Gleichgeschlechtliche Neigungen
Tonyas Geschichte


„Tonyas Geschichte“, Gleichgeschlechtliche Neigungen: Erfahrungsberichte von Mitgliedern der Kirche, 2020

„Tonyas Geschichte“, Gleichgeschlechtliche Neigungen: Erfahrungsberichte von Mitgliedern der Kirche

Tonyas Geschichte

Tonyas Geschichte und ihre Sicht darauf

Tonya: Das sind Speisekarten, Aufkleber und Visitenkarten – Orte, die wir besucht oder wo wir gelebt haben. Das ist Dosenfleisch; wir wohnten nämlich 40 Minuten vom Museum eines Dosenfleischherstellers entfernt.

Andy: Und von einer Fabrik.

Tonya: In Minnesota gab es ganz viel davon. Ich heiße Tonya Baker Miller. Ich habe ein Grundstudium im Bereich Familienwissenschaften absolviert. Nach sechs Monaten dachte ich zuerst, ich wäre krank, aber dann kam die freudige Überraschung: Ich war schwanger!

Dylan: Ich bin Dylan Miller. Ich bin Andys Vater und Tonyas Ehemann. Andy ist ein toller Mensch. Er ist treu, klug, freundlich – er war schon immer all das, was man sich als Eltern von seinem Sohn nur wünschen kann.

Tonya: Ich bin so glücklich, dass Andy mein Sohn ist. Er ist großartig. Er studiert drei Fächer: Internationales Wirtschaftswesen, Luftverkehrsmanagement und Spanisch. Und er arbeitet Vollzeit. Er ist in der Ältestenkollegiumspräsidentschaft und er ist der beste Bruder für seine jüngeren Geschwister. Er ist fantastisch.

Andy: Mein Name ist Andy Miller. Ich bin 21 Jahre alt, bin schon von klein auf Mitglied der Kirche und ich bin schwul. Ich kann nicht sagen, dass diese Tatsache eben nicht das ausmacht, wer ich bin, denn das stimmt einfach nicht. Sie ist ein großer Teil dessen, was mich ausmacht, aber wie bei jedem Menschen – ob schwul, heterosexuell oder sonstwie – gibt es noch sehr viel mehr über mich zu sagen. Sich zu outen ist ein Prozess, und so war es auch bei mir. Ich wollte nicht viel Aufsehen erregen.

Tonya: Andy dachte ganz pragmatisch, als er sich geoutet hat. Im Grunde wollte er nur, dass ich ihn nicht ständig nerve, er solle doch mal mit Mädchen ausgehen. Eines Abends saßen wir im Auto und er sagte etwas, was mich zu der Frage veranlasste: „Bist du denn schwul?“ Er antwortete: „Ja.“

Andy: Es dauerte eine Sekunde, bis sie verstand, was ich gesagt hatte.

Tonya: Ich sagte: „Aha.“

Andy: Ich hatte mir immer so einen bühnenreifen Moment ausgemalt, wo sie mich umarmt und mir sagt, dass sie mich liebhat.

Tonya: Ich fragte: „Aber was ist denn mit den Mädchen, die du mochtest?“

Andy: Ihre Reaktion war nicht das, was ich erwartet hatte.

Tonya: Tja, bin ich nicht eine tolle Mutter?

Andy: Sich zu outen ist immer unangenehm, egal wie man es macht.

Tonya: Mein Sohn legt da seine Seele offen zu etwas, was ihn beängstigt, aber doch auch ein Teil von ihm ist.

Andy: Danach stellt man sich natürlich die Frage: „Wie wirkt sich das auf mein Leben aus?“ Damals hatte keiner von uns wirklich eine Antwort darauf. Die Tatsache, dass selbst meine Mutter nicht wusste, wie es weitergeht, hat mich, glaube ich, schon beunruhigt.

Tonya: Wir planen das Leben unserer Kinder ja schon, bevor sie überhaupt auf die Welt kommen, nicht wahr? Sie werden dies und das und jenes tun, aber dann kommt bei einem Kind etwas Unerwartetes. Und einem wird klar: „Moment mal … Darauf habe ich ja gar keinen Einfluss.“ Alles, was man dem Kind geben kann, ist Liebe. Keine Ahnung, wie es weitergeht. Ich wünschte, ich wüsste es. Ich sage immer wieder: „Also, Vater im Himmel, heute möchte ich das und das wissen.“ Andy, Dylan und ich haben gelernt, einfach zu lachen, und das hilft. Das hilft wirklich.

