2021
Gemeinsam statt einsam
Juni 2021


In Treue altern

Gemeinsam statt einsam

Welchen Weg schlagen Sie jetzt, da das Nest leer ist, als Paar ein?

couple walking on beach

Fotos von Getty Images

Wenn ich Ehepaare berate, deren Kinder schon aus dem Haus sind, beschreiben sie ihre Erfahrung mit dem „leeren Nest“ oftmals so: „Im Handumdrehen war das Haus wieder leer. Wir haben es gar nicht richtig bemerkt! Eben erst haben wir uns noch auf die Geburt unseres ersten Kindes gefreut, und auf einmal sind die Kinder erwachsen und aus dem Haus. Die Jahre sind einfach verflogen! Jetzt schauen wir einander an und fragen uns: ‚Was verbindet uns eigentlich?‘“

Eine magische Liste gibt es nicht

Vielleicht mögen Sie denken: „Dieser Artikel ist genau das, was ich brauche!“, oder aber: „Das ist genau das, was mein Ehepartner jetzt braucht!“ Vielleicht sehnen Sie sich nach einer Liste mit bahnbrechenden Vorschlägen, wie Sie Ihr Leben im leeren Zuhause nun gestalten sollen. Im Verlauf meiner jahrelangen Tätigkeit als Paartherapeut habe ich jedoch herausgefunden: Eine Liste mit kreativen Handlungsanweisungen oder Vorschlägen, wie man wieder zueinanderfindet, funktioniert in den meisten Fällen nicht auf lange Sicht – außer es besteht bereits eine tragfähige gefühlsmäßige Verbundenheit.

Ob wir nun in Ulan-Bator in der Mongolei oder in São Paulo in Brasilien leben: Wir sind alle Söhne oder Töchter Gottes. Wir sind Menschen und haben daher Gefühle. Je nach kultureller Prägung und Erziehung drücken wir Gefühle vielleicht unterschiedlich aus, aber uns allen sind sie vertraut: Einsamkeit, Ablehnung, Angst, Traurigkeit, Glück oder Freude. Selbst in einer Kultur, wo üblicherweise immer mehrere Generationen unter einem Dach wohnen, leben sich die Eltern oft auseinander, wenn die Kinder erwachsen sind.

Ehepaare mit erwachsenen Kindern sagen mir oft: „Uns verbindet rein gar nichts mehr.“ Und wenn man lediglich das, was der eine gerne macht, dem gegenüberstellt, was der andere bevorzugt, trifft das in der Regel auch zu. Ohne gefühlsmäßige Verbundenheit können wir uns mit dem Ehepartner das Zimmer teilen und uns dennoch einsam fühlen.

Was kann ein Ehepaar also tun, um sich einander zuzuwenden, anstatt sich voneinander abzuwenden? Reden wir zunächst über unser jeweiliges Elternhaus.

Das Elternhaus wirkt sich auf die Ehe aus

Wir alle kommen aus unterschiedlichen Verhältnissen. Unsere eigenen Erfahrungen mit Eltern, Geschwistern, der erweiterten Familie, mit Freunden und Bekannten prägen und formen das, was wir in der Ehe tun und vom Partner erwarten. Standen uns unsere Erziehungsberechtigten in der Zeit des Heranwachsens nahe oder gab es da immer eine gefühlsmäßige Distanz? Mit diesem Ausgangspunkt können wir uns zwei grundlegende Fragen stellen:

  • Wie nahe lassen wir unseren Ehepartner gefühlsmäßig an uns heran?

  • Sind wir bereit, unseren Ehepartner an unseren Gefühlen teilhaben zu lassen?

Wenn wir lediglich das Verhalten unseres Ehepartners in den Vordergrund stellen, aber die Gründe, wieso es überhaupt dazu gekommen ist, außer Acht lassen, beschwören wir oftmals eine unnachgiebige Haltung herauf. Ein Einlenken ist dann schwer möglich. Wenn jemand für seinen Ehepartner Verständnis zeigt und Mitgefühl hat angesichts der Schwierigkeiten, die dieser in jungen Jahren erlebt hat, führt das in der Regel dazu, dass man den Wunsch hat, den Partner besser zu unterstützen. Mitgefühl, Milde und Sanftheit führen zu einem Klima, in dem man sich leichter öffnen und über Gefühle sprechen kann. Wenn wir lernen, mit unserem Ehepartner über unsere Gefühle zu sprechen, führt das dazu, dass wir uns geborgen und einander verbunden fühlen.

