2000–2009
Bring ihn heim
Oktober 2003


Bring ihn heim

Man kann sich mit der Hilfe des Herrn denen zuwenden, für die man verantwortlich ist, und sie retten.

Meine lieben Brüder, es stimmt mich demütig, heute Abend vor Ihnen zu stehen und daran zu denken, dass sich neben der überwältigenden Zuhörerschaft in diesem Konferenzzentrum viele hunderttausende Priestertumsträger in aller Welt gleichfalls versammelt haben.

Als ich über meine Aufgabe, zu Ihnen zu sprechen, nachdachte, kam mir in den Sinn, wie Präsident Stephen L Richards einmal die Vollmacht des Priestertums definierte. Er hat gesagt: „Das Priestertum wird gewöhnlich ganz einfach definiert, nämlich als die ‚dem Menschen verliehene Vollmacht Gottes‘. Diese Definition ist meiner Meinung nach richtig. Aber aus praktischen Überlegungen heraus definiere ich das Priestertum lieber im Sinne von Dienst und bezeichne es daher oft als ‚den vollkommenen Plan des Dienens.‘“1

Ob wir nun das Amt eines Diakons im Aaronischen Priestertum oder das eines Ältesten im Melchisedekischen Priestertum innehaben – wir sind durch die Offenbarung des Herrn verpflichtet, die in Abschnitt 107 im Buch Lehre und Bündnisse, Vers 99, steht: „Darum lasst einen jeden lernen, was ihm obliegt und lasst ihn mit allem Eifer das Amt ausführen, zu dem er bestimmt worden ist.“

Kurz bevor unser jüngster Sohn Clark zwölf wurde, verließen wir beide gerade das Verwaltungsgebäude der Kirche, als Präsident Harold B. Lee auf uns zukam und uns begrüßte. Ich erwähnte, dass Clark bald zwölf werde, worauf sich Präsident Lee ihm zuwandte und ihn fragte: „Was geschieht denn mit dir, wenn du zwölf wirst?“

Es war einer jener Augenblicke, in denen man als Vater betet, dem Sohn möge die richtige Antwort einfallen. Ohne zu zögern sagte Clark zu Präsident Lee: „Ich werde zum Diakon ordiniert!“

Das war die Antwort, die Präsident Lee erwartet hatte. Er ermahnte unseren Sohn daraufhin: „Vergiss nicht: Es ist ein großer Segen, das Priestertum zu tragen.“

Als ich noch ein Junge war, freute ich mich darauf, den Mitgliedern der Gemeinde das Abendmahl auszuteilen. Wir Diakone kannten unsere Pflichten. Ein Mann in unserer Gemeinde, Louis, litt an einer Schüttellähmung. Sein Kopf und die Hände zitterten so stark, dass er das Abendmahl nicht selbständig einnehmen konnte. Jeder Diakon, der Louis das Abendmahl austeilte, wusste, dass er das Brot an seine Lippen führen musste, damit er es essen konnte, und dass er ebenfalls mit einer Hand den Wasserbecher an seinen Mund führen musste, während er mit der anderen den Kopf ruhig hielt – das Tablett hielt inzwischen ein anderer Diakon. Und jedes Mal sagte Louis: „Vielen Dank.“

An dieser Herbst-Konferenz ist es nun vierzig Jahre her, dass Präsident David O. McKay mich ins Kollegium der Zwölf Apostel berief. Als bei der ersten Sitzung der Ersten Präsidentschaft und der Zwölf, an der ich teilnahm, das Abendmahl gereicht wurde, verkündete Präsident McKay: „Ehe wir das Abendmahl nehmen, möchte ich das jüngste Mitglied dieses Gremiums, Bruder Monson, bitten, die Erste Präsidentschaft und die Zwölf über das Sühnopfer unseres Herrn und Erretters, Jesus Christus, aufzuklären.“ Endlich sollte mir voll bewusst werden, was das alte Sprichwort bedeutet: „Wenn der Zeitpunkt der Entscheidung gekommen ist, ist die Zeit zur Vorbereitung abgelaufen.“ Und mir kamen nun auch wieder die Worte aus dem 1. Petrusbrief in den Sinn: „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt.“2

Ich begann meine Ausführungen mit dem Hinweis auf einen Brief, den ich von einem Soldaten aus unserer Gemeinde erhalten hatte, der in Korea an der Front stand, in einem Krieg, der manchmal vergessen wird. Darin erzählte er, wie am Sonntagmorgen inmitten des Granatfeuers einige aus seiner Einheit erst das Brot und dann das Wasser zu sich nahmen. Beides wurde ihnen in einem Helm gereicht. Jedem war bewusst, was der Segen bedeutete, der über die beiden heiligen Symbole ausgesprochen wurde, und inwieweit er verpflichtet war, die Gebote des Herrn zu halten und seinem beispielhaften Dienst am Nächsten nachzueifern.

