicher Form zu kämpfen (vgl. Epheser 6:12), „allzeit und in allem und überall … als Zeugen Gottes aufzutreten“ (Mosia 18:9) und uns niemals des Evangeliums Christi zu schämen (siehe Römer 1:16). Doch wir sind auch angehalten, Streit zu meiden und nie „den Menschen das Herz mit Zorn … aufzustacheln“ (3 Nephi 11:30) und nicht nur „mit allen Menschen Frieden [zu halten]“ (Römer 12:18), sondern sogar aktiv „nach dem [zu] streben, was zum Frieden … beiträgt“ (Römer 14:19).
Wie erfüllen wir also den gottgegebenen Auftrag, fest im Evangelium zu stehen und andere die Wahrheit zu lehren, ohne Streit und Ärger heraufzubeschwören? Offenbar reicht es insbesondere bei den aktuellen kontroversen Themen schon aus, sich überhaupt dazu zu äußern, und schon entstehen Zwietracht und Streit. Ihr wisst ja, dass die Welt heutzutage wenig Geduld mit jemandem zu haben scheint, der eine Ansicht äußert, die vom aktuellen Trend abweicht.
In solchen Situationen neigen wir meist zu einer von zwei Reaktionen: Entweder treten wir sofort den Rückzug an und vermeiden es, uns in einer Umgebung, die rasch unangenehm oder sogar feindselig werden könnte, offen zu äußern, oder wir gehen in die Defensive und lassen uns auf ein Streitgespräch ein, das zwar für Zuschauer unterhaltsam sein mag, jedoch mehr Reibung als Licht erzeugt.
Es ist aber besser, alles mit dem Verstand durchzuarbeiten (siehe LuB 9:8) und dann aufmerksam auf Führung von Gott zu achten. Nehmt euren Mut zusammen und macht Gebrauch von dem Licht in euch!
Ich möchte auf ein paar Punkte hinweisen, die immer eine Rolle spielen, wenn wir unser Bestes geben, das Wort Gottes darzulegen und zu verteidigen, während wir zugleich allen Menschen liebevoll und einfühlsam begegnen.
Das Wort verteidigen
Erstens. Wir sind am erfolgreichsten, wenn wir persönlich mit jemandem reden. In unserer heutigen polarisierten Welt, in der beißende Sprüche und unablässige Versuche, dem anderen immer eine Nasenlänge voraus zu sein, vorherrschen, lässt sich in dem allgemeinen Gerangel irgendwelcher Debatten in größerem Rahmen meist wenig erreichen. Das gilt vor allem für die sozialen Medien, wo wir darauf achten müssen, dass unsere Kommentare zu einem heiklen gesellschaftspolitischen Thema nicht von dem Geist abweichen, den wir ausstrahlen sollen und den Christus von uns erwartet.
Wenn wir uns online äußern und uns auf 140 Zeichen beschränken lassen, werden wir oft missverstanden. Meist lässt sich in einem Einzelgespräch, unter vier Augen, sehr viel mehr erreichen, weil man einander dann besser versteht. Genau dazu hat uns Präsident Thomas S. Monson immer wieder aufgefordert: auf den Einzelnen zuzugehen und ihn zu retten – einen nach dem anderen. Auch der Erretter hat das während seines irdischen Wirkens vorgelebt. Er hat sich oft dem Einzelnen gewidmet und in dessen Leben etwas bewirkt.
Zweitens. Natürlich wären wir überglücklich, wenn andere sofort das Licht erkennen würden und bereit wären, gleich am nächsten Tag mit den Missionaren zu sprechen. Aber das braucht nicht unser erstes Ziel zu sein. Zunächst einmal geht es darum, zu verstehen, wie der andere zu seinen Ansichten gelangt ist, ihn als Mensch zu achten und seinen Standpunkt zu verstehen. Erst dann können wir sinnvoll kommunizieren, und zwar ohne die beißenden Bemerkungen, die auf Anschuldigungen und Missverständnissen basieren und viel zu oft das Gespräch beherrschen.
Drittens. Wir wollen Wege finden, Ansichten zu respektieren, die sich von unseren unterscheiden, und trotz der Unterschiede das Miteinander in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Anstatt einfach nur nach unseren eigenen Ansichten zu leben, ohne die Freiheit des anderen zu verletzen, sollten wir einen besseren Weg einschlagen – einen Weg, der für eine pluralistische Gesellschaft, in der jeder fair behandelt werden soll, eigentlich unabdingbar ist. Wir müssen für die grundlegenden Bürgerrechte anderer eintreten und anerkennen, dass sie ihre Meinung frei äußern und sich für das aussprechen dürfen, woran sie glauben, wenn wir erwarten, dass andere für unsere grundlegenden Bürgerrechte eintreten.