Präsident Russell M. Nelson hat uns den Rat gegeben, „dass man sich gut mit dem Ehepartner verständigt. … Ehepaare brauchen Zeit für sich, in der sie [Dinge wahrnehmen], miteinander sprechen und einander wirklich zuhören können.“1

Benennen, bewusst spüren, akzeptieren und darüber reden

Auch nach vielen Ehejahren kann es schwierig sein, heikle Themen anzuschneiden. Gehen wir schrittweise vor, wird es jedoch einfacher:

  1. Benennen Sie Ihre Gefühle. Geben Sie ihnen einen Namen, zum Beispiel „Verzweiflung“, „Vorfreude“ oder „Ungeduld“.

  2. Spüren Sie sie ganz bewusst. Entschleunigen Sie. Fragen Sie sich: „Wo und wann kommen diese Gefühle auf?“

  3. Akzeptieren Sie Ihre Gefühle. Gefühle dienen einem Zweck. Für Ihre Gefühle müssen Sie sich nicht schämen, und Sie sollten auch Ihrem Ehepartner seine Gefühle nicht zum Vorwurf machen. Bemühen Sie sich stattdessen um Hilfe und Führung vom Vater im Himmel.

  4. Reden Sie darüber. Wenn Sie mit dem Ehepartner über Ihre Gefühle reden, bringt Sie das einander oft näher. In den Evangeliumsthemen heißt es: „Ein Paar kann seine Ehe stärken, wenn es sich Zeit nimmt, miteinander zu sprechen und einander zuzuhören, wenn es aufmerksam und respektvoll miteinander umgeht und häufig Zärtlichkeit und Zuneigung zum Ausdruck bringt.“2

Ehepartner jedes Alters stärken ihre Beziehung, wenn sie lernen, ihre Gefühle zu erkennen, anzuerkennen, zu verstehen und über sie zu reden. Hierbei mag die Anwendung zweier inspirierter Grundsätze helfen: 1.) „Mann und Frau tragen die feierliche Verantwortung, einander … zu lieben und zu umsorgen“, und 2.) Mann und Frau „müssen einander … als gleichwertige Partner zur Seite stehen.“3

Versuchen Sie es mit einem „sanften Anlauf“

elderly couple holding hands

Der bekannte Psychologe und Eheforscher Dr. John Gottman ist der Ansicht, dass eine gute Ehe auf der Fähigkeit beruht, schwierige Themen und Gefühle zu besprechen und aufzuarbeiten. Er hat ein Modell entwickelt, das er als „sanften Anlauf“ bezeichnet. Der Ehepartner, der etwas auf dem Herzen hat, schafft einen lockeren Rahmen, um das Anliegen zu besprechen, ohne dabei jedoch sein Gegenüber zu kritisieren. Zu dieser Methode gehören vier Teilschritte:

  1. Sprechen Sie aus, wie Sie sich fühlen. Konzentrieren Sie sich dabei auf das, was Sie selbst fühlen, und nicht auf das, was Ihr Gegenüber tut oder sagt. Zum Beispiel: „Ich bin besorgt, betroffen, beunruhigt oder verängstigt.“ Drücken Sie Ihre Gefühle in der Ich-Form aus, zum Beispiel „Ich fühle mich …“

  2. Sprechen Sie eine bestimmte Situation oder ein bestimmtes Ereignis an. Drücken Sie sich möglichst klar und präzise aus. Vermeiden Sie es aber, Ihren Ehepartner in eine Schublade zu stecken oder zu kritisieren. Schildern Sie, wie es Ihnen in der Folge deswegen ergangen ist und wie Ihnen zumute war oder ist.

  3. Äußern Sie ein positives Bedürfnis. Erläutern Sie, was für Sie in der Beziehung wichtig ist. Bitten Sie Ihren Ehepartner, positive Maßnahmen zu ergreifen, um Ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Bringen Sie Ihre Bitte respektvoll vor. Wer „bitte“ oder „das wäre lieb“ sagt, erzielt eine nachhaltigere Wirkung.

  4. Bedanken Sie sich. Geben Sie Ihrem Ehepartner ein positives Feedback zu dem, was für Sie gut funktioniert.

Bindungsverletzungen

Die meisten von uns sind entweder überaus dankbar für die gefühlsmäßige Verbundenheit mit ihrem Ehepartner oder sehnen sich zutiefst danach. In den Schriften heißt es: „Doch im Herrn gibt es weder die Frau ohne den Mann noch den Mann ohne die Frau.“ (1 Korinther 11:11.) Wenn wir etwas auf dem Herzen haben und uns damit an unseren Ehepartner wenden wollen, dieser aber aus irgendeinem Grund nicht erreichbar ist oder uns nicht trösten kann, kommt es ziemlich wahrscheinlich zu dem, was Dr. Sue Johnson als Bindungsverletzung bezeichnet. Eine solche Verletzung führt zu unterschiedlichen, aber immer negativen Reaktionen:

