„Die Drachme im Maul des Fisches“, Liahona, August 2023
Die Wundertaten Jesu
Die Drachme im Maul des Fisches
Was können wir aus diesem Wunder darüber lernen, wie der Herr sein Werk vollbringt?
Hin und wieder lesen wir im Neuen Testament von Begebenheiten, die sich von den anderen Gleichnissen und Wundern deutlich unterscheiden. So ist es auch mit dem Wunder, in dem es um die Tempelsteuer im Fischmaul geht.
Dieses Wunder wird schnell übersehen, erhält wenig Aufmerksamkeit und wird selten kommentiert, denn der Bericht besteht nur aus vier Versen:
„Als Jesus und die Jünger nach Kafarnaum kamen, traten jene, welche die Doppeldrachme einzogen, zu Petrus und fragten: Zahlt euer Meister die Doppeldrachme nicht?
Er antwortete: Doch! Als er dann ins Haus hineinging, kam ihm Jesus mit der Frage zuvor: Was meinst du, Simon, von wem erheben die Könige dieser Welt Zölle und Steuern? Von ihren eigenen Söhnen oder von den anderen Leuten?
Als Petrus antwortete: Von den anderen!, sagte Jesus zu ihm: Also sind die Söhne frei.
Damit wir aber bei ihnen keinen Anstoß erregen, geh an den See, wirf die Angel aus und den ersten Fisch, den du heraufholst, nimm, öffne ihm das Maul und du wirst ein Vierdrachmenstück finden. Das gib ihnen als Steuer für mich und für dich.“ (Matthäus 17:24-27.)
Das Wunder
Warum hat Matthäus als Einziger der Evangelisten dieses Wunder in seinen Bericht über das Wirken des Herrn aufgenommen? Lag es daran, dass Matthäus als ehemaliger Zöllner sich mit dieser Situation identifizieren konnte? Lag es daran, dass Matthäus selbst aus dem Ort des Geschehens – also aus Kafarnaum – stammte? Oder wollte er einen weiteren Beleg für die wundersame Macht Jesu Christi anführen, dass ihm nicht nur die Elemente gehorchten (siehe Matthäus 8:23-27), sondern auch die Fische des Meeres? (Siehe Genesis 1:28.)
Wenn wir über diese Verse nachsinnen, lernen wir viel aus der Art und Weise, wie der Erretter auf seinen Apostel Petrus einging. Die meisten Wunder, die Jesus Christus vollbrachte, waren göttliche Werke, die zum Wohle anderer eingesetzt wurden. Dieses Wunder scheint jedoch als Gelegenheit zur Unterweisung gedacht zu sein, um Petrus und die anderen Apostel auf künftige Führungsaufgaben im Reich Gottes vorzubereiten. Durch Wort und Tat gab Jesus zu verstehen: Er war wahrhaftig Gottes Sohn, er hatte die Macht zu erkennen, was Petrus gerade zu den Zöllnern gesagt hatte, er verfügte über eine geradezu „unfassbare Allwissenheit“ und wusste, welcher Fisch wo genau sein würde,1 und es war sein Wunsch, niemals grundlos den Glaubensschwachen zum Anstoß oder zum Stolperstein zu werden (siehe 1 Korinther 8:9,10; 9:22).
Ein neuzeitlicher Apostel schreibt in wohlgesetzten Worten, dass Jesus durch dieses Wunder „Petrus auf wundersame Weise bestätigen kann, wahrhaftig der Sohn Gottes zu sein. Dies tut er, indem er ein ungewöhnliches und einzigartiges Wunder vollbringt – eines, wie es kein anderer jemals zuvor als Sterblicher vollbracht hatte. Er zahlt eine Steuer, die er niemandem schuldet, und zwar mit Geld, das er nicht eingenommen hat, um die zu beschwichtigen, bei denen er keinen Anstoß erregen möchte.“2
Geschichtlicher Zusammenhang
Die jährliche Tempelsteuer oder Doppeldrachme belief sich auf zwei Drachmen oder einen halben Schekel und wurde von jedem erwachsenen Mann in Israel erhoben, wobei Priester und Rabbis sich davon für gewöhnlich ausnahmen. Mit diesem Steuergeld sollten die Instandhaltung und der Betrieb des Tempels finanziert werden. Es handelte sich um eine Art Kirchensteuer, war aber keine staatliche Forderung.
Ursprünglich wurde diese Steuer zur Zeit von Mose als „Sühnegeld“ bezeichnet. Wenn es jemals jemanden gab, der von dieser Steuer befreit war, dann der Messias, der für die Sünden aller Menschen sühnte.3 Doch obwohl Petrus sich von den Zöllnern voreilig in die Pflicht nehmen ließ, wies ihn der Herr nicht zurecht, sondern vermittelte ihm wertvolle Erkenntnisse.
Wie so oft leitete Jesus seine Unterweisung mit Fragen ein, die zum Nachdenken anregen sollten. Durch diese Fragen wurde Petrus klar, dass der Herr keiner solchen Steuer unterlag, denn er ist der Sohn Gottes und der Tempel ist das Haus, das dem Vater und dem Sohn gleichermaßen gehört. Doch dann bewies er vollkommene Sanftmut, gab seinem Apostel „Rückendeckung“ und machte ihm so begreiflich, dass es jetzt nicht an der Zeit war, grundlos zum Stein des Anstoßes zu werden. Es wäre ein Leichtes gewesen, auf gewöhnliche Weise an den geforderten halben Schekel zu kommen. Doch der Herr nutzte die Gelegenheit und stärkte den Glauben seines Apostels Petrus, indem er seine wundersame Macht ausübte und ihm so bewies, dass sogar die Fische des Meeres ihm gehorchten.
