Gleichgeschlechtliche Neigungen
Ricardos Geschichte


„Ricardos Geschichte“, Gleichgeschlechtliche Neigungen: Erfahrungsberichte von Mitgliedern der Kirche, 2020

„Ricardos Geschichte“, Gleichgeschlechtliche Neigungen: Erfahrungsberichte von Mitgliedern der Kirche

Ricardos Geschichte

Ricardos Geschichte und seine Sicht darauf

Ricardo: Ich heiße Ricardo. Ich bin ein Heiliger der Letzten Tage. Ich habe sechs Kinder, und ich fühle mich zu Männern hingezogen. Ich muss sagen, dass ich in meinem Leben immer versucht habe, das große Ganze im Auge zu behalten. Ich weiß noch, dass mich als Kind immer die Kunst angesprochen hat, und etwas basteln zu können war für mich immer so eine Art Hintertür, durch die ich dem wirklichen Leben entfliehen konnte. Meine Freunde und die Kinder in der Schule spielten Fußball und so, aber dazu hatte ich keinen richtigen Zugang. Ich erinnere mich noch gut daran, wie mich mein Vater zu sich rief und mir sagte: „Nimm dich in Acht, wie du dich gibst. Du musst in deiner Ausdrucksweise männlicher werden. Benimm dich doch mal wie ein Junge.“ Danach ging ich in mein Zimmer und fing an zu weinen. Ich verstand nicht, warum man mich nicht so lassen wollte, wie ich war.

Ich habe gemacht, was jeder Junge in der Kirche tut: das Priestertum empfangen, das Abendmahl austeilen, auf Mission gehen … Das habe ich gemacht, aber es hat mich nicht so richtig erfüllt. Nach meinen zwei Jahren auf Mission ging ich in die Vereinigten Staaten, um Grafikdesigner zu werden, und in der Zeit lernte ich meine Frau kennen. Vom ersten Tag an fühlte ich mich wirklich zu ihr hingezogen.

Elizabeth: Als ich Ricardo kennenlernte, war ich gerade in eine WG gezogen. Es war mein letztes Jahr am College. Ich dachte mir nichts dabei, er fragte mich einfach, ob ich mit ihm ausgehen wolle, und so fing alles an.

Ricardo: Ich war sehr beeindruckt von ihr und fühlte mich in ihrer Nähe wohl. Ich dachte mir: Das will ich! So möchte ich mich immer fühlen! Als es zwischen uns ernster wurde, fand ich es wichtig, ihr zu erzählen, dass ich Gefühle für Männer habe. Allerdings habe ich ihr das nicht gleich so gesagt. Ich hatte echt Angst davor.

Elizabeth: Ja, das hat mich ganz schön getroffen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich glaube, niemand rechnet damit. Aber ich weiß, was für ein Mensch er ist, und es hat meine Gefühle für ihn nicht verändert. Ich liebte ihn immer noch und wollte unsere Beziehung weiterführen.

Ricardo: Ich weiß, so mancher könnte nun fragen: „Wie kommt es, dass du dich zu deiner Frau hingezogen fühlst, wo du doch sagst, dass du homosexuell veranlagt bist?“ Ich muss sagen, dass ich dafür eigentlich keine Erklärung habe. Ich kann nur sagen, dass es bei mir eben so ist. Vor ein paar Jahren wurde ich als künstlerischer Leiter bei der Kirche eingestellt, und bei einer Besprechung lernte ich einen Kollegen kennen, der dazu stand, schwul zu sein. Ich war sehr beeindruckt davon, wie selbstbewusst er völlig zwanglos über seine gleichgeschlechtlichen Neigungen sprach. Ich weiß noch, dass wir zusammen Mittag aßen und ich ihm von mir erzählte. Es tat wirklich gut, mit jemandem reden zu können, der mir ähnlich war – jemand, der mir helfen und mich unterstützen konnte und durch den ich mich besser verstehen lernte, weil er das Gleiche durchmachte.

Mir ging so richtig das Herz auf, ich fühlte mich plötzlich so lebendig, und damals begann ich, die einzelnen Teile meines Lebens zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen. Ich baute mir ein gutes Netzwerk von Freunden auf, die mir Halt gaben.

Elizabeth: Er suchte sich neue Freunde und ging zu Themenabenden und kam immer glücklich und voller Energie zurück. Er sagte, er fühle sich ausgeglichener, aber irgendwann konnte ich nicht mehr. Er schrieb viele SMS und war viel unterwegs, was gut für ihn war. Ich habe mich für ihn gefreut, aber gleichzeitig hatte ich den Eindruck, dass ich nicht mehr der wichtigste Mensch in seinem Leben war.

Ricardo: Sie sagte, sie sei glücklich, dass ich selbstbewusster, ruhiger und zufriedener sei, aber sie kam sich vor wie eine alleinerziehende Mutter, weil ich so viele Stunden arbeitete, und zuhause riefen mich dann meine Freunde an oder schrieben mir. Sie brauchte meine Zeit und Aufmerksamkeit, und mir war nicht bewusst, wie wenig Zeit ich meinen Kindern und meiner Frau einräumte. Folglich gingen wir diesen Weg nicht gemeinsam. Ich beschloss aber, zuhause das Handy wegzulegen und für die Kinder und für sie da zu sein, und das hat wirklich viel gebracht.

Elizabeth: Ich glaube, es hat dann noch gut vier Monate gedauert, nachdem er wirklich offen und ehrlich darüber gesprochen hatte und bereit gewesen war, an einem gesunden Verhältnis zu Männern zu arbeiten. Ich brauchte aber einfach Normalität.