  • Angriff. Wir schlagen um uns, kritisieren unseren Ehepartner dafür, dass er nicht da ist, und übersteigern das Schlechte: „Nie bist du für mich da. Was ich brauche, interessiert dich überhaupt nicht!“

  • Beschwichtigung. Wir geben dem Partner recht in der Hoffnung, dass die Debatte damit beendet ist oder zumindest nicht an Fahrt gewinnt. Doch nichts wird dadurch gelöst, und es staut sich für gewöhnlich nur noch mehr Groll auf.

  • Abwehr. Wie ein Anwalt bei Gericht legen wir Beweise dafür vor, warum unter den gegebenen Umständen unsere Reaktion gerechtfertigt ist.

  • Rückzug. Wir ziehen uns zurück und sagen nichts mehr. Wir halten Abstand und reden höchstens noch über Alltägliches. Verbundenheit ist da keine spürbar.

  • Nachbohren. Wir brauchen die ersehnte Verbundenheit so sehr, dass wir ständig Fragen stellen, nachhaken, Zusagen einfordern und die Debatte zu beherrschen trachten – nicht um der Beziehung willen, sondern zur Beruhigung unserer verletzten Gefühle.

Wenn wir das Gefühl haben, wir hätten die Verbundenheit mit dem Menschen verloren, den wir lieben, sind solche Reaktionen gar nicht einmal so selten. Allerdings bergen sie eine Gefahr, weil sie einem negativen Kreislauf Vorschub leisten können. Am Anfang erleiden wir eine Bindungsverletzung, dann erfolgt die negative Reaktion. Auf diese folgt eine weitere negative Reaktion, und schon befinden wir uns in einer Abwärtsspirale. Zu diesem schädlichen Kreislauf trägt somit jeder Ehepartner bei – er verletzt und wird verletzt.

Körperliche und seelische Intimität

couple in Hong Kong

Es versteht sich von selbst, dass Intimität ein wichtiger Bestandteil der Ehe ist. Genauer gesagt hat Intimität in der Ehe viele Facetten. Das Gefühl, einander nahe zu sein, der eigentliche körperliche Kontakt und das Gefühl einer starken seelischen Verbundenheit sind alle miteinander verwoben.

Seelische Intimität fördert Verbundenheit und Nähe, was wiederum die sexuelle Intimität vertieft und bereichert. Ist das sexuelle Verlangen bei einem Ehepartner wenig ausgeprägt und verspürt er daneben auch keine oder nur eine geringe gefühlsmäßige Bindung an den Partner, kann sexuelle Betätigung für ihn zu einem Problem werden. In diesem Sinne bietet eine normale, gesunde emotionale Bindung einen sicheren Hafen für sexuelle Intimität.

Mit zunehmendem Alter kann sexuelle Intimität schwieriger werden. In einigen Fällen kann ein kompetenter Arzt oder Therapeut Aufschluss geben und helfen. Ich denke aber, dass es von großem Wert sein kann, den Körperkontakt aufrechtzuerhalten, indem man einander zum Beispiel einen Gute-Nacht-Kuss gibt, Händchen hält oder einander liebevoll umarmt und drückt.

Eine Liste, die funktioniert

two birds sitting in a nest

Illustrationen von Carolyn Vibbert

Wünschen Sie sich noch immer eine Liste mit kreativen Handlungsanweisungen oder Vorschlägen, wie man wieder zueinander findet, wenn die Kinder aus dem Haus sind? Hier ist die gute Nachricht: Wenn Sie einander gefühlsmäßig verbunden geblieben sind oder die emotionale Bindung wiederhergestellt ist, können Sie viel leichter eine Liste mit Vorschlägen erstellen, die von Ihnen beiden kommen. Dann ist es Ihre Liste, und weil Sie sie selbst erarbeitet haben, wollen Sie sie auch viel eher umsetzen. Hat ein Paar eine stärkere emotionale Bindung aufgebaut, arbeiten beide Partner in der Regel eng zusammen und können eheliche Probleme ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Hobbys, Interessen oder Unternehmungen ausräumen.

Anmerkungen

  1. Russell M. Nelson, „Pflegen Sie Ihre Ehe!“, Liahona, Mai 2006, Seite 37

  2. „Ehe“, Evangeliumsthemen, topics.ChurchofJesusChrist.org

  3. „Die Familie – eine Proklamation an die Welt“, ChurchofJesusChrist.org