Umkehr
„ Umkehr ist eine befreiende und nicht eine drückende Doktrin. Sie steht sowohl dem schlimmen Sünder als auch dem bereits guten Menschen offen, der sich um Verbesserung bemüht.”
Mit Ihnen freue ich mich über das Zeugnis und die Talente dieser neuen Brüder.
Seit einigen Monaten bemühe ich mich, der Umkehr Nachdruck zu verleihen, denn sie ist eine der wichtigsten und barmherzigsten Lehren des Gottesreiches. Sie wird von uns allen zu wenig verstanden, zu wenig angewandt, so als sei sie bloß ein Wort auf einem Aufkleber am Auto. Da Jesus uns deutlich gesagt hat, was für Menschen wir werden sollen - nämlich so, wie er ist (siehe 3 Nephi 27:27) - wie können wir das schaffen, wenn wir nicht - ein jeder von uns - die Umkehr nutzen, damit wir uns weiterentwickeln? Die Umkehr gehört dazu, wenn wir täglich unser Kreuz auf uns nehmen wollen (siehe Lukas 9:23). Ohne sie gäbe es gewiß keine Rüstung der Heiligen für die Erfüllung ihres Dienstes (siehe Epheser 4:12).
Außerdem besitzt jemand, der sich mehr geheiligt hat, auch mehr Individualität.
Sünde dagegen führt zum Einerlei; sie reduziert uns auf süchtige Begierden und unbotmäßige Impulse. Für einen kurzen, aufwallenden, egoistischen Augenblick kann Sünde die Illusion von Individualität vermitteln, aber nur wie bei den grunzenden, galoppierenden Schweinen von Gadara! (Siehe Matthäus 8:28-32.)
Umkehr ist eine befreiende und nicht eine drückende Doktrin. Sie steht sowohl dem schlimmen Sünder als auch dem bereits guten Menschen offen, der sich um Verbesserung bemüht.
Umkehr erfordert sowohl, daß man sich vom Bösen abwenden, als auch, daß man sich Gott zuwendet (siehe Deuteronomium 4:30). Wo eine mächtige Wandlung im Herzen erforderlich ist, muß man sich um 180 Grad drehen, und zwar ohne zurückzublicken! (Siehe Alma 5:12,13.) Anfänglich stellt dieses Umdrehen den Fortschritt vom telestialen zum terrestrialen Verhalten dar, danach zum celestialen Verhalten. Wenn man die Sünden der telestialen Welt hinter sich läßt, konzentriert man sich beharrlicher auf die Unterlassungssünden, die einen oft von der völligen Weihung abhalten.
Zu wirklicher Umkehr gehören keine Punkte, die man mechanisch abhakt, sondern man muß sich bemühen, den natürlichen Menschen wirklich in den Griff zu bekommen. Jeder Bereich des Umkehrprozesses ist wesentlich, und oft überlappen sich die einzelnen Bereiche und verstärken sich gegenseitig. Der Vorgang beruht auf innerer Entschlossenheit, wird aber durch Unterstützung von außen sehr gefördert.
Es kann keine Umkehr geben, ohne daß man das Unrecht einsieht. Ob durch Anstoß von außen, Selbstprüfung oder schmerzliches Erinnern - vom Leugnen muß man lassen. Wie beim verlorenen Sohn, der schließlich in sich ging (siehe Lukas 15:17), helfen uns die ersten Strahlen der Einsicht, etwas so zu sehen, „wie es wirklich ist” (Jakob 4:13), wozu auch gehört, daß man zwischen dem Balken und dem Splitter unterscheidet. Die Einsicht ist ein heiliger Augenblick, der oft von Schamesröte begleitet ist.
Nach der Einsicht überflutet wirkliche Reue die Seele. Es handelt sich um „gottgewollte Traurigkeit”, nicht bloß „weltliche Traurigkeit” oder das „Trauern der Verdammten”, die ihr Glück nicht mehr in der Sünde finden (siehe 2 Korinther 7:10; Mormon 2:13). Falsche Reue dagegen ist so, als ob wir uns an unseren Fehlern freuen. Bei ritueller Reue bejammern wir unsere Fehler, ohne aber etwas daran zu ändern.