Ricardo: Wenn ich auf all die Teilbereiche zurückblicke, die mein Leben geprägt haben, zeichnet sich allmählich ein bestimmtes Bild ab. Nun sehe ich Gott im Mittelpunkt und ich strecke trotz der geistigen Dornen, die mich zuvor gequält haben, meine Hand zu ihm aus. Dieses Gesamtbild – schwul und zugleich Heiliger der Letzten Tage zu sein – hat für mich jetzt eine ganz andere Aussagekraft. Früher hatte ich mich immer als von Gott und dem Erretter abgekoppelt gesehen – allein aufgrund der Tatsache, dass ich eben diese Neigungen habe. Aber das war nur die Wahrnehmung meiner selbst und wie ich mich in meiner Beziehung zum Erretter sah. Ich fühlte mich seiner nie ganz würdig. Ich fand es befreiend, mit Menschen, die ich liebe, darüber sprechen zu können und ihre Unterstützung zu erleben – mit meiner Frau zu sprechen und einfach ich selbst zu sein, das war schön. Ich muss nicht vollkommen sein. Ich kann mir eine Neigung eingestehen und trotzdem weiterleben. Es gibt einem Kraft, wenn man etwas Verborgenes aufarbeitet und zulässt, dass das Licht Christi einen berührt und heilt. Es ist, als wäre das Bild nun komplett, als würde man weitergehen – aufwärts zum Licht empor. Man muss diesen Weg nicht alleine gehen. Die ganze Familie ist involviert, das ganze Umfeld trägt das mit. Wenn ich die Unterstützung und Liebe meines Bischofs und meiner Frau, meiner guten Freunde bei der Arbeit und meiner Kollegen verspüre, spüre ich die Liebe und Unterstützung Gottes.

Meine Neigungen werden nicht verschwinden. Sie werden mich mein Leben lang begleiten. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass ich etwas verliere. Authentisch zu sein heißt für mich, herauszufinden, wie man tief im Inneren wirklich glücklich sein kann. Und für mich ist es wichtig, dass dieses Glücksempfinden an meinen Glauben und das Evangelium gekoppelt und daran ausgerichtet ist. Das hat sich für mich bewährt.

Ricardos Geschichte: Fortsetzung

Sich zu öffnen ist nicht immer leicht. Es ist kompliziert, und es gehört viel Mut dazu. Dieses Jahr war wichtig, weil ich mir nun eingestehen konnte, dass ich mich tatsächlich zu Männern hingezogen fühle. Ich habe das immer gespürt, jedoch nie wirklich verstanden, und ich wusste auch nicht, wie ich damit authentisch umgehen kann. Manchen Heiligen der Letzten Tage fällt es schwer, das zu verstehen. Es kommt einem vielleicht so vor, als würde man ein Gebot brechen, wenn man zu seinen gleichgeschlechtlichen Neigungen steht. Ich finde, das stimmt ganz und gar nicht. Diese Neigungen zu erkennen und ehrlich damit umzugehen, hat mir Frieden gebracht.

Ich möchte Ihnen erzählen, wie durch meinen Umgang mit gleichgeschlechtlichen Neigungen aus Schmerz und Scham etwas Positives geworden ist. Ja, es ist tatsächlich ein Segen!

Ich bin froh, im Herzen zu wissen, dass mich meine Neigungen nicht als Mensch oder als Sohn Gottes ausmachen. Durch sie kann ich anderen ein Segen sein, wenn ich dem Erretter folge.

Mein langer Weg bis hierher begann, als ich vier Jahre alt war. Ich bin in Mexiko-Stadt als ältestes von fünf Kindern aufgewachsen. Bei uns zuhause waren immer viele Menschen, ich hatte nur wenig Privatsphäre, denn ständig waren Verwandte oder andere Besucher da.

Zwei Männer, die einmal bei uns wohnten, haben mich sexuell missbraucht und taten so, als wäre es ein Spiel. In dem Alter verstand ich überhaupt nicht, was mit mir geschah. Durch die Gefühle, die sie in mir auslösten, fühlte ich mich zu ihnen hingezogen. Diese Gefühle waren sehr intensiv und brachten mich durcheinander. Die Männer waren nicht gewaltsam – im Gegenteil, sie gaben mir Süßigkeiten und schenkten mir Aufmerksamkeit.

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Ein von Ricardo gemaltes Bild

Ich sehnte mich nach dieser Aufmerksamkeit und genoss sie. Leider veränderte es mich seelisch und wirkte sich darauf aus, was ich für Männer empfand und wie ich sie wahrnahm. Ich bin mir nicht sicher, ob dieses Erlebnis die Ursache für meine körperlichen Neigungen zu Männern war, aber es rief Gefühle und Gewohnheiten hervor, die mir noch Jahre danach zu schaffen machten.

Über die Ursache meiner Gefühle zu spekulieren, bringt mir gar nichts. Für mich ist wichtig, dass ich jetzt nachvollziehen kann, wie dieses Erlebnis mein Selbstverständnis als Mann und als Sohn Gottes geprägt hat.

Ich hatte immer das Gefühl, meine Gefühle würden im Widerspruch zu meiner Würdigkeit stehen. Ich habe mich über 40 Jahre lang geschämt. Glücklicherweise hatte ich ein liebevolles Zuhause. Ich war immer aktiv in der Kirche. Das hat mir wirklich geholfen und mir Hoffnung gegeben. Allerdings fühlte ich mich des Erretters immer unwürdig.