Andy: Es erfordert eine Menge Glauben, sein Leben in Gottes Hand zu legen und zu sagen: „Ich vertraue dir. Führe mich dabei.“

Tonya: Ich glaube nicht, dass jemand, der heterosexuell ist, den Schmerz von jemandem wie Andy nachvollziehen kann, der ein Zeugnis hat, aber sich auch erst noch finden muss. Wie bringt man diese beiden Dinge unter einen Hut? Ich ging immer wieder in den Tempel, immer und immer wieder, aber meistens ging ich ohne Antwort von dort weg. Da war keinerlei Erleuchtung, aber mein Zeugnis habe ich immer noch. Ich denke, das hat mir damals am allermeisten gegeben.

Das sind meine Erfahrungen, aber jeder muss seine eigenen Erfahrungen machen. Ich habe das Sühnopfer auf eine Art und Weise verstehen gelernt, wie ich es mir vorher nicht vorstellen konnte. Meine Beziehung zu Jesus Christus ist dadurch viel persönlicher geworden.

Dylan: Die Schriftstelle in den Sprichwörtern wurde sozusagen unser Leitsatz: „Mit ganzem Herzen vertrau auf den Herrn.“ Wir kennen nicht alle Antworten und werden sie auf dieser Welt vielleicht auch nie erhalten. Doch wir müssen gemäß dem handeln, was wir wissen (und das tun wir auch) – dass wir unseren Sohn liebhaben und dass wir wissen, auch der Vater im Himmel hat Andy lieb.

Tonya: Ich ging ständig in den Tempel und stellte mir immerzu die Frage: „Warum? Warum?“ Irgendwann wurde mir klar: „Das ist nicht die richtige Frage.“ Der Heilige Geist sagte mir: „Die richtige Frage, bei der ich dir helfen kann, lautet: ‚Wie kann ich so eine Mutter sein, wie dieses Kind Gottes sie braucht?‘“ Für jeden Menschen, für jedes Kind gibt es einen Plan. Ich kenne die Antworten nicht, aber Gott kennt sie. Als ich diesen Punkt erreicht hatte, mit dem ich leben konnte, sagte ich: „Also gut, es bleibt bei dieser geistigen Uneindeutigkeit.“ Davon ausgehend kann ich jetzt fragen: „Wie? Wie kann ich helfen?“

Andy: Wir alle verdienen gegenseitige Liebe und Unterstützung, und ich finde, das macht die Kirche Christi aus – nicht nur im Hinblick auf LGBTQ, sondern in jeder Hinsicht. Wir gehen einen Tag nach dem anderen an und machen uns keine Gedanken über den nächsten Tag, denn wir wissen nicht, wie es morgen sein wird – wie wir uns fühlen, welche neuen Erkenntnisse wir dann haben werden. Was die Zukunft auch bringen mag – wir können Frieden verspüren und dadurch aus dem Hier und Jetzt das Beste machen. Wenn ich mich auf das konzentriere, was ich verändern kann und wovon ich am meisten verstehe, wird auf lange Sicht alles besser.

Tonya: Andy ist jetzt 21 Jahre alt. Er ist aktives Mitglied der Kirche. Momentan hat er nicht vor, das zu ändern. Klugerweise sagt er sich: „Ich mache von Tag zu Tag weiter und weiß einfach noch nicht, wo ich in 20 Jahren sein werde.“ So ist es ja auch bei uns. Unsere Aufgabe als Eltern ist es, unsere Kinder zu lieben. Ohne Wenn und Aber. Einfach nur das. Nichts kann das ändern.

Dylan: Wir beten ständig deswegen, und das werden wir auch weiterhin tun. Ich kann sagen, dass ich ihn immer lieben werde und das Beste für ihn möchte.

Tonya: Dylan und ich lieben ihn. Daran wird sich niemals etwas ändern. Er wird mit dem Vater im Himmel herausfinden müssen, was seine Mission hier auf der Erde ist. Wir sind hier, um ihn einfach zu unterstützen und jeden Tag zu lieben. Und das tun wir auch – einen Tag nach dem anderen.

Tonyas Geschichte: Fortsetzung

Tonya Miller sagt, sich zu outen sei ein Vorgang, kein Ereignis. Zumindest hat sie das bei ihrem Sohn Andy so erlebt. Trotz der geistigen Uneindeutigkeit, die immer noch damit verbunden ist, wenn ein Heiliger der Letzten Tage homosexuell ist, ist das Wichtigste, dass Andy ohne Bedenken er selbst sein darf, denn das hat er vorher noch nicht in dieser Weise erlebt.

Mein Sohn Andy sagt von sich, dass er ein schwuler Heiliger der Letzten Tage ist. Es wäre praktisch, wenn ich über meine Erfahrungen als Andys Mutter schreiben und schon weise darauf zurückblicken könnte, was alles getan wurde und wie alles letztlich zu einem guten Ende gelangt ist. Es ist jedoch schwierig, einen Bericht über Ereignisse, Gedanken und Gefühle zu schreiben, die mir in jeder Hinsicht so nahegehen. Daher sind diese Gedanken nur Momentaufnahmen aus einer ewigen Geschichte, die sich immer noch entfaltet.

