Fern der Heimat: Christlicher Dienst an Vertriebenen
Vertriebene brauchen mehr als nur materielle Hilfe; sie brauchen gute zwischenmenschliche Beziehungen und Zuwendung.
Muss jemand aus seiner Heimat fliehen, kann ihn das erheblich traumatisieren und sein Leben lang belasten. Zunehmende Gewaltbereitschaft, wirtschaftliche Probleme oder politische Unruhen – all dies kann eine Familie dazu zwingen, ihr Zuhause zurückzulassen, und oftmals fehlt gar die Zeit, liebgewonnene Habseligkeiten oder auch nur das Nötigste zusammenzuraffen. Auf der Suche nach einer sicheren Zuflucht werden Familien im Verlauf ihrer gefahrvollen Reise über Hunderte von Kilometern oft getrennt. Kinder sind am Verhungern, erleiden Gewalt oder werden Zeuge von Gewalttaten. Solche Menschen können nur hoffen, dass ihre beschwerliche Reise sie an einen Ort führt, wo sie Sicherheit finden.
In den letzten zehn Jahren mussten mindestens 100 Millionen Menschen ihr Zuhause verlassen und entweder anderswo im eigenen Land oder gar im Ausland Zuflucht suchen.1 Angesichts solch ernüchternder Zahlen gibt die Notlage der Vertriebenen Anlass zu äußerster Besorgnis. Wir können uns den Erretter zum Vorbild nehmen und nach Möglichkeiten Ausschau halten, wie wir uns persönlich der Notleidenden annehmen können.
Vertreibungen in der Geschichte der Kirche
Für Mitglieder der Kirche sollten Vertriebene mehr sein als nur eine Randnotiz in den Nachrichten; wir sollten sie als unsere Nächsten betrachten (siehe Matthäus 22:39), da wir – wie auch der Erretter selbst – in der Vergangenheit Ähnliches durchlebt haben. „Vor gar nicht so vielen Jahren war [ihre Geschichte] ja tatsächlich unsere Geschichte“, sagte Elder Patrick Kearon von der Präsidentschaft der Siebziger.2
Vor nicht allzu langer Zeit wurden die Heiligen der Letzten Tage gewaltsam aus ihren Häusern vertrieben und ihre Lebensgrundlage wurde zerstört. Wir sehen auch das Gute, was einige ihrer neuen Nachbarn unterwegs für sie taten. Als die Heiligen aus Missouri vertrieben wurden, nahmen die Anwohner in Quincy im US-Bundesstaat Illinois sie auf und boten ihre Hilfe an. Diese Menschen waren ein Vorbild, was den christlichen Dienst am Nächsten angeht, und „bewahrten die Mitglieder der Kirche vor noch schlimmeren Verlusten“3.
Auch der Erretter erlebte im Verlauf seines Erdenlebens, was es bedeutet, Flüchtling zu sein. Brett Macdonald von der Hilfsorganisation Latter-day Saint Charities hat Flüchtlingslager auf der ganzen Welt besucht. Er sagt hierzu: „Jesus und seine Eltern lebten eine Zeit lang als Flüchtlinge in Nordafrika. Man spürt seinen Einfluss und wie sehr er am Schicksal Notleidender Anteil nimmt.“4
Der Verhaltenskodex für humanitäre Hilfe in heutiger Zeit
Heutzutage haben wir die Möglichkeit, auf Flüchtlinge zuzugehen und die gleiche Hilfe anzubieten, die Mitglieder der Kirche im 19. Jahrhundert einst von ihren Nachbarn erhalten haben. Doch unsere vertriebenen Brüder und Schwestern in der heutigen Zeit brauchen mehr als nur materielle Hilfe oder Geld. Sie brauchen gute zwischenmenschliche Beziehungen und christlichen Dienst am Nächsten.
Viele humanitäre Organisationen, darunter auch Latter-day Saint Charities, folgen einem Verhaltenskodex für humanitäre Hilfe, an dem wir uns orientieren können, wenn wir uns der Vertriebenen annehmen. Der Kodex gilt nicht nur für die humanitäre Arbeit im weitesten Sinn, sondern beinhaltet auch Evangeliumsgrundsätze, die uns helfen können, die herabgesunkenen Hände auf lange Sicht emporzuheben und die müden Knie besser zu stärken (siehe Lehre und Bündnisse 81:5).