Die Erinnerung an jenes besondere Erlebnis vor der Ersten Präsidentschaft und dem Kollegium der Zwölf Apostel ist in den vergangenen vierzig Jahren nicht verblasst.

Für jeden, der je von Heim und Familie getrennt war, sei es in der Armee, auf einer Mission oder aus einem anderen Grund, geht mit der Weihnachtszeit die Sehnsucht, ja das Verlangen einher, mit seinen Lieben vereint zu sein. Die Kinder lachen zu hören, die Zuneigung liebevoller Eltern mitzuerleben und von Brüdern und Schwestern umarmt zu werden, erscheint wie ein Ausblick auf den Himmel und die ewige Freude, die dort herrscht.

Eines Abends im Dezember hielten meine Frau und ich uns in drückender Hitze und Feuchtigkeit in Singapur auf und warteten darauf, dass unser Rückflug nach Amerika aufgerufen wurde. Da erklang über die Flughafenlautsprecher eine wohl bekannte, fröhliche Melodie, zu der Bing Crosby sang:

Weihnachten bin ich zu Haus,

bestimmt es sich erfüllt.

Ich wünsch mir Schnee und Mistelzweig,

Geschenke unterm Baum.

An Heiligabend bin ich da,

wo Liebe mich umhüllt.

Weihnachten bin ich zu Haus

und sei es nur im Traum.3

Die Erste Präsidentschaft hat seit langem nachdrücklich erklärt: „Die Familie ist die Grundlage eines rechtschaffenen Lebens, und keine andere Institution kann ihren Platz einnehmen oder ihre wesentlichen Aufgaben erfüllen.“4

Es gibt Familien, in denen sich Mutter und Vater, Sohn und Tochter durch unbedachte Äußerungen einander entfremdet haben. Ein Beispiel dafür, wie es fast zu einem solchen Unglück gekommen wäre, erlebte vor vielen Jahren ein junger Mann, den ich rücksichtshalber einmal Jack nennen möchte.

So lange Jack lebte, war es zwischen ihm und seinem Vater immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen. Einmal, als er gerade siebzehn war, war es besonders schlimm. Jack sagte zu seinem Vater: „Das ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Ich gehe! Mich siehst du hier nicht wieder!“ Damit ging er in sein Zimmer und packte seine Tasche. Seine Mutter flehte ihn an, doch zu bleiben, aber er war zu zornig, um ihr zuzuhören, und ließ sie weinend in der Tür stehen.

Jack ging über den Hof und war gerade im Begriff, durch das Tor zu gehen, als er hörte, wie sein Vater ihm zurief: „Jack, ich weiß, ich trage einen Großteil der Schuld daran, dass du gehst. Das tut mir aufrichtig Leid. Wenn du jemals zurückkommen willst, bist du hier immer willkommen. Und ich will mich bemühen, dir ein besserer Vater zu sein. Ich werde dich immer lieb haben.“

Jack sagte nichts. Er ging zum Busbahnhof und kaufte sich eine Fahrkarte zu einer weit entfernten Stadt. Dann saß er im Bus und sah die Landschaft an sich vorbeifliegen. Er musste über die Worte seines Vaters nachdenken und ihm wurde bewusst, wie sehr sein Vater ihn doch lieben musste, um so etwas zu sagen. Sein Vater hatte sich entschuldigt. Er hatte ihn eingeladen zurückzukommen, und ihm klang immer noch im Ohr, wie er gesagt hatte: „Ich werde dich immer lieb haben.“

Da wurde Jack klar, dass er jetzt am Zug war. Er konnte nur dann inneren Frieden finden, wenn er seinem Vater mit der gleichen inneren Reife und Güte und Liebe entgegentrat, die dieser ihm erwiesen hatte. Jack stieg aus, kaufte sich eine Rückfahrkarte und fuhr zurück.

Kurz nach Mitternacht kam er an, ging ins Haus und schaltete das Licht an. Da saß sein Vater im Schaukelstuhl, den Kopf in seinen Händen vergraben. Er blickte auf und sah Jack dastehen. Er stand auf und sie fielen einander um den Hals. Jack sagte später oft: „Diese letzten Jahre zu Hause gehören zu den glücklichsten in meinem ganzen Leben.“

Man könnte sagen, dieser Junge war über Nacht zum Mann geworden. Der Vater hatte seinen Zorn und Stolz unterdrückt und die Hand ausgestreckt, seinen Sohn zu retten, ehe er sich zu den Scharen der Einsamen gesellte, die aus zerbrochenen Familien stammen. Die Liebe verband sie wieder miteinander und heilte ihre Wunden. Die Liebe – die man so oft spürt, aber so selten zum Ausdruck bringt.