Es gab viele Augenblicke in Andys Leben, selbst im Kleinkindalter, wo ich den Eindruck hatte, dass er schwul sei.

Das hat mich durcheinandergebracht, also tat ich das, was viele Menschen mit Eindrücken tun, die sie momentan eher verwirren, als dass sie aufschlussreich sind: Ich versuchte, sie zu ignorieren.

Sich zu outen ist ein Vorgang, kein Ereignis.

Andy outete sich im Sommer zwischen seinem Highschool-Abschluss und dem Wechsel an die BYU. Eines Abends erzählte er mir im Auto, dass er schwul sei. Das war hauptsächlich eine pragmatische Entscheidung, denn er hoffte, dass ich ihn nicht mehr nerven würde, sich mit Mädchen zu verabreden. Ich erinnere mich nicht mehr an viele Einzelheiten aus diesem Gespräch. Rückblickend weiß ich, dass ich Dinge gesagt habe, die ungeschickt und wohl auch unsensibel waren. Aber nachdem wir uns an jenem Abend unterhalten hatten, wusste Andy ohne Zweifel, dass ich ihn liebhabe und dass meine Liebe an keine Bedingungen geknüpft ist. Seine Mutter zu sein, hat mir immer Freude bereitet, und das wird auch immer so bleiben.

Als Andy und ich an jenem Abend herumgefahren waren und uns unterhalten hatten, habe ich mir geschworen, dass Andy niemals sehen soll, dass ich weine, weil er schwul ist. Aber als wir nach Hause kamen, bin ich natürlich sofort ins Bett gegangen und in Tränen ausgebrochen. Alle anderen zu Hause schliefen schon, als wir ankamen. Dylan, mein Mann, wachte auf und fragte, ob alles in Ordnung sei.

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Zwei Männer vor einer Wand

Ich: „Wusstest du, dass Andy schwul ist?“

Dylan: „Nein.“

Ich: „Ist er aber. Er hat es mir gerade gesagt.“

Dylan: „OK. Soll ich heute Abend noch etwas unternehmen?“

Ich: „Vielleicht sagst du ihm einfach, dass ich es dir gesagt habe?“

Also stand Dylan auf, ging die Treppe hinunter, klopfte an Andys Tür und fragte, ob er hineinkommen dürfe. Er umarmte ihn und sagte: „Deine Mutter hat es mir gerade erzählt. Ich hab dich lieb.“ Dann kam er wieder nach oben und war drei Minuten später eingeschlafen. Für Andy war das einer der ergreifendsten Momente seines Lebens.

Ich erzähle diese Geschichte auch deswegen, weil sie meine tiefe Überzeugung untermauert, dass Gott wollte, dass Andy unser Sohn ist. Dylan ist es als Wissenschaftler und Arzt gewohnt, schnell und präzise zu diagnostizieren. Er nimmt in den meisten Situationen die wichtigsten Aspekte fast umgehend auf. Ich hingegen bin Sozialarbeiterin und Therapeutin. Ich gehe Probleme vielschichtig und vielseitig an. Ich möchte aus Prinzip gern jeden Aspekt eines Problems erkunden, ganz gleich, ob er von Bedeutung dafür ist, dass am Ende etwas Gutes dabei herauskommt. Für mich ist jede Geschichte etwas Besonderes. Die Tatsache, dass Dylan und ich es geschafft haben, Andy am gleichen Abend auf unsere unterschiedliche Art und Weise die gleiche Botschaft uneingeschränkter Liebe zu vermitteln, ist für mich ein Beweis dafür, dass der Herr uns vom ersten Tag an auf dieser gemeinsamen Reise geführt hat.

Obwohl sich an meiner Liebe zu Andy nichts geändert hat, hatte ich immer noch das Gefühl, als wäre mir geistig der Boden unter den Füßen weggerissen worden.

Ich hatte viele Fragen und jede Menge Sorgen. Meine Art, Frieden und Antwort auf meine Fragen zu finden, bestand darin, in den Tempel zu gehen – und zwar oft. Die Frage, mit der ich zum Tempel ging, war immer die gleiche.

Ich wollte, dass der Vater im Himmel mir sagt, wie ich Andy helfen kann, seiner Aufgabe im Erdenleben gut nachzukommen.