Das Prinzip der Menschlichkeit
Das Prinzip der Menschlichkeit besagt, dass wir bei unserem Dienst am Nächsten in jedem Einzelnen ein Kind Gottes sehen. Das mag zwar einfach klingen, aber es kann schwierig sein, sich das vor Augen zu halten, wenn jemand anders aussieht, anders handelt, spricht oder an etwas anderes glaubt als wir selbst.
Damit Sie in der Lage sind, in jedem das Göttliche zu erkennen, fragen Sie sich: „Inwiefern würde sich meine Sicht auf den Betreffenden ändern, wenn er mit mir verwandt wäre und ich ihn von Herzen gern hätte?“
Für eine Heilige der Letzten Tage stellte sich diese Frage ganz konkret, als ihre FHV nämlich in der Gemeinde eine Geschenkparty für eine werdende Mutter veranstaltete. Diese lebte als Flüchtling in der Bürgergemeinschaft.
Die FHV-Leitung hatte sich mit einer örtlichen Organisation zur Flüchtlingsintegration in Verbindung gesetzt, um sich zu erkundigen, ob es eine Mutter gebe, der man helfen könne. Nachdem die Verbindung zu einer Mutter und deren Familie hergestellt worden war, besuchten sie die Schwestern der FHV-Leitung zuhause und fragten sie, wie sie am besten helfen könnten. (Zum Prinzip der Menschlichkeit gehört jedenfalls, dass wir die Entscheidungsfreiheit jedes Flüchtlings achten, indem wir ihn fragen, welche Art Hilfe er sich wünscht, und dann mit dem Herzen zuhören.)
Die FHV-Leiterin schlug eine Geschenkparty vor und erklärte, dies sei eine Möglichkeit, gemeinsam der Geburt freudig entgegenzusehen und Geschenke zu übergeben, die Baby und Mutter brauchen könnten. Die Flüchtlingsfamilie willigte ein und meinte, so etwas wäre hilfreich.
Also begann die Gemeinde mit der Planung der Party. Eine der involvierten Schwestern hatte ein Baby aus Guatemala adoptiert. Aufgrund ihrer Erfahrung als Adoptivmutter lagen ihr all jene, die als Fremde in einem neuen Zuhause ankommen, besonders am Herzen. Die Adoption hatte sich lange hingezogen. Währenddessen hatte sich diese Schwester damit beschäftigt, für ihr zukünftiges Baby eine Steppdecke zu nähen. Sie wusste, was ihr eigener Adoptivsohn hatte durchmachen müssen, und konnte sich vorstellen, wie es der Flüchtlingsfamilie mit ihrem Baby erging. Daher wollte sie ihnen als Zeichen ihrer Verbundenheit die selbstgemachte Steppdecke schenken.
Bei der Geschenkparty erklärte die Frau, was sie mit der Flüchtlingsmutter verband. Sie beschrieb, dass ihr kleiner Sohn gleichfalls in einem neuen Zuhause hatte ankommen müssen und sie ihn bei seiner Ankunft liebevoll in die Steppdecke eingewickelt hatte. Die Frau überreichte der Flüchtlingsmutter die Decke mit den Worten: „Ich hoffe, Ihr Neugeborenes wird sie genauso mögen.“
Das Prinzip der Unparteilichkeit
Präsident Russell M. Nelson hat gesagt:
„Gott liebt keine ethnische Gruppe mehr als die andere. … Gott lädt alle ein, zu ihm zu kommen, ‚ob schwarz oder weiß, geknechtet oder frei, männlich oder weiblich‘ [2 Nephi 26:33]. …
Heute rufe ich unsere Mitglieder überall auf, mit gutem Beispiel voranzugehen und Einstellungen oder Verhaltensweisen aufzugeben, die auf Vorurteilen beruhen.“5
Die Worte von Präsident Nelson verdeutlichen das Prinzip der Unparteilichkeit. Wenn wir unserem Nächsten dienen, sollen wir keinerlei Unterschied machen – weder was Nationalität noch was ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Glaubensansichten, sozialen Status oder politische Ansichten angeht. Wir dienen unseren Mitmenschen auch dann, wenn sie anders sind als wir.