Es gibt keine wirkliche Umkehr, ohne daß man leidet und ohne daß für die nötige Reinigung und innere Wandlung genügend Zeit vergeht. Das ist viel mehr, als wenn man bloß darauf wartet, daß die Zerknirschung nachläßt. Seelischer Schmerz kann durchaus von Nutzen sein, genauso wie Ungemach. Kein Wunder, daß oft Züchtigung erforderlich ist, ehe die innere Wandlung wirklich einsetzt! (Siehe LuB 1:27; Helaman 12:3.)
Wirkliche Reue kann man bald erkennen; sie bringt „Frucht hervor, die die Umkehr zeigt” (Matthäus 3:8; siehe auch Apostelgeschichte 26:20; Alma 5:54). Im Laufe der Zeit wird diese Frucht dann auch wirklich reif.
Zur wahren Umkehr gehört auch das Bekennen . „So legt nun vor dem Herrn, dem Gott eurer Väter, ein Bekenntnis ab.” (Esra 10:11.) Jemand mit reuigem Herzen kennt keinen Vorbehalt. Das Bekennen befreit von der krankmachenden Sünde, und dann kann der Geist, der sich zurückgezogen hatte, zurückkommen und erneuern.
Jetzt ist die Unterstützung von außen ganz wichtig. Deshalb sollen wir zu einer teilnahmsvollen Gemeinschaft gehören, in der wir alle die Ermahnung befolgen: „Stütze die Schwachen, hebe die herabgesunkenen Hände empor, und stärke die müden Knie.” (LuB 81:5.) Haben nicht die Bewohner der unvergleichlichen Stadt Henochs gemeinsam „im Lauf der Zeit” Fortschritt gemacht? (Siehe Mose 7:21,68,69.)
Alle Sünden müssen dem Herrn eingestanden werden, einige einem Beamten der Kirche, einige einem Mitmenschen und einige allen dreien. Manchmal ist vielleicht auch ein öffentliches Bekenntnis erforderlich. Das Bekennen hilft, von der Sünde zu lassen. Wir können nicht erwarten, daß wir öffentlich und in großem Maß sündigen und dann still und schnell gerettet und nur „mit einigen Streichen” gezüchtigt werden (siehe LuB 42:88-93; 2 Nephi 28:8).
Wirkliche Umkehr geht damit einher, daß man von der Sünde läßt. „Kehrt um, wendet euch ab von all euren Vergehen! Sie sollen für euch nicht länger der Anlaß sein, in Sünde zu fallen.” (Ezechiel 18:30.) Ein leidender Korihor bekannte: „Ich habe immer gewußt, daß es einen Gott gibt.” (Alma 30:52.) Aber er war trotzdem nicht völlig umgekehrt, weshalb Alma zu ihm sprach: „Wenn dieser Fluch von dir genommen würde, dann würdest du diesem Volk das Herz abermals verleiten.” (Alma 30:55.)
Also, „ob jemand von seinen Sünden umkehrt, könnt ihr daran erkennen: Siehe, er bekennt sie und läßt davon” (LuB 58:43).
Aufrichtige Unterstützung und Liebe von Seiten der anderen - nicht Isolierung braucht man in diesem schmerzlichen Abwenden von der Sünde und der Umkehr!
Auch Wiedergutmachung ist erforderlich.
„Wenn er also auf solche Weise sündigt und schuldig wird, muß er das, was er geraubt oder durch Übervorteilung gewonnen hat, oder was ihm anvertraut wurde, oder das Verlorene, das er gefunden hat, zurückgeben.” (Levitikus 5:23.)
Manchmal allerdings ist eine tatsächliche Wiedergutmachung nicht möglich, so zum Beispiel, wenn jemand dazu beigetragen hat, daß ein anderer den Glauben oder seine Tugend verloren hat. Dann ist das rechtschaffene Beispiel, das er hernach gibt, eine Art Ersatz für die Wiedergutmachung.
In diesem unerbittlichen Vorgang hängt offensichtlich viel davon ab, wie sanftmütig man ist. Stolz hält einen davon ab, mit der Umkehr überhaupt zu beginnen oder den Umkehrprozeß fortzusetzen. Manch einer schafft es nicht, weil er mehr um sein äußeres Ansehen besorgt ist als darum, das Abbild Christi in seinen Gesichtsausdruck aufzunehmen (siehe Alma 5:14). Der Stolz bevorzugt die billige Umkehr, für die mit seichtem Kummer bezahlt wird. Es überrascht nicht, daß jemand, der nach billiger Umkehr trachtet, auch nach oberflächlicher Vergebung trachtet statt nach wirklicher Versöhnung. Wirklich Umkehr ist nämlich viel mehr, als daß man bloß sagt: „Es tut mir leid.”