Meine damaligen Erfahrungen im Tempel haben meinen Glauben an das Sühnopfer Jesu Christi gestärkt. Auch wurde mein Zeugnis gefestigt, dass der Vater im Himmel alle seine Kinder ganz genau kennt und jeden von uns viel mehr liebt, als wir es begreifen können. Viele Male kam ich aus dem Tempel und war enttäuscht, weil ich keine richtige Erleuchtung gehabt hatte. Aber etwas, was ich in dieser Zeit gelernt habe, war, dass sich die Antwort auf geistige Fragen oft erst nach viel geistigem Bemühen einstellt. Jede Woche in den Tempel zu gehen war nur ein Teil dessen, was nötig war, damit ich eine Beziehung zum Erretter aufbauen und von ihm geführt werden konnte.

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Eine Frau liest in den heiligen Schriften

Ansonsten fühlte ich mich oft isoliert und war traurig. Ich machte mir Sorgen, dass ich keine Führung erlangen könne, weil ich vielleicht aus verletztem Stolz darüber traurig war, dass wir nicht die typische perfekte Familie Heiliger der Letzten Tage waren. Der Satan hatte seine helle Freude an mir. Jede Frage, die ich zum Plan Gottes hatte, nagte an meinem Selbstvertrauen. Ich fühlte mich wie in einer emotionalen und geistigen Tretmühle. Ich hatte ständig Hochs und Tiefs. Jetzt weiß ich, dass diese Erfahrungen wichtig waren, um letztlich den Frieden zu finden und weiterzugeben, den ich schließlich erhielt.

Eine der größten Gaben, die ich in dieser Zeit erhielt, war die Fähigkeit, mit geistiger Uneindeutigkeit, wie ich es nennen will, zu leben.

Auf meine geistigen Fragen hinsichtlich gleichgeschlechtlicher Neigungen kenne ich nicht alle Antworten. Ich will Antworten, aber ich kann sie jetzt nicht bekommen.

Als ich an diesem Punkt war, wo diese Uneindeutigkeit meinem Glauben nicht mehr im Wege stand, konnte ich den Frieden erlangen, den ich mir ersehnte.

Andy sprach mit seinen Priestertumsführern über seine sexuelle Neigung, bevor er die Missionspapiere einreichte. Er war fünf Monate auf Mission in Uruguay, ehe er ehrenhaft entlassen wurde. Auf Mission machte er eine schwere Depression durch und hatte erhebliche Angstzustände. Um von seiner psychischen Erkrankung zu genesen, beschloss Andy, dass er gerne authentisch leben und sich offen als schwul und als Heiliger der Letzten Tage bezeichnen möchte.

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Tonya umarmt Andy

Dylan und ich baten Andy, anderen Menschen erst dann von sich zu erzählen, wenn wir es der Familie mitgeteilt hatten, und er war damit einverstanden. Der Gedanke daran, es seinen Geschwistern zu erzählen, bereitete uns Sorgen. Andy ist das älteste unserer vier Kinder. Seine jüngere Schwester war 16, und seine kleinen Brüder waren damals 11 und 7 Jahre alt. Unser 11-Jähriger hat autistische Züge. Nach vielen Überlegungen und Gebeten beschlossen wir, das Thema beim Familienabend anzusprechen. Unser Gespräch mit Andys jüngeren Brüdern hörte sich etwa so an:

Dylan: „Habt ihr schon mal die Wörter homosexuell, schwul oder lesbischgehört?“

Beide Brüder: „Ja.“

Ich: „Wisst ihr, was das bedeutet?“

11-Jähriger: „Ich glaube, das ist so was wie ein Grufti – wenn man schwarz gekleidet ist und viele Piercings am Körper hat.“

Ich: „Also, es gibt bestimmt Homosexuelle, die auch Gruftis sind.“

Dylan: „Homosexuell bedeutet, dass sich jemand zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt. Ein schwuler Mann fühlt sich zu Männern hingezogen und eine lesbische Frau zu Frauen.“

Ich: „Kennt ihr jemanden, der schwul ist?“

Beide Jungs: „Auf keinen Fall.“

Ich: „Doch, eigentlich schon. Ich gebe euch ein paar Tipps, und ihr sagt es mir, wenn ihr die Person erraten habt. Die Lieblingsfarbe dieser Person ist blau. Sein Lieblingsessen ist Ravioli. Er spricht Spanisch. Er liebt Flugzeuge.“

11-Jähriger: „Andy?“ (Es folgte schallendes Gelächter.)

7-Jähriger: „Wie, du meinst, wir haben einen schwulen Bruder?“ (Gekicher.)

Dylan: „Wir wollten nur, dass ihr das wisst. Ihr habt dazu wahrscheinlich Fragen, und wir können jederzeit darüber sprechen. Es ist kein Geheimnis oder so. Und es ist nicht schlimm. Habt ihr gerade irgendwelche Fragen?“

11-Jähriger: „Ich schon. Können wir wieder nach unten gehen und Nintendo spielen?“

Das war alles.