Was sich aus der Begebenheit lernen lässt
Denken Sie darüber nach, was Petrus und die anderen Apostel aus dieser Begebenheit gelernt haben und wie sich das Gelernte auf uns beziehen lässt:
1. Petrus stellte fest, dass Jesus Christus sogar seine Gedanken kennt. Bevor Petrus zu sprechen begann, wusste Jesus bereits, was Petrus zu jenen gesagt hatte, die gekommen waren, um die Tempelsteuer einzutreiben. Später nutzte Petrus die gleiche Gabe des Erkennens, als Hananias und Saphira in Bezug auf ihre Opfergabe logen (siehe Apostelgeschichte 5:1-11).
2. Jesus erklärte, der Herr werde ungeachtet der materiellen oder finanziellen Erfordernisse einen Weg bereiten, wie sein Werk – ob auf wundersame oder banale Weise – vorangebracht werden kann.
Ein neuzeitliches Beispiel für die „Drachme im Fischmaul“ trug sich zu, als Brigham Young und Heber C. Kimball mit der Postkutsche auf dem Weg zu ihrer Mission nach England durch Indiana und Ohio reisten. Sie brachen mit dreizehn Dollar und fünfzig Cent auf und rechneten nicht damit, mit der Postkutsche sehr weit fahren zu können. Doch an jedem Haltepunkt fand Brigham Young, als er zu seinem Koffer ging, auf wundersame Weise das Geld, das sie brauchten, um ihr Fahrgeld zum nächsten Haltepunkt zu bezahlen.4 Bei ihrer Ankunft hatten sie über 87 Dollar gezahlt. In einem Tagebuch der Ersten Präsidentschaft von 1860 heißt es: „[Brigham Young] war zu seinem Koffer gegangen, und zu seiner großen Überraschung hatte er dort etwas Geld gefunden. Bis zum heutigen Tag kann er sich nicht erklären, wie es anders dort hingekommen sein soll als durch einen unsichtbaren Beauftragten aus der himmlischen Welt, um die Verkündung des Evangeliums voranzubringen.“5
3. Bei Bedarf vollbringt der Herr Wunder, um die von den Führern seiner Kirche ausgesprochenen Verheißungen zu erfüllen. 1967 verhieß Präsident Spencer W. Kimball den Mitgliedern der Kirche, dass – sofern sie ihren Teil dazu beitragen – der Eiserne Vorhang in Europa und der Bambusvorhang in Asien fallen würden, damit sich die Missionsarbeit in aller Welt entfalten könne.6 Eine solche Entwicklung schien damals in unerreichbarer Ferne zu sein, undenkbar, völlig abwegig. Doch nach Ablauf von nur gut zwei Jahrzehnten stürzten diese Mauern unerwartet, auf geradezu wundersame Weise ein.
4. Auch wenn wir als Jünger Christi vielleicht wissen, dass wir im Recht sind, gibt es Zeiten, in denen wir nicht auf unser Recht beharren oder von anderen verlangen dürfen, unsere Sichtweise als richtig anzuerkennen, da dies nur dazu führen könnte, dass jemand unnötigerweise Anstoß nimmt. Schlimmer noch: Es könnte sich als Stolperstein für den geistigen Fortschritt von jemand anderem erweisen.
Präsident James E. Faust (1920–2007), ehemals Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, ist ein wunderbares Beispiel für diese Art von Sanftmut und dass man nicht zulässt, zum Stolperstein zu werden. „Sein Sohn Marcus wollte gern mit seinem Vater in den Washington-D.C.-Tempel gehen und dort an einer Endowmentsession teilnehmen. Präsident Faust zeigte seinen Tempelschein vor – er hatte einen besonderen Schein für Generalautoritäten – und bat um Einlass. Doch der Tempelarbeiter wusste nicht, wer vor ihm stand, und konnte auch mit dem Tempelschein nichts anfangen. Also verweigerte er ihm den Zutritt. ‚Anstatt dem Mann zu sagen, wer er war, und ihn dadurch in Verlegenheit zu bringen, entschuldigte sich Papa höflich und wir gingen alle wieder.‘“7
Ich bin dankbar für den Bericht im Matthäusevangelium über die Drachme im Maul des Fisches. Der so menschliche und impulsive Petrus, der ja Fischer ist, hat hier ein weiteres Wunder erlebt, das mit dem Fischen zu tun hat.8 Es ist für uns Anlass zur Hoffnung, dass der Herr uns ebenso helfen wird, uns weiterzuentwickeln – trotz unserer Fehler. Wie Petrus lernen auch wir aus dem Beispiel unseres Heilands, der bei Fehlern geduldig und sanftmütig war, obwohl er selbst allmächtig war.
Mögen wir wie die Apostel damals erkennen, dass der Herr wahrhaftig der Sohn Gottes ist, und darauf vertrauen, dass er uns auf wundersame Weise die Mittel an die Hand gibt, um seine Absichten zu verwirklichen. Mögen wir auch in unserem Dienst am Nächsten und in unseren Beziehungen zu unseren Mitmenschen sorgfältig überlegen, welche Worte oder Taten ein Stolperstein sein könnten – vor allem für diejenigen, deren Glauben schwach ist.