Vom Berg Sinai hören wir mit lautem Donnerhall: „Ehre deinen Vater und deine Mutter.“5 Und später mahnt der Herr: „Ihr sollt liebevoll miteinander leben.“6

Brüder, es ist unsere Aufgabe, ja unsere feierliche Pflicht, uns jenen zuzuwenden, die sich vom aktiven Gemeindeleben zurückgezogen oder sich von ihrer Familie abgewendet haben.

Denken wir an die wunderbaren Worte der Offenbarung des Herrn in Abschnitt 18 im Buch Lehre und Bündnisse: „Denkt daran: Die Seelen haben großen Wert in den Augen Gottes …

Und wenn ihr alle eure Tage damit zubringt, diesem Volk Umkehr zu predigen, und auch nur eine einzige Seele zu mir führt – wie groß wird doch eure Freude sein mit ihr im Reich meines Vaters!

Und nun, wenn eure Freude schon groß sein wird über die eine Seele, die ihr zu mir ins Reich meines Vaters geführt habt – wie groß wird eure Freude erst sein, wenn ihr viele Seelen zu mir führt!“7

Als Präsidentschaft eines AP-Kollegiums, als Berater eines solchen Kollegiums kann man sich mit der Hilfe des Herrn denen zuwenden, für die man verantwortlich ist, und sie retten. Ihr jungen Männer könnt mit einem Lächeln im Gesicht und dem festen Entschluss im Herzen freundschaftlich einem weniger aktiven Jungen unter die Arme greifen, ihn zur Priestertumsversammlung mitnehmen und dort vom Herrn lernen und sehen, was er für euch vorbereitet hat. Ihr habt Anspruch auf Gottes Hilfe, denn er hat euch verheißen: „Ich werde vor eurem Angesicht hergehen. Ich werde zu eurer rechten Hand sein und zu eurer linken, und mein Geist wird in eurem Herzen sein und meine Engel rings um euch, um euch zu stützen.“8

Brüder im Melchisedekischen Priestertum, Sie haben den gleichen heiligen Auftrag, die gleiche Pflicht, was andere Männer und deren Familie anbelangt. Und dieselbe Verheißung des Herrn stützt auch Sie bei Ihren Bemühungen.

Ihr Erfolg wird die Antwort auf das Gebet einer Mutter sein, wird den zaghaften Wunsch eines Kindes erfüllen, den es still im Herzen trägt. Diejenigen, denen Sie sich zuwenden und denen Sie helfen, werden Ihren Namen stets in Ehren halten.

Ich möchte ein sehr persönliches, aber freudiges Beispiel aus meinem Leben anführen.

Als ich Bischof war, habe ich mir um jedes einzelne Mitglied Gedanken gemacht, das weniger aktiv war, das nicht zur Kirche ging, das nicht diente. Mit solchen Gedanken fuhr ich die Straße entlang, wo Ben und Emily Fullmer wohnten. Die Beschwerden und Schmerzen, die das Alter mit sich bringt, hatten sie veranlasst, nicht mehr aktiv mitzuwirken, sondern sich in den Schutz ihres Hauses zurückzuziehen – einsam, allein, abgeschnitten vom Strom des täglichen Lebens und von der Gesellschaft mit anderen. Ben und Emily waren schon jahrelang nicht in unserer Abendmahlsversammlung gewesen. Ben, ein ehemaliger Bischof, saß ständig in seinem Zimmer, las im Neuen Testament und lernte es auswendig.

Ich war gerade auf dem Weg von meinem Verkaufsbüro in der Stadt zur Fabrik im Industriegebiet. Aus einem unerfindlichen Grund hatte ich die Abfahrt Erste Straße West genommen, wo ich sonst nie entlangfuhr, um zur Fabrik zu gelangen. Ich spürte die unmissverständliche Eingebung, mein Auto abzustellen und Ben und Emily zu besuchen, obwohl ich gerade unterwegs zu einer Besprechung war. Beim ersten Mal gab ich der Eingebung nicht nach, sondern fuhr noch zwei Blocks weiter; als sie sich aber erneut einstellte, machte ich kehrt.