Im beängstigenden Vorgang der Umkehr haben wir manchmal das Gefühl, Gott habe uns verlassen. In Wirklichkeit haben aber wir uns durch unser Verhalten von ihm isoliert. Deshalb sind wir, wenn wir uns vom Bösen abgewandt, uns Gott aber noch nicht ganz zugewandt haben, besonders verletzlich. Wir dürfen aber nicht aufgeben, sondern müssen statt dessen Gottes wartenden, barmherzigen Arm ergreifen, der „den ganzen Tag lang” ausgestreckt ist (siehe Jakob 5:47; 6:4; 2 Nephi 28:32; Mormon 5:11). Anders als wir hat Gott keine begrenzten Sprechstunden.
Wir sollen im Glauben wandeln, und nichts daran ist schwerer als der Weg der Umkehr. Wenn wir allerdings Glauben haben, der zur Umkehr führt, können wir Hindernisse aus dem Weg räumen und Gott um Barmherzigkeit anflehen (siehe Alma 34:16). Wahre Zerknirschung führt zu völliger Unterwerfung. Man ergibt sich einfach, und es ist einem nur noch wichtig, was Gott denkt, nicht, was man selbst denkt, während man sanftmütig sagt: „O Gott, … wollest du dich mir kundtun, und ich will alle meine Sünden ablegen, um dich zu erkennen.” (Alma 22:18.) Nur wenn wir alle unsere Sünden aufgeben, können wir Gott erkennen.
Wer dagegen noch einige seiner Sünden zurückbehält, bleibt auch selbst zurück. Desgleichen diejenigen, die nicht demütig und ehrlich mit den Gesalbten des Herrn zusammenarbeiten wollen. Auch ein teilweises Bekenntnis gegenüber den ernannten Führern zieht volle Verantwortlichkeit nach sich. Der Prophet Joseph Smith hat gesagt: „Wir dürfen … nichts zurückhalten.” (The Words of Joseph Smith, Hg. Andrew F. Ehat und Lyndon W. Cook, Seite 7.)
Die Umkehr spiegelt unseren Fortschritt insgesamt wider, und es geht dabei nicht nur darum, daß wir uns von der Übertretung lossagen. Mose war beispielsweise ein rechtschaffener und bemerkenswerter Mensch. Trotzdem mußte er seinen Führungsstil ändern, und zwar sowohl zu seinem eigenen Nutzen als auch zum Nutzen seines Volkes (siehe Exodus 18:17-19). Mose war erfolgreich, weil er der demütigste Mensch auf dem Erdboden war (siehe Numeri 12:3). Gesegnet sind die Sanftmütigen, denn sie sind nicht schnell beleidigt, wenn sie einen Rat erhalten, und sie sind nicht verärgert, wenn sie er mahnt werden. Wenn wir demütiger wären, Brüder und Schwestern, käme Umkehr sehr viel regelmäßiger vor und würde nicht so bestaunt.
Unser Mangel an Stil spiegelt meist eine unterentwickelte christliche Einstellung wider, so wie bei einem chronisch schlechten Zuhörer, der Mangel an Liebe oder Demut beweist. Wir alle vergeben uns selbst nur allzu bereitwillig, wenn es um Stilfragen geht.
Auch wenn wir von schwerwiegenden Übertretungen frei sind, entwickeln wir manchmal Selbstzufriedenheit, statt uns um Selbstverbesserung zu bemühen. Das galt einmal für Amulek, der später eingestand: „Ich wurde oft gerufen und wollte nicht hören; darum wußte ich davon, wollte es aber nicht wissen; darum lehnte ich mich immer wieder in der Schlechtigkeit meines Herzens gegen Gott auf.” (Alma 10:6.)
In Anbetracht dessen, daß die Umkehr ein Prinzip des Fortschritts für alle ist, nimmt es nicht wunder, daß der Herr seinen Knechten immer wieder sagt, von größtem Wert sei es, diese Generation zur Umkehr aufzurufen. (Siehe LuB 6:9; 14:8; 15:6.)