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Jungs spielen ein Videospiel

Nachdem wir es unseren anderen Kindern erzählt hatten, schickten wir eine E-Mail an unsere Eltern und Geschwister mit dem Betreff „Jetzt ist es endlich raus!“. Wir erklärten, wie es für Andy ist, schwul und zugleich Heiliger der Letzten Tage zu sein, und brachten vor allem unsere Liebe zu ihm zum Ausdruck und die Freude, die er in unser Leben bringt. Es gab keine Ankündigung in den sozialen Medien und auch keinen Blog. Es war einfach kein Geheimnis mehr.

Nach und nach haben wir es allen möglichen Leuten erzählt. Heute weiß keiner von uns genau, wer es weiß und wer nicht.

Das Wichtigste ist, dass Andy ohne Bedenken er selbst sein darf, denn das hat er vorher noch nicht in dieser Weise erlebt.

Es ist für mich besonders ergreifend zu sehen, wie er das Leben auf seine Weise meistert und sich gut dabei fühlt, wer er ist, wohin er gehen möchte und wer er werden möchte.

Ich weiß noch: Kurz nachdem sich Andy geoutet hatte, stellte ich mir die Frage: „Wenn ich nur wüsste, wie er sich fühlt, würde ich ihn vielleicht besser verstehen. Vielleicht würde ich mir dann weniger Sorgen um ihn machen.“ Der Geist sprach in diesem Augenblick ganz deutlich zu mir und sagte mir, dass meine Frage sinnlos sei. Die Frage, die ich stellen sollte, war: „Wie kann ich die Mutter sein, die er braucht?“

Ich glaube, das ist im Wesentlichen die Frage, die sich jedes Mitglied der Kirche in Bezug auf dieses Thema stellen kann: „Wie kann ich der Bruder oder die Schwester im Evangelium sein, die so jemand braucht?“ Die Antworten sind so unterschiedlich wie jedes Kind Gottes. Aber ich kann ohne Zweifel sagen, dass uns diese Frage auf eine geistige Reise schicken kann, die wunderschön, positiv und hoffnungsvoll ist und ein Spiegelbild unserer Verpflichtung als Jünger Christi.

Andys Geschichte: Tonyas Sohn

Andy Miller wusste als Kind nur, dass Homosexualität offenbar sehr schlecht ist. Über dieses Thema wurde nie offen und konstruktiv gesprochen. Als er seine Gefühle für Männer entdeckte, kam er sich vor, als sei er in einer immer größer werdenden Leere gefangen – auf der einen Seite war das, wie er sich nach außen hin gab, auf der anderen das, was er im Inneren empfand. Erst als er diese Gefühle auf einen Nenner bringen konnte und begann, sein eigenes Ich zu leben, verspürte er Frieden.

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Ein Mann blickt auf Berge

Es heißt, dass der erste Mensch, gegenüber dem man sich outen muss, man selbst ist. Als ich aufwuchs, war mir bewusst, dass ich ein wenig anders war als die meisten meiner Altersgenossen. Niemand hat damals wirklich über Homosexualität gesprochen – ich meine, auf konstruktive, offene Weise. Normalerweise wurde es nur am Rande erwähnt, dann aber immer mit einem sehr verletzenden Beigeschmack. Nur selten wurde wirklich erklärt, worum es geht. Infolgedessen wusste ich nur sehr wenig darüber, was Homosexualität ist oder im Alltag bedeutet. Aber ich wusste, dass es offenbar etwas sehr, sehr Schlimmes ist. Da ich mich damit nicht auskannte, konnte ich nirgendwo nach Antworten oder Unterstützung suchen.

Zum Glück war es zuhause ein wenig anders. Ich schreibe einen großen Teil meiner Stärke, meines Selbstvertrauens und meines Selbstbewusstseins meiner Erziehung zu. Meine liebevollen Eltern haben mich immer in allem, was ich mochte und was ich gut fand, unterstützt, und nicht ein einziges Mal habe ich befürchtet, das zu verlieren. Darüber hinaus haben wir in unserer Familie aber nicht viel über das Thema gesprochen – nicht aus Angst oder weil es niemand wollte, sondern weil es einfach nie zur Sprache kam.

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Mann und Frau schauen auf Berge

Rückblickend wird mir klar, wie wichtig diese Phase des Nicht-eingestehen-Wollens für mich war, bevor ich mich outen konnte. Ich konnte so tun, als wäre alles normal, während ich in meinem eigenen Tempo alles herausfinden und mich sicher genug fühlen konnte, um auch mit anderen darüber zu sprechen. Tatsächlich war das jedoch ein düsterer Weg. Dieser bruchstückhafte Ansatz, mich mit meiner Realität auseinanderzusetzen, war eher eine Überlebenstaktik als ein alltagstauglicher Bewältigungsmechanismus. Ich war in einer immer größer werdenden Leere gefangen, einem Zwiespalt zwischen dem, wie ich mich nach außen hin gab, und dem, was ich im Inneren empfand.