In meiner Jugend kam es mir immer so vor, als würde ich einen anderen Blickwinkel haben und auf anderes Wert legen als die Leute um mich herum. Ich malte gern, war künstlerisch begabt und konnte das Schöne um mich herum sehen und genießen. Ich weiß noch, dass ich aus Papierservietten Kleidung für die Puppen meiner Schwestern gemacht habe. Die fanden das super! Natürlich durfte mein Vater davon nichts mitbekommen. Immer wieder sagte mir mein Vater, ich solle mich wie ein Junge ausdrücken, Fussball spielen, eine Freundin haben – mich eben wie ein Junge verhalten. Das brachte mich oft zum Weinen, denn ich verstand einfach nicht, was daran so schlimm sei. Ich tat doch niemandem weh. Ich weiß, dass er es gut mit mir meinte, aber seine Worte verstärkten meine Scham nur noch und führten dazu, dass ich mich noch mehr als andersgeartet wahrnahm. Ich glaube, das ist der Grund, warum ich mich bisher nicht getraut habe, mit ihm über meine gleichgeschlechtlichen Neigungen zu sprechen. Mein Vater war und ist sehr liebevoll, aber ich habe nie eine starke Bindung zu ihm gehabt, woran wir beide inzwischen aber arbeiten.

In der Schule fielen mir sowohl attraktive Jungen als auch ein paar Mädchen auf, und dieser Konflikt quälte mich. Ich behielt ihn für mich und verbarg ihn hinter dicken Mauern, die ich zu meinem eigenen Schutz errichtete.

Eine dieser Schutzschichten war das Essen. Eine Zeit lang wog ich über 130 Kilo. Ich fühlte mich weder attraktiv noch selbstbewusst und war in meinen Beziehungen sowohl zu Männern als auch zu Frauen sehr unsicher. Das fügte meiner Seele weitere Wunden hinzu. Ich wusste, dass der Erretter für mich da ist, aber ich wusste nicht, wie ich ihn erreichen kann. Das Einzige, was mir Mut machte, war die Vorstellung, dass ich vom Erretter getragen werde.

Ich ging in den USA aufs College und wusste nicht so recht, was ich empfand, besonders für Männer, die mir nahestanden. Vor allem einer hinterließ ein Loch in meiner Seele, als er auf Mission ging. Ich weiß noch, wie ich dachte: „Was um alles in der Welt ist mit mir los? Warum habe ich solche Gefühle?“ Ich wusste, dass ich Hilfe brauchte, aber ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Schließlich fasste ich mir ein Herz und ging zu einem Therapeuten am College. Er half mir, mit dem sexuellen Missbrauch klarzukommen, was schwer genug war, aber ich war nicht imstande, mit ihm über meine gleichgeschlechtlichen Neigungen zu sprechen.

Als ich 27 Jahre alt war, hatte ich das Gefühl, dass ich mehr Lebensinhalt brauche. Ich hatte aber solche Angst davor, eine Heirat auch nur in Betracht zu ziehen. Ich dachte wirklich, ich würde ewig unverheiratet bleiben. Ich bat den Vater im Himmel, mir zu helfen, dem Geist zu folgen und die Person zu finden, die ich heiraten sollte. Kurz danach lernte ich meine Frau kennen. Ich erinnere mich genau an den Tag, an dem wir uns begegneten. Ich fühlte mich von Anfang an zu ihr hingezogen. Sie sah glücklich, schön und selbstbewusst aus. Sie strahlte so einen Frieden aus, und das wollte ich auch erleben.

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Ricardo malt

Wir gingen miteinander aus. Manchmal fiel es mir schwer, mit meiner Freundin irgendwo zu sein und dort Männer zu sehen, die ich attraktiv fand. Dieses Gefühl war mir zuwider. Ich war verzweifelt und dachte, ich sei ihrer und Gottes nicht würdig. Als unsere Beziehung ernster wurde, erzählte ich ihr von dem sexuellen Missbrauch und was ich für Männer empfand. Damals hatte ich weder die Worte noch eine Methode, um meine Gefühle genau auszudrücken.

Sie sagte mir, sie sei traurig, dass ich das alleine durchmachen musste, aber sie würde mich noch immer lieben. Sie wusste allerdings nicht, wie stark meine gleichgeschlechtlichen Neigungen ausgeprägt waren. Sie sagte, dass sie mich so liebt, wie ich bin, und der Geist bestätigte ihr durch persönliche Offenbarung, dass ich der Mann bin, den sie heiraten sollte. Wir verlobten uns und heirateten im Oakland-Kalifornien-Tempel.

Ich kann sagen, dass ich mein ganzes Leben lang immer das Gefühl hatte, dass ich dem Herrn so nahe wie möglich bleiben muss. Ungeachtet meiner Schwierigkeiten spürte ich tief in mir, dass mein Leben Sinn hat. An diesen Sinn zu glauben gab mir Hoffnung. Aber erst mit Mitte 40 begann für mich der Heilungsprozess.