Noch anderes behindert hartnäckig die Umkehr, zum Beispiel, wenn wir nicht von Anfang an zurechtgewiesen werden, wo wir vielleicht noch weniger stolz waren und besser hätten einsehen können, daß wir uns ändern müssen (siehe LuB 121:43). In solchen Situationen kann man wahrhaftig sagen: „Niemand fragt nach meinem Leben.” (Psalm 142:5.)
Oder wir sind vielleicht zu sehr von Selbstmitleid erfüllt, jenem Morast, in dem die Sünde so gut gedeiht, oder befassen uns zu sehr mit unserer Selbstbestätigung, als daß wir davon lassen könnten.
Oder wir sind zu sehr mit dem beschäftigt, was „für den fleischlichen Sinn angenehm” ist (Alma 30:53), der beharrlich fragt: „Was hast du in letzter Zeit für mich getan?” Wir sind vielleicht auch zu wenig vergebungsbereit und weigern uns, unsere Mitmenschen in neuem Licht zu sehen. Aber „wer die Verfehlungen seines Bruders nicht vergibt, der steht schuldig vor dem Herrn; denn auf ihm verbleibt die größere Sünde.” (LuB 64:9.)
Wir können nicht für jemand anders umkehren, aber wir können unseren Mitmenschen vergeben, statt diejenigen als Geiseln zu nehmen, die der Herr befreien möchte!
Ironischerweise glaubt manch einer, daß der Herr ihm vergeben kann, weigert sich aber, sich selbst zu vergeben. Manchmal sind wir einfach deswegen noch mehr gehemmt, weil wir nicht wirklich gelernt haben, warum und wie wir umkehren sollen.
Wenn wir allerdings umkehren, gelten uns ganz besondere Zusicherungen: „Wären eure Sünden auch rot wie Scharlach, sie sollen weiß werden wie Schnee. Wären sie rot wie Purpur, sie sollen weiß werden wie Wolle.”(Jesaja 1:18.)
„Keines der Vergehen, deren er sich schuldig gemacht hat, wird ihm angerechnet.” (Ezechiel 18:22.)
„Ich, der Herr, behalte [seine Sünden] nicht mehr im Gedächtnis.” (LuB 58:42.)
Zusätzlich zu den genannten Gründen für die persönliche Umkehr haben die Mitglieder der Kirche eine besondere Verabredung einzuhalten. Nephi hat das gesehen. Für eine zukünftige Zeit hat er vorhergesagt, das Bundesvolk des Herrn, „das über die ganze Erde zerstreut” ist, werde „mit Rechtschaffenheit und mit der Macht Gottes in großer Herrlichkeit ausgerüstet” (l Nephi 14:14). Das wird geschehen, aber erst dann, wenn mehr Mitglieder in ihrem Verhalten wirklich heiliger geworden sind und sich mehr weihen.
Aus einem unserer liebsten Kirchenlieder können wir viel lernen:
Kommet zu Jesus, ihr, die ihr trauert, müde und schwach, von Sünde bedrückt. Er wird euch führen und euch beschützen, bis ihr der Sorgen entrückt.
Kommet zu Jesus, er sieht euch immer,
wenn auch im Dunkel ihr euch verirrt.
Er wird euch führen liebreich und gütig,
daß Nacht die Schrecken verliert.
Brüder und Schwestern, wir dürfen örtliche Wolkenfelder niemals für allgemeine Finsternis halten. Das sühnende Licht der Welt hat dafür vorgesorgt. Um unsertwillen wurde dieser völlig außerordentliche Jesus völlig hingegeben. Jesus hat zugelassen, daß sein Wille gänzlich „im Willen des Vaters verschlungen” wurde (siehe Mosia 15:7). Wenn wir zu Jesus zurückkommen wollen, müssen wir uns gleichermaßen Gott unterwerfen - vorbehaltlos. Dann warten weitere erhabene Verheißungen auf uns!
Der Prophet Mormon hat verkündet, daß Jesus „mit offenen Armen” dasteht, uns zu empfangen (siehe Mormon 6:17), während der Unbußfertige und der, der sich nicht weihen will, niemals die höchste Freude erfahren werden, die Mormon schildert, der wußte, wovon er sprach, als er sagte, Jesus hätte solche „in seine Arme nehmen können” (siehe Mormon 5:11).
Möge Gott jedem von uns helfen, jetzt so zu leben, daß wir jenen wunderbaren Augenblick erleben. Das erbitte ich für mich selbst - und für uns alle - im heiligen Namen des großen Erlösers, ja, Jesu Christi. Amen.