Ein Beispiel für Unparteilichkeit lässt sich im Gleichnis Christi vom barmherzigen Samariter in Lukas 10 erkennen. Obwohl sein Volk unter den Juden ausgegrenzt wurde, zögerte der Samariter nicht, jemandem anderer Herkunft zu helfen. Er traf für den Verletzten sogar Vorsorge und versuchte, alles zu tun, damit dieser wieder vollständig genesen könne.
Nachdem Christus das Gleichnis erzählt hatte, sagte er zu seinen Jüngern, der Samariter habe sich dem Verletzten gegenüber als Nächster erwiesen, denn er habe barmherzig gehandelt. Christi Auftrag lautete sodann: „Geh und handle du genauso!“ (Lukas 10:37.)
Das Prinzip der Unabhängigkeit
Humanitäre Hilfe unabhängig zu leisten bedeutet, nicht aus Eigennutz zu dienen. Stattdessen soll unser Dienst Unabhängigkeit und Eigenständigkeit fördern. Das kann bedeuten, den Vertriebenen Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sie ihre Fähigkeiten im neuen Umfeld nutzen können, oder ihnen etwas beizubringen, zum Beispiel eine neue Sprache oder den richtigen Umgang miteinander im Lichte der neuen Kultur. Je unabhängiger jemand ist, desto eher ist er in der Lage, eigenverantwortlich zu entscheiden und seine Fähigkeiten in den Dienst der Gesellschaft zu stellen.
Nicole kommt aus den Vereinigten Staaten und gehört der Kirche an. Sie fragte einige Flüchtlinge in ihrer Umgebung, ob es etwas gäbe, was sie lernen wollten, um eigenständiger zu werden. Und tatsächlich: Sie wollten lernen, wie man amerikanisch kocht. Also trommelte Nicole weitere Schwestern ihrer Gemeinde zusammen. Gemeinsam brachten sie den Flüchtlingen bei, Brot und Brötchen selbst zu backen. Die Gäste erhielten auch Backutensilien, damit sie zuhause alles nachbacken konnten. Mit dem Backkurs half Nicole den Flüchtlingen, durch die Aneignung neuer Koch- und Backtechniken eigenständiger zu werden.6
Unabhängigkeit können wir auch fördern, indem wir es den Hilfsbedürftigen ermöglichen, dass sie einander helfen. Wir können die Bedürftigen zwar unterstützen, doch wenn sie selbst die Initiative ergreifen, helfen sie sich selbst und ihren Mitmenschen und knüpfen außerdem freundschaftliche Bande zu denen, mit ihnen sie zusammenarbeiten. So können sie etwas für das Gemeinwesen tun und einander stärken.
Gemäß dem Beispiel des Erretters füreinander da sein
Gérald Caussé, Präsidierender Bischof der Kirche, hat gesagt: „Wir alle, die wir auf diesem schönen Planeten leben, haben die heilige Verpflichtung, uns um alle Kinder Gottes zu kümmern …, wer sie auch sind und wo immer sie sein mögen.“7 Dienst am Nächsten ist oft dann am sinnvollsten, wenn wir dabei den Einzelnen in unserem Umfeld im Blick haben.
Ein Mitglied der Kirche, das selbst erlebt hat, wie lohnend der Aufbau einer persönlichen Beziehung zu einem Flüchtling ist, sagt: „Schon die Bereitschaft, mit offenen Armen auf einen Flüchtling zuzugehen und helfen zu wollen, kann viel bewirken. Lernt man so eine Familie dann näher kennen, stellt man fest, dass jede Familie ihre eigene Geschichte hat.“8 Wenn wir uns für die Geschichte unserer Mitmenschen interessieren, versetzt uns das besser in die Lage, in ihnen Kinder Gottes zu sehen und so für sie da zu sein, wie der Erretter es an unserer Stelle wäre.