Es war eine Besprechung bei der Arbeit, die mein Leben zum Positiven verändern sollte. In der Besprechung sprach ein Kollege über seine gleichgeschlechtlichen Neigungen. Ich erinnere mich, dass mir auffiel, wie viel Selbstvertrauen von ihm ausging. Weder entschuldigte noch schämte er sich für seine Neigungen. Er stand dazu und sprach so, als sei das keine allzu große Sache. Ich sah den Frieden in seinen Augen und dachte mir: „Diesen Frieden möchte ich auch haben. Ich möchte frei sein, ich selbst zu sein, und mich nicht für etwas entschuldigen müssen, was ich nicht gewollt habe.“

Zum ersten Mal im Leben saß ich jemandem gegenüber, der mir gleich war. Wir gingen zum Mittagessen, und es war großartig, mit jemandem sprechen zu können, der verstand, was in mir vorging. Wir wurden gute Freunde, als ich mich ihm langsam öffnete und spürte, dass er mir eine gute Stütze war.

Es machte mir Angst, so offen über etwas zu sprechen, was ich mein ganzes Leben lang geheim gehalten hatte. Doch als ich ehrlicher damit umging, wurde mein Selbstvertrauen stärker. Die Menschen um mich herum reagierten liebevoll, unterstützten mich und brachten mir Verständnis entgegen. Einige zeigen auch ernsthaftes Interesse und wollen mehr erfahren.

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Ein Mann lacht

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass der Geist da ist und Zeugnis gibt, wenn ich meine Geschichte erzähle. Er scheint die Menschen im Herzen und im Sinn zu berühren, wenn ihnen klar wird, dass wir alle Kinder Gottes sind. Ganz gleich, was uns zu schaffen macht – wir sind es alle wert, das Sühnopfer in Anspruch zu nehmen. Dafür bin ich außerordentlich dankbar.

Die Unterstützung meiner Frau spielte für meinen Fortschritt eine entscheidende Rolle. Dieses neue Bewusstsein und dieses Zu-mir-stehen-Können haben unsere Ehe verändert. Manchmal war es sehr schwierig. Wir mussten lernen, besser miteinander zu kommunizieren. Wir wissen, dass keiner von uns die Bedürfnisse des anderen in vollem Umfang erfüllen kann. Es war für uns beide eine Umstellung, als ich Freunde gefunden hatte, die mich auf meinem Weg unterstützten. Sie freut sich, dass ich nun mehr Selbstbewusstsein habe, aber sie hat mir auch deutlich gemacht, dass sie wissen muss, dass sie die Nummer eins in meinem Leben ist. Mir war nicht bewusst, dass ich mich nach meinem Outen ziemlich verändert habe.

Ich musste ihr wirklich helfen, mich auf meinem Weg zu begleiten, und gleichzeitig dafür sorgen, dass sie sich geliebt, gebraucht, attraktiv und bei mir geborgen fühlt.

Meine Frau ist meine größte Stütze, die Liebe meines Lebens. Sie ist die Einzige, zu der ich eine unzerbrechliche, ewige Verbindung habe, die kein anderer lösen kann. Mit Zusammenarbeit, Gesprächen, Verständnis und mehr Ausgewogenheit stehen wir das gemeinsam durch. Unsere Ehe entwickelt sich weiter und wir stärken einander, indem wir authentischer, echter sind. Der Schlüssel zur Stärke in unserer Ehe liegt darin, dass wir den Erretter zum Mittelpunkt unseres Lebens machen.

Ich bin noch nicht am Ziel. Ich verstehe noch nicht alles, aber ich merke, dass dieses neue Bewusstsein, dieses Ich-selber-Sein und meine Beziehung zum Erretter uns weiterbringen. Es ist schön, dass ich mich des Sühnopfers des Erretters würdig fühle und mich meine gleichgeschlechtlichen Neigungen nicht mehr innerlich zerreißen. Ich kann mich als der sehen, der ich bin: ein Sohn Gottes und ein Mann, der der Segnungen des ewigen Lebens würdig ist. Mir ist jetzt klar, dass mein Herz und meine Seele nicht zerbrochen oder defekt sind und repariert werden müssten.

Ich kann sagen, dass ich die Verheißung erlebe, die Moroni in Ether 12:27 erhalten hat: „Und wenn Menschen zu mir kommen, so zeige ich ihnen ihre Schwäche. Ich gebe den Menschen Schwäche, damit sie demütig seien; und meine Gnade ist ausreichend für alle Menschen, die sich vor mir demütigen; denn wenn sie sich vor mir demütigen und Glauben an mich haben, dann werde ich Schwaches für sie stark werden lassen.“

Ich fand diese Schriftstelle schon immer toll und wollte sie nur zu gern auf mich beziehen, aber ich hatte keine Ahnung, wie aus so einer Schwäche eine Segnung werden kann. Jetzt verstehe ich, dass meine Neigungen nicht unbedingt eine Schwäche sein müssen.

Ich sehe ein, dass ich durch diese Erfahrungen gewachsen bin und beim Werk des Herrn mithelfen kann. Sein Geist ist immer bei mir.

Es hat sich gelohnt, den Mut aufzubringen und sich zu öffnen. Ganz bestimmt!

Elizabeths Geschichte: Ricardos Ehefrau

Elizabeth wusste, dass Ricardo der Mann war, den sie heiraten sollte. Ihre Ehe ist nicht perfekt, aber sie haben sich beide durch die Ehe zum Besseren gewandelt. Eine Herausforderung war der Umgang mit Ricardos gleichgeschlechtlichen Neigungen. Manchmal war es schwer und es schien schier unmöglich, herauszufinden, wie sie einander am besten lieben und unterstützen können, aber weil sie sich auf das Sühnopfer verließen und gesprächsbereit blieben, haben sie beide gemeinsam Fortschritt gemacht.