Es erscheint mir heute fast lächerlich, dass ich meine Sexualität überhaupt als nicht eindeutig empfand, wo sie zu diesem Zeitpunkt doch so offensichtlich war. In Wirklichkeit war mein Es-mir-nicht-eingestehen-Wollen nicht bloß äußerlich. Ich habe das wirklich geglaubt. Ich bin nie davon ausgegangen, dass das weggehen würde, aber ich musste sicher sein, dass ich nicht nur gleichgeschlechtliche Neigungen empfand, sondern dass ich zu diesem Zeitpunkt unmöglich eine Neigung zum anderen Geschlecht empfinden konnte.

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lächelnder Mann

Das wurde mir in meinem letzten Jahr an der Highschool klar. Ich wurde erwachsener. Meine Neigungen hatten sich nicht verändert – wenn überhaupt, waren sie nur noch stärker geworden – und ich kam zu der Erkenntnis, dass ich wirklich keine echte, umfassende Beziehung zu einer Frau haben könne. Ich näherte mich dieser Unvermeidlichkeit langsam an und wollte herausfinden, wie ich auch als Alleinstehender ein glückliches und erfülltes Leben führen könne. Ich passte also meine Erwartungen für die Zukunft an, und statt mich auf Ehe und Familiengründung zu konzentrieren, standen für mich meine Ausbildung, meine jetzige Familie und das Reisen im Mittelpunkt. Da wir in meiner Kindheit viel umgezogen waren, hatte ich bereits gelernt, mit Einsamkeit umzugehen und das Leben auch alleine zu genießen. Da ich Einsamkeit kannte und nicht unbedingt jemanden brauchte, um Erfüllung zu finden, konnte ich meinem Erretter näherkommen und ein starkes Selbstwertgefühl entwickeln. Mir war bewusst, dass ich wohl mein Leben lang unverheiratet bleiben, aber nie wirklich einsam sein werde. Das tröstete mich sehr.

Mein erstes Studienjahr an der BYU war sehr anstrengend. In sozialer Hinsicht fiel es mir schwer, meinen Platz zu finden. Ich hatte gleich von Anfang an mit einer Reihe von psychischen Problemen zu tun, die sich durch das ganze Studienjahr zogen und meine Noten stark beeinträchtigten. Das war nicht ursächlich eine Folge dessen, dass ich Mitglied der Kirche und schwul war, aber es erschwerte natürlich den Umgang mit diesen Themen sehr.

Kurz nach Ende meines ersten Studienjahres wurde ich in die Uruguay-Mission Montevideo West berufen. Wie geplant traf ich Ende August 2013 im MTC in Buenos Aires in Argentinien ein. Auf Mission ging es mit meiner psychischen Gesundheit jedoch bergab, daher wurde ich nach fünf Monaten ehrenhaft entlassen und nach Hause geschickt.

Nach meiner Mission fing ich langsam an, mich vor mehr Menschen zu outen. Ich muss sagen, dass es nur bis zu einem gewissen Punkt einfacher wird, sich zu öffnen, und das auch nur geringfügig. Ich erzähle nicht überall herum, dass ich schwul bin, sondern erwähne es nur, wenn es sein muss. Unabhängig davon hat mir das vermehrt Frieden und Freude gebracht, weil ich jetzt mehr ich selbst sein kann.

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Mann denkt nach

Da ich mir meine Gefühle jetzt offener eingestehe, merke ich, dass auch meine Wünsche von mehr Reife zeugen und stimmiger und weniger ungesund geworden sind. Als Jugendlicher waren meine Neigungen oberflächlicher und fleischlicher gewesen und es war mir schwerer gefallen, sie zu zügeln. Als ich jedoch mehr ich selbst wurde, stellte ich fest, dass sich meine Wünsche und sogar meine Neigungen veränderten, weil mir vermehrt bewusst wurde, was mir echtes, dauerhaftes Glück bringt. Ich höre immer wieder, dass gleichgeschlechtliche Neigungen als Versuchung bezeichnet werden. Meiner Erfahrung nach ist das eine übermäßige Vereinfachung, so als würde man auch die Neigung zum jeweils anderen Geschlecht als Versuchung bezeichnen. Natürlich gibt es dabei auch Versuchungen, aber die Neigung an und für sich ist keine Versuchung. Der einzige Unterschied besteht im Gegenstand der Zuneigung. Eine gleichgeschlechtliche Neigung ist auch keine Krankheit.

