2000–2009
Das Verheißene von fern schauen
Oktober 2003


Das Verheißene von fern schauen

Am Glauben, der geistigen Fähigkeit, von Verheißungen überzeugt zu sein, die man nur „von fern“ schaut, lässt sich der wahre Gläubige gut erkennen.

Ich werde niemals einen brütend heißen Tag im dichten Regenwald Südost-Nigerias vergessen. Mein Mann und ich waren zu einem der entlegensten Orte unseres Missionsgebiets gefahren. Er wollte dort Tempelscheininterviews mit Mitgliedern des Distrikts Ikot Eyo führen. In diesem aufstrebenden Distrikt waren einige noch keine zwei Jahre bei der Kirche. Sämtliche Mitglieder wohnten knapp 5000 Kilometer vom nächsten Tempel, dem in Johannesburg in Südafrika, entfernt. Noch keiner hatte die Begabung im Tempel empfangen.

Die Mitglieder dort wussten immer, an welchem Tag des Monats wir in ihren Distrikt kamen, aber nicht einmal wir kannten die genaue Ankunftszeit, und anrufen konnten wir auch nicht, denn es gab kaum Telefone in diesem Teil Westafrikas. Also kamen die eifrigen afrikanischen Heiligen schon frühmorgens zusammen und warteten dann notfalls den ganzen Tag auf ihr Tempelscheininterview. Als wir eintrafen, fielen mir unter den in der glühenden Hitze Wartenden zwei FHV-Schwestern auf, die ein bunt gemustertes Wickelkleid, eine weiße Bluse und das traditionelle afrikanische Kopftuch trugen.

Als mein Mann und ich viele Stunden später, nachdem alle Interviews erledigt waren, die staubige Urwaldstrecke zurückfuhren, stellten wir überrascht fest, dass diese beiden Schwestern noch immer unterwegs waren. Uns wurde bewusst, dass sie zu Fuß von ihrem Dorf gekommen waren – hin und zurück an die 30 Kilometer –, nur um einen Tempelschein zu erhalten, den sie niemals würden nutzen können.

Diese nigerianischen Heiligen glaubten den Worten von Präsident Howard W. Hunter: „Es würde dem Herrn sehr gefallen, wenn jedes erwachsene Mitglied für den Tempelschein würdig ist und einen Tempelschein hat, auch dann, wenn der nächste Tempel relativ weit entfernt ist, sodass häufige Besuche nicht möglich sind.“1 Jede Schwester trug den kostbaren Tempelschein in ihrer Hand, sorgsam in ein sauberes Taschentuch gehüllt. Und ich habe ihren vorbildlichen Glauben sorgsam in mein Herz gehüllt.

Diese beiden bündnistreuen FHV-Schwestern verkörpern beispielhaft, was Alma meinte, als er vom Glauben sagte, „Glaube heißt nicht, dass man eine vollkommene Kenntnis von etwas hat; wenn ihr darum Glauben habt, so hofft ihr auf etwas, was man nicht sieht, was aber doch wahr ist“.2

Der Glaube ist der persönlichste Ausdruck dafür, wie sehr wir unseren Vater im Himmel und seinen einziggezeugten Sohn, Jesus Christus, lieben und uns ihnen fügen. Fest auf diesem ersten und wichtigsten Evangeliumsgrundsatz ruhend blicken wir vertrauensvoll zum Erretter auf, denn wir wissen, Jesus ist der „Urheber und Vollender des Glaubens“3.

Meine Urgroßtante, Laura Clark Phelps, war die Erste aus der Familie Clark, die sich der Kirche anschloss. Sie war eine Frau, die auf einzigartige Weise im Glauben an den Herrn fest stand und nicht zweifelte.4

Was Laura uns hinterlassen hat, sagt einiges über die Lehre aus, dass Glauben „Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht“5 bedeutet. Ihren Patriarchalischen Segen empfing sie von Joseph Smith sen. Darin hieß es, sie solle glaubenstreu sein und sie werde ein Erbe in Zion erhalten. Außerdem sollte sie Gott glaubensvoll anrufen, „und wenn du dies tust, soll dir alles gewährt werden, was dein Herz begehrt“6.

Laura und ihr Mann kannten den Propheten Joseph Smith. Einmal kamen der Prophet und sein Bruder, Hyrum, zu ihrer Farm gelaufen, die vor Far West in Missouri lag, wo Laura die beiden hinter dem Kleidervorhang versteckte. Gelassen trat sie den Anführern des Pöbels entgegen, der kurz danach auf der Suche nach dem Propheten hereinstürmte.

Laura erlebte die Freuden und Entbehrungen der ersten Mitglieder der Kirche in dieser Evangeliumszeit mit. Ihr Glaube wurde tiefer, als sie mehrfach aus ihrem Haus vertrieben und von ihrem Mann getrennt wurde. Als gute Hebamme war sie bei jedem Wetter Tag und Nacht unterwegs und arbeitete, um zum Lebensunterhalt ihrer Familie beizutragen. Überanstrengung und Entkräftung setzten ihr zu. Sie starb noch jung, mit 34 Jahren, und hinterließ ihren Mann und fünf Kinder. Sie konnte nicht mehr erleben, wie ihre Kinder, Enkel und Urenkel ihr im Glauben nachfolgten. Sie konnte die segensreiche Erfahrung nicht machen, noch hier auf Erden die eigene Begabung zu empfangen, und ich glaube, das hätte ihr viel bedeutet.