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Lächelnde Frau

Ich wurde in Kalifornien geboren; meine Familie gehörte der Kirche Jesu Christi an. Ich bin mit fünf Brüdern aufgewachsen. Als ich noch ganz klein war, war mir schon bewusst, dass ich nie jemanden heiraten wollte, der mich an meine Brüder erinnert. Ricardo erinnert mich an keinen meiner Brüder.

Ich lernte Ricardo im Sommer 1997 kennen. Damals begann mein letztes Jahr am College und ich wollte im folgenden Frühjahr meinen Abschluss im Fach Statistik machen. Ich war so auf den Abschluss konzentriert, dass ich Ricardo, als wir uns trafen, erst mal gar nicht richtig wahrnahm. Für mich war er einfach ein Bekannter meiner Mitbewohnerin. Eines Abends kam er vorbei und besuchte meine Mitbewohnerin, die wie Ricardo ein Auslandsstudium machte. Ich war in der Küche und bereitete mein Abendessen vor und machte am Küchentisch meine Hausaufgaben in Mathematik. Da wir uns schon mehrmals unterhalten hatten, hatte ich kein Problem damit, dass er da war, und ich lud ihn an jenem Abend ein, doch zum Essen zu bleiben. Wir unterhielten uns gut und konnten einander besser kennenlernen. Als Ricardo an jenem Abend das eine und andere erzählte, hatte ich ein ganz besonderes Erlebnis. Ich erhielt vom Vater im Himmel die Offenbarung, dass Ricardo der Mann sei, den ich heiraten werde.

Nie zuvor hatte ich etwas so Eindringliches erlebt. Zunächst erzählte ich niemandem davon. An dem Abend lud mich Ricardo zu unserer ersten Verabredung ein. Nach diesem Abend sah ich ihn mit anderen Augen.

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Ricardo und Elizabeth

Im Laufe des Sommers lernten wir uns langsam besser kennen. Ab dem Herbstsemester waren wir ein Paar. Kurz darauf, als wir gerade in meiner Wohnung das Abendessen zubereiteten, sagte mir Ricardo, er wolle mir etwas Wichtiges sagen. Da erzählte er mir, dass er als kleiner Junge im Alter von vier, fünf Jahren sexuell missbraucht worden sei. Auf Einzelheiten ging er zu dem Zeitpunkt nicht ein. Er erzählte mir, dass er bestimmte Gedanken und Gefühle und auch Alpträume habe. Es tat mir leid für ihn, dass er so etwas hatte durchmachen müssen. Es änderte aber nichts an dem, was ich für ihn empfand. Ich sprach ihm gut zu und versicherte ihm, dass sich meine Gefühle für ihn dadurch nicht geändert hätten. Er sprach nicht weiter über Einzelheiten und ich fragte ihn auch nicht danach. Ich fühlte mich geehrt, dass er sich mir anvertraut und dieses heikle und schwierige Thema offen angesprochen hatte.

Schon bald fingen wir an, über das Heiraten zu reden. Ende Januar 1998 machte mir Ricardo eines Abends einen Heiratsantrag. Wir waren etwa sechseinhalb Monate lang verlobt. In dieser Zeit besuchten wir zusammen einen Ehevorbereitungskurs an der BYU, ich erwarb meinen Abschluss und er absolvierte ein zweimonatiges Praktikum in New York. Im Spätsommer ließen wir uns im Oakland-Kalifornien-Tempel siegeln.

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Familienfoto von Ricardo und Elizabeth

Ich wurde bald schwanger und wir haben jetzt sechs ganz liebe Kinder. In all den Jahren hatte ich immer noch keine Ahnung von seinen gleichgeschlechtlichen Neigungen und hatte auch diesen Begriff noch nie gehört. Lange Zeit sprach er nicht über die Gedanken und Gefühle, die er zu Beginn unserer Beziehung angesprochen hatte. Gelegentlich erzählte er mir, dass er einen schlechten Traum gehabt habe, aber das war schon alles. Ich hatte absolut keine Ahnung, wie sehr er sich in all den Jahren geschämt hat. Wir waren immer aktiv in der Kirche und hatten mit den Kindern gut zu tun. Bei jedem Tempelbesuch sagte er, dass ich ins celestiale Reich kommen werde, er aber nicht. Ich verstand nicht, woher solche Aussagen kamen.

Er ist und war liebevoll und fleißig und kommt seinen Pflichten als Ehemann und Vater immer nach. Ich hatte keine Ahnung von seinen gleichgeschlechtlichen Neigungen und davon, wie sehr er sich deswegen schämte.

Ich war der Meinung, er solle nicht so schlecht von sich denken. Immer wenn er derlei Bedenken äußerte, sagte ich ihm, dass der Missbrauch ja nicht seine Schuld gewesen sei und somit auch diese Gedanken und Gefühle meines Erachtens nicht seine Schuld seien.

Mit der Zeit versuchten wir, für seinen Seelenzustand eine passende Bezeichnung zu finden, fanden aber keine. Der Begriff schwul wird in den meisten christlichen Kirchen negativ aufgefasst, ebenso der Begriff bisexuell. Anfang 2015 lernte Ricardo einen Kollegen kennen, der offen über seine gleichgeschlechtlichen Neigungen sprach, dabei aber glücklich verheiratet war und vier Kinder hatte. Danach suchte Ricardo eine Selbsthilfegruppe auf und fand neue Freunde. Durch diese Kontakte konnte er spüren, wie das Sühnopfer in seinem Leben wirkt. Jetzt schämt er sich nicht mehr, über seine gleichgeschlechtlichen Neigungen zu sprechen.