Die erste und größte Herausforderung, vor der ich stand, bevor und nachdem ich mich geoutet hatte, ist Kummer, und zwar in verschiedenster Form. Einmal ist da die Einsamkeit. Zuerst war ich mir ziemlich sicher, dass ich alleinstehend bleiben würde, damit ich alle Segnungen des Evangeliums genießen kann. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine Neigungen meistens nur als körperlich erlebt. Als ich jedoch meine Gefühle nicht mehr unterdrückte und begann, darüber nachzudenken, was ich im Leben wirklich wollte, erkannte ich, welche Freude man empfindet, wenn man das Leben mit jemandem verbringt, den man wirklich liebt. An manchen Tagen ist es einfacher als an anderen, der Wahrscheinlichkeit ins Auge zu sehen, dass ich zeit meines Lebens unverheiratet bleiben werde.

Im Großen und Ganzen weiß ich, dass ich als Alleinstehender ein glückliches und erfülltes Leben führen kann. Trotzdem werde ich vielleicht immer Sehnsucht nach einer Art Zweisamkeit haben.

Bei allen Schwierigkeiten, die ich überwunden habe, und den Herausforderungen, denen ich mich stellen muss, habe ich als Heiliger der Letzten Tage und als Homosexueller Dinge gelernt, die ich nie für möglich gehalten hätte. Am Wichtigsten sind dabei wohl die Tugenden Glaube, Hoffnung und Nächstenliebe. Meine Erfahrungen als homosexueller Heiliger der Letzten Tage haben bis heute meinen Glauben gestärkt, während ich lerne, mit einer gewissen Unstimmigkeit zu leben, den Geist zu erkennen und mein Vertrauen in den Herrn und seinen Zeitplan zu setzen.

Mit das Schönste, was ich lernen durfte, ist Hoffnung. Ich weiß nicht, ob ich jemals jemanden finden werde, mit dem ich mein Leben verbringen will. Realistisch betrachtet sind die Chancen dafür nicht sehr hoch. Trotzdem lohnt es sich für mich, darum zu kämpfen, darauf zu hoffen und optimistisch zu bleiben. Das Gleiche gilt für das Evangelium. Wir können nicht wirklich garantieren, dass vieles, was wir uns erhoffen, in Erfüllung geht. Aber wir gehen gegen alle Widerstände an, weil es das wert ist. Letztendlich habe ich Nächstenliebe gelernt, indem ich meine eigenen Sorgen ertragen und miterlebt habe, wie andere das Gleiche tun.

Ich habe den Wert der reinen Liebe Christi kennengelernt. Ich weiß, dass Gott lebt und uns liebt. Er kennt jeden von uns in- und auswendig, weil er uns erschaffen hat. Ich weiß, dass Christus nicht nur für unsere Sünden gesühnt hat, sondern auch für unsere Schmerzen und Leiden im Leben. Ich glaube daran, dass wir in seinen Händen sind, dass sich alles zum Guten wenden wird, denn dies ist sein göttlicher Plan. Ich habe ein Zeugnis von der Macht und Schönheit der Nächstenliebe. Ich liebe meinen Erretter und meinen Vater im Himmel, und ich bin jeden Tag dankbar für die Segnungen und Erfahrungen, die mir in diesem Leben zuteilwerden.

Robins Geschichte: Tonyas Bischof

Robin sieht Andy so, wie jeder Bischof ein treues Mitglied seiner Gemeinde sieht. Jeder Mensch hat ja Schwierigkeiten, und in diesem Fall muss Andy damit zurechtkommen, dass er sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt. Das hält ihn aber nicht davon ab, eine Berufung zu haben und seiner Gemeinde zu dienen. Robin findet, dass Andy ein Segen für die Gemeinde ist.

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Foto von Robin

Die Zusammenarbeit mit Andy und den Millers ist ganz unproblematisch. Von meiner Seite aus hat es für Andy keine dramatischen „Rettungsaktionen“ gegeben und es waren auch keine langen, mühsamen Gespräche nötig. Andy hat nicht um besondere Aufmerksamkeit gebeten, und er und seine Familie bringen sich, seit sie hier wohnen, sehr engagiert in die Gemeinde ein. Ich sage das, weil Andy anscheinend aus seiner sexuellen Orientierung nie eine große Sache machen wollte.

Er möchte wie jeder andere behandelt werden. Und wieso auch nicht? Er ist ja nicht anders als alle anderen auch. Wir alle machen unsere individuellen Erfahrungen und unterstützen einander als Gemeinde.