Als Letztes müssen wir uns klarmachen, dass ein gegenseitiges Verstehen selten durch ein einmaliges Ereignis zustande kommt. Es ist ein Vorgang, der durchaus viel Zeit beanspruchen kann. Andere mögen unsere Ansichten vielleicht niemals akzeptieren, aber wir können auf Begriffe wie Fanatiker und Hass verzichten. Betrachten wir einander doch als gute und vernünftige Menschen, auch wenn wir Grundanschauungen vertreten, die andere vielleicht nie akzeptieren werden.
Handeln, wie der Erretter es tun würde
In schwierigen Situationen, in denen es gilt, das Evangelium Jesu Christi zu verteidigen, denkt ihr hoffentlich immer daran, so zu handeln, wie der Erretter es tun würde. Ein Vorbild zu sein bedeutet sehr viel mehr als die Grundsätze des Evangeliums so zu leben, dass andere es sehen können. Das hat uns der Apostel Paulus erklärt. Paulus weist insbesondere darauf hin, dass ebendiese Grundsätze des Evangeliums auch in unseren Gesprächen, in unserer Liebe zu unseren Mitmenschen, in dem Geist, den wir ausstrahlen, und in dem Glauben, der uns zu dem macht, der wir sind, zum Ausdruck kommen müssen (vgl. 1 Timotheus 4:12).
Letzten Endes gibt es keinen Widerspruch zwischen den zwei wichtigen Evangeliumsgrundsätzen, für die Wahrheit einzustehen und zugleich andere liebevoll zu respektieren, wenn man diese Grundsätze richtig versteht. Unsere feste Überzeugung von der Wahrheit darf uns nie dazu verleiten, uns anderen gegenüber respektlos und feindselig zu verhalten. Zugleich darf unser Wunsch, jedem freundlich und liebevoll zu begegnen, unsere Pflicht, für die Wahrheit einzutreten, nicht beeinträchtigen.
Im Grunde sind diese zwei Grundsätze nur eine Medaille mit zwei Seiten. Auf der einen Seite ist es unsere Pflicht, die Lehre Gottes zu erklären und standhaft zu verteidigen. Auf der anderen Seite ist es unsere Pflicht, uns christlich zu verhalten und immer respektvoll und liebevoll aufzutreten.
Elder Dallin H. Oaks vom Kollegium der Zwölf Apostel hat es so erläutert:
„Unsere Toleranz und unser Respekt gegenüber anderen und ihrer Überzeugung sind kein Grund, unsere Verpflichtung gegenüber den Wahrheiten, die wir erkannt, und den Bündnissen, die wir geschlossen haben, aufzugeben. … Wir müssen für die Wahrheit eintreten, auch wenn wir Toleranz üben und Ansichten und Vorstellungen respektieren müssen, die von den unseren abweichen, so wie wir gleichfalls auch deren Vertreter respektieren. …
Diese inspirierte Warnung weist uns darauf hin, dass Toleranz gegenüber Verhaltensweisen für jemanden, der an absolute Wahrheiten glaubt, eine Medaille mit zwei Seiten ist. Toleranz oder Respekt steht auf einer Seite der Medaille, Wahrheit aber stets auf der anderen.“1
In einer Welt, die sich immer mehr polarisiert, die immer streitsüchtiger wird und in der einem die Kugeln aus allen Richtungen um die Ohren pfeifen, möchte ich euch auffordern, beide Seiten der Medaille zu betrachten. Fragt euch in jeder Situation, die sich ergibt, wie ihr die Lehre des Evangeliums Jesu Christi am besten darlegen und verteidigen, zugleich aber denjenigen, die diese Lehre nicht akzeptieren, liebevoll, freundlich und verständnisvoll begegnen könnt.
Dann wird euch der Vater im Himmel beistehen und euch führen, das bezeuge ich. Ihr werdet merken, wie er euch Schritt für Schritt leitet, euch Gedanken in den Sinn und Gefühle ins Herz gibt und euch Worte in den Mund legt, nämlich genau dann, wenn ihr darauf angewiesen seid. Sein Geist wird euch führen und anleiten, sodass ihr ein wahres Vorbild werdet, jemand, der nicht nur das Evangelium Jesu Christi lebt, sondern auch die Lehre Christi auf klare, doch liebevolle und nicht ausgrenzende Weise verteidigt und erklärt.