Ich bin so glücklich, dass er sich endlich gefunden hat und spürt, wo er in Gottes ewigem Plan steht und was das für ihn und uns als Familie bedeutet.

Allerdings brachte Ricardos neu erwachtes Bewusstsein auch einige Konflikte mit in die Ehe. Wir hatten beide viele Fragen und das Gefühl, nicht alle Antworten zu kennen. Ricardo hatte neue Freunde, die meistens auch gleichgeschlechtliche Neigungen hatten. Alles begann ganz gut, aber es war doch ein schwieriger Weg für uns beide.

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Foto von Elizabeth

Was mir sehr geholfen hat, Ricardo auf diesem Weg zu unterstützen, war der Rat meiner Eltern, die mir in meiner Jugend schon ans Herz gelegt hatten, meinen besten Freund zu heiraten.

Wenn Ricardo und ich über bestimmte Themen im Zusammenhang mit seinen gleichgeschlechtlichen Neigungen sprechen, versuche ich, ihm als seine beste Freundin zuzuhören und nicht die eifersüchtige Ehefrau zu sein. Wir haben auch versucht, ein sicheres Umfeld zu schaffen, in dem wir über unsere Gedanken und Gefühle sprechen können.

Ich versuche, einfach zuzuhören und nicht jeden einzelnen Satz zu bewerten. Ich weiß, dass es ihm wichtig ist, mit mir über seine Meinungen, Erlebnisse, Enttäuschungen, Neigungen und Gedanken zu sprechen, sodass er sich danach wieder anderen Themen zuwenden kann. Oftmals braucht er mich nur als Zuhörerin, ohne dass ich irgendetwas unternehme.

In unserem Ehevorbereitungskurs am College habe ich etwas gehört, woran ich immerzu denken muss: Ein guter Ehepartner kann nur 80 Prozent der Bedürfnisse des Partners erfüllen. Das zeigt mir, dass ich weder Expertin noch Therapeutin sein muss. Ich muss ihm schlicht Liebe und Achtung entgegenbringen.

Eine Zeit lang war ich aktiv bei Ricardos Weiterentwicklung involviert. Aber mit der Zeit fühlte ich mich außen vor. Wenn er abends nach Hause kam, schrieb er viele SMS, nachdem er sowieso bereits zehn Stunden bei der Arbeit gewesen war. Anschließend musste ich dann nach einem kurzen Abendessen weg und meiner Berufung nachgehen, oder er musste fort, um seiner Berufung nachzugehen. Ein paar Monate lang ging er einmal pro Woche zu einer Selbsthilfegruppe. Freitags war ich müde und brauchte eine Pause. Es war nicht leicht für mich, dass sich für ihn alles um seine neuen Freunde drehte, die ja auch alle diese Neigungen hatten. Ich hatte das Gefühl, dass er zuhause nicht für mich und die Kinder da sei. Manchmal kam ich mir wie eine alleinerziehende Mutter vor, die morgens sechs Kinder aus dem Bett bekommen und zur Schule schicken muss, sie überall hinfährt, das Pfadfinderprogramm und das Programm „Glaube an Gott“ begleitet, mit ihnen die Hausaufgaben macht, Wäsche wäscht, kocht und putzt und sie dann bettfertig macht. So ging es Woche für Woche und ich bekam nicht genügend Schlaf. Ich weinte viel, wenn alle in der Schule waren und Ricardo bei der Arbeit war. Irgendwann machte es bei ihm „Klick“, als ich ihm eine E-Mail schrieb, während er mit seinen Freunden unterwegs war. Wir sprachen stundenlang, und er sagte, für mich werde er alles aufgeben. Wir brauchten viele Gespräche und viel Verständnis, setzten uns mit der Thematik auseinander und arbeiteten daran, die Schuldgefühle, die er sein ganzes Leben lang gehabt hatte, auszuräumen. Und wir trafen gemeinsame Absprachen und unterhielten uns vor allem immer über alles.

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Elizabeth und Ricardo im Gespräch

Irgendwann hatte ich endlich das Gefühl, seine Nummer eins zu sein. Als er bereit war, das Handy wegzulegen, wenn er ein paar Stunden zuhause war, und für die Kinder und für mich da zu sein, kamen wir wirklich voran. Außerdem versprach er, mir zehn Minuten seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken, nachdem die Kinder im Bett waren. Daran arbeitet er noch immer. Wir sind beide sehr beschäftigt, aber ich sehe, wie er sich bemüht, dass ich mich geborgen, geliebt, attraktiv und wichtig fühle. Das Gespräch miteinander ist uns ganz wichtig. Wir sorgen stets für klare Verhältnisse.

Als ich mich einmal mit der Ehefrau eines Mannes unterhielt, der ebenfalls gleichgeschlechtliche Neigungen hat, erzählte sie mir, es sei ihr lieber, wenn ihr Mann mit ihr über seine Neigungen spreche als mit jemand anders. Sie habe immer ein offenes Ohr für ihn und werde ihn unterstützen.

Ich denke, als Ehefrau eines Mannes mit gleichgeschlechtlichen Neigungen ist man in einer außergewöhnlichen Position. Man kann ihn entweder unterstützen und ihm helfen, festen Halt in Christus zu finden, oder man entfernt sich voneinander und versäumt die Gelegenheit, inniger zusammenzuwachsen und die Ehe, den Ehepartner und sich selbst näher an den Erretter heranzuführen.