Es war ein sonniger Nachmittag mitten in der Woche. Ich ging zur Haustür und klopfte. Der kleine Foxterrier fing an zu bellen, als er mich hörte. Emily bat mich herein. Als sie mich sah, rief sie: „Den ganzen Tag habe ich gewartet, dass das Telefon klingelt, aber niemand hat angerufen. Ich habe gehofft, der Postbote würde mir einen Brief bringen, aber er hatte nur Rechnungen dabei. Bischof, woher wissen Sie, dass ich heute Geburtstag habe?“

Ich antwortete: „Gott weiß es, Emily, denn er liebt Sie.“

Im stillen Wohnzimmer sagte ich dann zu Ben und Emily: „Ich weiß nicht, warum ich heute hierher kommen sollte, aber ich wurde hierher geführt. Der himmlische Vater weiß, warum. Wir wollen uns niederknien und ihn fragen.“ Das taten wir auch und wir erhielten die Antwort. Als wir uns wieder erhoben, sagte ich zu Bruder Fullmer: „Ben, möchten Sie nicht die Priestertumsversammlung, wenn alle Träger des Priestertums zusammenkommen, besuchen und den Trägern des Aaronischen Priestertums erzählen, was Sie mir einmal erzählt haben, wie nämlich Sie und eine Gruppe Jungen eines Sonntags unterwegs zum Jordan River waren, um schwimmen zu gehen, dann aber der Eingebung des Geistes, in die Sonntagsschule zu gehen, folgten? Einer der Jungen, der dem Geist nicht gefolgt war, war an jenem Sonntag ertrunken. Unsere Jungen möchten Ihr Zeugnis bestimmt gern hören.“

„Das mache ich“, erwiderte er.

Dann sagte ich Schwester Fullmer: „Emily, ich weiß, Sie haben eine schöne Stimme. Das hat mir meine Mutter erzählt. Die Gemeindekonferenz ist in ein paar Wochen und der Chor tritt dabei auf. Möchten Sie nicht beim Chor mitsingen, an der Gemeindekonferenz teilnehmen und vielleicht sogar ein Solo übernehmen?“

„Welches Stück wird denn gesungen?“, fragte sie.

„Das weiß ich nicht“, sagte ich, „aber ich möchte, dass Sie es singen.“

Und so sang sie, und er sprach zu den Aaronischen Priestertumsträgern. Viele waren von Herzen froh, dass Ben und Emily wieder aktiv waren. Von da an versäumten sie kaum eine Abendmahlsversammlung. Die Sprache des Geistes war erklungen. Sie war gehört worden. Sie war verstanden worden. So wurden Herzen erreicht und Menschen errettet. Ben und Emily Fullmer waren heimgekehrt.

Zu den am längsten gespielten Musicals gehört Les Misérables. Die Geschichte spielt zur Zeit der Französischen Revolution. Die Hauptfigur des Musicals heißt Jean Valjean. Seine zutiefst empfundene Sorge um den jungen Marius, der in die Schlacht hinauszieht, bringt er in einem Gebet zum Ausdruck, das er singt:

Gott im Himmel,

höre mein Gebet,

wenn ich dich brauchte,

warst du immer da.

Er ist jung,

er hat Angst.

Gib ihm Ruhe,

segne ihn.

Bring ihn heim …

Gib ihm Frieden,

gib ihm Freude.

Er ist jung,

fast noch ein Kind.

Du kannst nehmen,

du kannst geben,

verschone ihn,

lass ihn leben.

Soll ich sterben, so mag es sein,

doch ihn lass leben.

Bring ihn heim.9

Brüder, wenn wir als Träger des Priestertums Gottes vorangehen, unsere Pflicht kennen und uns den Brüdern zuwenden, die unsere Hilfe brauchen, dann lassen Sie uns zum Vater im Himmel aufblicken, der unser aller Vater ist. Wir hören vielleicht seine Stimme nicht, aber wir denken an seinen Willkommensgruß: „Sehr gut, du bist ein tüchtiger und treuer Diener.“10

Und mit dem Herzen werden wir seine stille Bitte hören: Bring ihn heim. Im Namen Jesu Christi. Amen.

  1. Generalkonferenz, April 1937

  2. 1 Petrus 3:15

  3. Kim Gannon und Walter Kent, „I’ll Be Home for Christmas“, 1943

  4. J. Reuben Clark jun. bei einer Versammlung von Führungskräften der Hilfsorganisationen der Kirche, 29. März 1940; siehe auch „Brief von der Ersten Präsidentschaft“, Der Stern, Dezember 1999, Seite 1

  5. Exodus 20:12

  6. LuB 42:45

  7. LuB 18:10,15,16

  8. LuB 84:88

  9. Herbert Kretzmer, „Bring Him Home“

  10. Matthäus 25:21