Andys Vater, Dylan, ist der Leiter unserer Jungen-Männer-Gruppe. Seine Mutter, Tonya, unterrichtet die Evangeliumslehreklasse. Seine jüngere Schwester und seine kleinen Brüder sind in ihren Klassen und Kollegien aktiv. Andy ist Ratgeber im Ältestenkollegium. Er unterstützt seinen Präsidenten und dient bereitwillig.

Meine Ratgeber und ich sehen Andy im selben Licht wie jedes andere Mitglied der Gemeinde oder wie jeden unserer Mitbürger. So wie ich das sehe, tut er nichts Falsches. Er ist gewiss nicht vollkommen, aber das ist niemand. Wir alle sind auf die Versöhnung mit dem Herrn angewiesen, die durch das Sühnopfer Jesu Christi möglich ist.

Andy hatte seine Missionspapiere bereits eingereicht, als er noch in seinem früheren Pfahl- und Gemeindegebiet lebte. Dass Andy eine Mission erfüllen wollte, zeigt, dass er ein Zeugnis hat und Glauben an unseren Erretter und an die Wiederherstellung des Evangeliums. Als seine Missionsberufung eintraf, erfuhren Andy und seine Familie, dass er nach Uruguay auf Mission berufen worden war. Ich wurde gebeten, mit der Familie dabei zu sein, als Andy von Präsident Crandall eingesetzt wurde. Es war wie jede andere Einsetzung, an der ich teilgenommen habe. Die Familie hatte die Gelegenheit, Gefühle zum Ausdruck zu bringen und Ratschläge zu geben, es wurde gelacht und geweint. Andy hat sich tapfer bemüht, seine Vollzeitmission zu erfüllen. Aber aus Gründen, die vielleicht mit seinen gleichgeschlechtlichen Neigungen zu tun haben oder auch nicht, war er nicht in der Lage, seine Vollzeitmission zu beenden, und wurde vorzeitig entlassen. Ich möchte betonen, dass es nicht daran lag, dass der Missionspräsident nicht bereit gewesen wäre, Andy seine Mission fortsetzen zu lassen, sondern es lag an den psychischen Problemen, die Andy damals hatte.

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Andy im Gespräch mit Robin

Als Andy wieder in unserer Gemeinde war, weiß ich noch, wie enttäuscht er war, seine Mission nicht beenden zu können. Bei einem Gespräch sagte er mir, dass er in der Kirche bleiben und dem Herrn auf andere Weise dienen wolle. Soweit ich weiß, ist Andys Glaube nie ins Wanken geraten.

Nicht allzu lange nach Andys Rückkehr wünschte sich der Ältestenkollegiumspräsident Andy als Ratgeber. Wir besprachen das in der Bischofschaft und hatten das Gefühl, dass die Berufung gut für Andy und die Mitglieder des Kollegiums sei. Wir empfanden die Berufung als inspiriert und gaben die Empfehlung an den Pfahlpräsidenten weiter. Wir sahen keinen Grund, Andy diese Gelegenheit zu verwehren. Seither nimmt er seine Aufgaben treu und gut wahr. Er nimmt an den Präsidentschaftssitzungen teil, besucht zusammen mit anderen Mitgliedern der Präsidentschaft die Mitglieder des Kollegiums und verhält sich in jeder Hinsicht wie ein guter Ratgeber. Wenn der Ältestenkollegiumspräsident verhindert ist, vertritt Andy ihn im Gemeinderat und im Priestertumsführungskomitee.

Seit er in unserer Gemeinde ist, ist Andy ein Teil von uns. Er wird von allen angenommen. Viele wissen gar nichts von seinen gleichgeschlechtlichen Neigungen. Diejenigen, die es wissen, behandeln Andy mit der Liebe und dem Respekt, die jedem Kind unseres himmlischen Vaters gebühren. Andy macht es einem leicht, da er selbst liebenswürdig und freundlich ist.

Nur Andy konnte uns erzählen, wie es für ihn ist, unter Heiligen der Letzten Tage zu leben und gleichzeitig gleichgeschlechtliche Neigungen zu haben. Aus meiner Sicht ist er zwar ruhig und zurückhaltend, aber glücklich und integriert. Er hat eine Familie, die ihn unglaublich unterstützt, und Nachbarn und Freunde, die ihn freundlich und liebevoll behandeln. Er ist ein Segen für unsere Gemeinde.

Ich glaube, dass der Erretter uns alle gleichermaßen liebt und sich für alle Kinder des himmlischen Vaters als Erlöser hingegeben hat. Er sieht nicht auf die Person und lädt uns alle ein, die Früchte seines Sühnopfers zu genießen. Ich glaube, dass er unsere diversen Probleme versteht und mit uns mitfühlt, ganz egal, was es ist.

Ich glaube, dass er Andy sieht, ihn namentlich kennt und ihn vorbehaltlos liebt, so wie auch wir es in unserer Gemeinde tun.

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