Lauras glaubenstreues Leben bezeugt folgenden Vers aus dem Hebräerbrief: „Voll Glauben sind diese alle gestorben, ohne das Verheißene erlangt zu haben; nur von fern haben sie es geschaut und gegrüßt und haben bekannt, dass sie Fremde und Gäste auf Erden sind.“7 Der Glaube lebte in Laura und Laura lebte ihren Glauben.

Ich liebe meine Urgroßtante Laura und trage ihr Beispiel im Herzen. Wie die FHV-Schwestern in Nigeria erinnert sie mich daran, dass „alles kann, wer glaubt“8.

Am Glauben, der geistigen Fähigkeit, von Verheißungen überzeugt zu sein, die man nur „von fern“ schaut, aber in diesem Leben nicht erreichen kann, lässt sich der wahre Gläubige gut erkennen. Elder Bruce R. McConkie bestätigte diese Wahrheit wie folgt: „Der Glaube in seiner vollkommensten und reinsten Form setzt die unerschütterliche Gewissheit und … das völlige Vertrauen darauf voraus, dass [Gott] unser Flehen erhört und unsere Bitten erfüllt“9, wenn die Zeit gekommen ist. Wenn wir dies glauben, können auch wir heute und in Zukunft „fest im Glauben“10 stehen.

Es kommt nicht darauf an, wo oder unter welchen Umständen wir im Einzelnen leben. Wir können täglich durch Rechtschaffenheit einen Glauben an Jesus Christus beweisen, der sich über die Sorgen, Enttäuschungen und unerfüllten Verheißungen des Erdendaseins erhebt. Es ist herrlich, wenn man einen Glauben hat, der einen befähigt, sich auf den Tag zu freuen, an dem sich alles erfüllt, was den Heiligen verheißen wurde.

Als die tapferen Schwestern in Nigeria mit „jedem Schritt im Glauben“ den staubigen Urwaldpfad in Westafrika entlanggingen, konnten sie nicht ahnen, dass sich eines Tages in ihrem eigenen Land die Mauern eines heiligen Tempels Gottes erheben würden. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass die inspirierten Worte eines weiteren Propheten Gottes, Präsident Gordon B. Hinckley, ihnen die verheißenen Segnungen, auf die sie gehofft und die sie von fern geschaut hatten, bringen sollten. Sie wussten lediglich, dass der Herr heute sein Evangelium wiederhergestellt hat, dass ihnen ein Zeugnis von diesem Evangelium im Herzen brannte und dass der Glaube ihnen den Weg erhellte. Darum hielten sie sich an den Rat des Propheten, würdig zu sein und einen Tempelschein zu haben.

Voller Zuneigung erinnerten mein Mann und ich uns an jenem denkwürdigen Tag im April 2000 dieser Schwestern und so vieler anderer Heiliger in Westafrika, als Präsident Gordon B. Hinckley sagte: „Wir hoffen, einen Tempel in Aba in Nigeria zu bauen.“11 Brüder und Schwestern, ich bezeuge, dass manchmal Wunder den Glauben bekräftigen. Die Tempel in Afrika verdeutlichen auf großartige Weise die Wunder, die der Glaube so vieler Mitglieder aus den über den riesigen Kontinent verteilten Dörfern und Städten bewirkt.

Ich bin sehr dankbar, dass ich sehen konnte, wie der Glaube zwei Pioniere in Afrika so viele Meilen zu einem Tempelscheininterview geführt hat. Ich bin glücklich, dass der Tempel, der in Nigeria gebaut wird, diesen Frauen, ihren Familien und weiteren Tausenden die Gelegenheit verschafft, ihren Tempelschein sowohl als Symbol als auch als Verwirklichung ihres Glaubens zu betrachten.

Manchmal liegen die Segnungen, die uns noch erwarten, jenseits dessen, was wir uns hier auf Erden vorstellen können. Ich bezeuge, dass es stets der Glaube ist, der es uns ermöglicht, dank geistiger Eingebung alles, was Gott für seine Kinder beabsichtigt, von fern schauen zu können.

So gewiss, wie es die Schwestern, die den staubigen Urwaldpfad entlanggingen, wussten, weiß ich, dass Gott lebt. Er liebt alle Menschen, auf jedem Kontinent, und er möchte jeden Einzelnen segnen. Ich weiß, dass unser Glaube an Jesus Christus uns täglich aufbauen kann, wenn wir „alles tun, was in unserer Macht liegt“ und mit „größter Zuversicht“12 wissen, dass die Verheißungen, die wir von fern sehen, uns eines Tages alle Segnungen bringen, auf die wir hoffen. Im Namen Jesu Christi. Amen .

  1. „Ein Volk, das gern in den Tempel geht“, Der Stern, Mai 1995, Seite 6

  2. Alma 32:21; Hervorhebung hinzugefügt

  3. Hebräer 12:2

  4. Siehe 1 Korinther 16:13; Jakobus 1:6

  5. Hebräer 11:1

  6. Morris Calvin Phelps, Life History of Laura Clark, Archiv der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, Mikrofilm, 3

  7. Hebräer 11:13

  8. Markus 9:23

  9. A New Witness for the Articles of Faith, 1985, Seite 187

  10. 1 Korinther 16:13

  11. „Eine Zeit, um neu anzufangen“, Liahona, Juli 2000, Seite 107

  12. LuB 123:17