Das stimmt mich wirklich demütig. Wir sind nicht besser als unser Ehemann, und er ist nicht besser als wir.

Es spielt keine Rolle, welche Herausforderungen oder Schwierigkeiten wir haben. Keine Ehe kann gut laufen, wenn das Ehepaar sich nicht einig ist und voller Liebe und Entschlossenheit an den heiligen, im Tempel eingegangenen Verpflichtungen festhält.

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Elizabeth im Gespräch mit Ricardo

Ricardo sagt mir jeden Tag, wie sehr er mich liebt. Er lässt mich nie im Ungewissen darüber, wie es ihm geht. Es ist ein Segen, einen Mann wie ihn zu haben.

Uns beiden geht es in der Ehe besser, wenn wir uns füreinander Zeit nehmen und uns offen unterhalten und einander liebevoll begegnen. Ich liebe ihn!

Marks Geschichte: Ricardos Bischof

Mark war mehr als nur Ricardos Bischof – er war auch ein Freund und Vertrauter. Deshalb ist er so dankbar, dass Ricardo genug Vertrauen zu ihm hatte, ihm von seinen gleichgeschlechtlichen Neigungen zu erzählen.

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Foto von Mark

Es gibt viele wunderbare Menschen, mit denen ich im Laufe der Jahre zusammenarbeiten durfte. Sie alle haben mich das Gute und die wahre Liebe erkennen lassen, die in jedem Menschen stecken, wobei jeder das gleiche Grundbedürfnis hat, nämlich geliebt zu werden und andere zu lieben. Ricardo Rosas ist einer dieser Menschen.

Schon bevor ich als Bischof berufen wurde, habe ich mit Ricardo bei vielen Aufgaben zusammengearbeitet. Wir haben die Probleme und Erfolge des anderen miterlebt. Manchmal fällt es einem schwer, sich dem Bischof oder einem engen Freund gegenüber zu öffnen, weil man befürchtet, dass er schockiert oder enttäuscht sein könnte, wenn man so persönliche Dinge preisgibt. Ich bin aber dankbar, dass Ricardo genügend Selbstvertrauen hatte, mir von seinen gleichgeschlechtlichen Neigungen zu erzählen. So konnten wir beide etwas lernen, was wir sonst wohl nicht gelernt hätten.

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Mark und Ricardo

Ricardo hatte anfangs da wohl seine Bedenken. Ich habe es allerdings immer bewundert, wenn jemand bereit war, sich Hilfe zu holen, wenn der Betreffende traurig, einsam oder deprimiert war, Vergebung gesucht hat oder durcheinander war. Nicht nur wird so jemandem die Last von den Schultern genommen, sondern es hat auch mir die Augen geöffnet. Mir wurde klar, dass es noch andere Menschen gibt, die sich in der gleichen Lage befinden oder andere Sorgen haben, die sie vielleicht für sich behalten.

Dass mir Ricardo von seinen gleichgeschlechtlichen Neigungen erzählte, änderte nichts daran, dass er all meine Achtung verdiente. Auch war mir weiterhin klar, dass er in der Kirche mitwirken, seinen Nächsten Liebe erweisen und sie unterstützen könne.

Er hatte auch danach verschiedene Berufungen, steht treu zu seiner Tempelehe, ist tempelwürdig und zieht seine Kinder in Rechtschaffenheit groß. Manche in der Kirche sprechen lieber nicht über ihre gleichgeschlechtlichen Neigungen, weil sie befürchten, man würde sie als Mitglied dann als „schlecht“ oder „unwürdig“ betrachten. Bei Ricardo habe ich das Gegenteil erlebt. Mitglieder mit solchen Neigungen sind nicht schlecht. Sie werden geliebt, und sie haben genauso ihr Leben mit all seinen Höhen und Tiefen wie jeder andere auch.

Jeder wird auf die eine oder andere Weise versucht. Selbst der Erretter wurde versucht.

Wenn Versuchungen allein den geistigen Zustand eines Menschen definierten, könnten wir gar keine Hoffnung haben.

Im Zusammenhang mit Ricardo fällt mir eine meiner Lieblingsschriftstellen ein. Im Buch Mormon offenbart der Herr dem Propheten Moroni eine tiefgründige Lehre. In Ether 12:27 heißt es: „Und wenn Menschen zu mir kommen, so zeige ich ihnen ihre Schwäche. Ich gebe den Menschen Schwäche, damit sie demütig seien; und meine Gnade ist ausreichend für alle Menschen, die sich vor mir demütigen; denn wenn sie sich vor mir demütigen und Glauben an mich haben, dann werde ich Schwaches für sie stark werden lassen.“

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Ein von Ricardo gemaltes Bild

Ricardo hat aus einer Schwäche – oder aus dem, was er für eine Schwäche hielt – eine Stärke gemacht, indem er zum Herrn gekommen ist, sich gedemütigt und durch den Geist um Erkenntnis bemüht hat.

Er möchte anderen von seiner Geschichte erzählen – nicht um gelobt zu werden, sondern um andere wissen zu lassen, dass es durch das Sühnopfer Jesu Christi Hoffnung gibt, in diesem und im nächsten Leben glücklich zu sein.

Ricardos Geschichte ist noch viel länger, aber das kann er selbst erzählen. Ich weiß ganz sicher, dass er jetzt viel lebensbejahender ist. Er und ich haben beide mehr Erkenntnisse dazu gewinnen können, was es bedeutet, Mitgefühl, Mut, Verständnis und Glauben an den Herrn Jesus Christus zu haben.

Nicks Geschichte: Ricardos Freund und Arbeitskollege

Seine Freundschaft zu Ricardo hat Nicholas dazu bewegt, sich ernsthaft Gedanken über Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transsexuelle (LGBT) zu machen, besonders wenn sie der Kirche angehören. Warum sollte sich ein treues Mitglied der Kirche nicht mit gleichgeschlechtlichen Neigungen herumplagen – und gleichzeitig ein Zeugnis und Glauben haben dürfen und ein würdiges Leben führen?

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Ricardo und Nick

Freundschaften waren nicht immer eine einfache Sache für mich. Als ich Kind war, ist meine Familie oft umgezogen. Dadurch konnte ich zwar immer neue Menschen kennenlernen und neue Freunde finden, aber es war kaum möglich, langjährige, tiefe Freundschaften aufzubauen. Anscheinend machte sich meine Familie immer dann auf zu neuen Abenteuern, wenn ich gerade dabei war, eine enge Beziehung zu jemandem aufzubauen. Deshalb habe ich eigentlich nur wenige Freunde, und die wohnen noch dazu weit weg.

Weil ich so aufgewachsen bin, habe ich viel über mein Leben nachgedacht. Ich wünsche mir Freunde, denen ich persönliche Dinge anvertrauen kann und die zu Freunden fürs Leben werden.

Heute kann ich ehrlich sagen, dass ich einen solchen Freund gefunden habe. Ricardo und ich haben eine ganze Weile zusammengearbeitet, bevor es zu einer tieferen Verbundenheit kam. Durch die stillen Eingebungen des Geistes und später auf das Drängen meiner Frau hin, die eine sehr soziale Ader hat, fragte ich Ricardo, ob wir uns denn nicht mal gemeinsam als Familie treffen könnten. Es dauerte gefühlt ein paar Monate, bis alles soweit geklärt und ein Termin gefunden war, an dem beide Familien Zeit hatten.

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Nick mit seinen Kindern

Vor diesem Treffen fragte mich meine Frau nach Ricardo. Ich erzählte ihr das wenige, was ich über ihn wusste: Er kam aus Mexiko, war in unserem Büro der künstlerische Leiter, er war freundlich und seine Kinder waren ungefähr im gleichen Alter wie unsere. Dann sagte ich eher scherzhaft zu meiner Frau: „Wenn er nicht für die Kirche arbeiten und eine Familie haben würde, würde ich denken, er wäre schwul.“

Ich erinnere mich ganz genau an dieses Gespräch, weil Ricardo sich mir ja später anvertraut hat. Wie man sich denken kann, musste ich da einiges neu einordnen, zum Beispiel meine Auffassung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transsexuellen sowie mein Urteil über andere Menschen. Es fiel mir nicht schwer, ihn so zu akzeptieren, wie er war. Er war mein Freund, und daran würde sich nichts ändern. Was mich verunsicherte, war, dass ich bisher gedacht hatte, ein „guter Mormone“ dürfe keine gleichgeschlechtlichen Neigungen haben.

Doch bald dämmerte mir: „Weshalb kann ein guter Mormone denn keine gleichgeschlechtlichen Neigungen und gleichzeitig doch auch ein Zeugnis und Glauben haben und würdig leben?“

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Nick und Ricardo lächeln

Nachdem Ricardo mir anvertraut hatte, dass er schwul sei, wurden wir noch engere Freunde. Wir sind ein paar Mal zusammen Mittagessen gegangen und haben viele tolle Gespräche geführt. Wir haben viele ähnliche Interessen und Standpunkte. Das Vertrauen, das Ricardo mir mit seinem „Geheimnis“ entgegenbrachte, hat mich in meinem Zutrauen zu ihm weiter bestärkt. Ich fühle mich geehrt, dass er sich sicher genug gefühlt hat, mir von diesem Teil seines Lebens zu erzählen, was ihm wohl nicht leichtgefallen sein dürfte.

Manchmal fällt es Ricardo schwer, damit klarzukommen, wie er sich selbst wahrnimmt und wie ihn andere seiner Meinung nach wahrnehmen. An manchen Tagen fällt ihm das besonders schwer. Als sein Freund sehe ich, wie schwer es dann für ihn ist, das alles richtig einzuordnen, und das macht mich traurig. Manche Leute sind mitunter alles andere als nett im Umgang mit Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transsexuellen. Einmal schien Ricardo besonders verzweifelt zu sein. Wir unterhielten uns ein paar Minuten über seinen Gemütszustand. Er entschuldigte sich dafür, dass mir diese Freundschaft so viel abverlange und er so hilfsbedürftig und „kaputt“ sei. Das überraschte mich. Ich glaube nicht, dass Menschen so wie eine Sache kaputt sein können oder es sind. Natürlich machen uns verschiedene Dinge zu schaffen, und manchmal ist uns so zumute, als seien wir ein kaputter Mensch, aber das sind wir nicht.

Dies versicherte ich auch Ricardo. Ich sagte ihm, dass er mein Freund sei, und umarmte ihn.

Ricardo sagt, ich hätte ihm in vielerlei Hinsicht geholfen. Aber eigentlich habe ich von ihm gelernt und er hat mir mehr geholfen als ich ihm. Ich bin dankbar, Ricardo zum Freund zu haben, und werde dieser Verbundenheit und Freundschaft treu bleiben, solange er mich an seiner Seite haben möchte.

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