2000–2009
Das Bessere wählen: Nächstenliebe
Oktober 2003


Das Bessere wählen: Nächstenliebe

Ich möchte Sie auffordern, einander nicht nur mehr Liebe entgegenzubringen, sondern dies auch intensiver zu tun.

Es ist herrlich, als Schwestern in der FHV, als Frauen des Bundes im wiederhergestellten Evangelium des Herrn zusammen zu sein. Jede von Ihnen wird – unabhängig von Alter, Lebenslage oder Umständen – in der FHV gebraucht, geschätzt und geliebt. Vielen Dank für das, was Sie sind, und für alles, was Sie tun.

In meinem Büro hängt ein wunderschönes Gemälde, auf dem Jesus mit Maria und Marta1 abgebildet ist. Es begrüßt mich jeden Tag und regt mich an, über die Herausforderungen nachzudenken, vor denen wir Frauen stehen. Schwester Hughes, Schwester Pingree und ich hatten das Gefühl, wir sollten die Begebenheit mit Maria und Marta als Leitgedanken für diese Versammlung verwenden. Der Herr hat gelehrt, dass nur eines notwendig ist, nämlich das Bessere zu wählen.2 Das Bessere wählen – darüber werden wir heute Abend sprechen.

Marta wohnte in dem kleinen Dorf Betanien, wo sie Jesus „freundlich auf[nahm]. Sie hatte eine Schwester, die Maria hieß. Maria setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seinen Worten zu.“3Beide Frauen liebten also den Herrn. Und „Jesus liebte Marta [und] ihre Schwester.“4 Der Umgang, den sie pflegten, war sogar ein Verstoß gegen die damaligen Sitten, denn Frauen durften sich für gewöhnlich nicht mit Männern über Religion unterhalten.

Einmal bereitete Marta das Essen vor, und in der Bibel heißt es, sie „war ganz davon in Anspruch genommen“.5 Mit anderen Worten: Sie war völlig gestresst.

Doch „Maria setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seinen Worten zu“6 und Marta wurde immer ärgerlicher, weil ihr niemand half. Kommt Ihnen das bekannt vor? Sie hat bestimmt gedacht: „Maria sitzt da, und ich gerate hier am Herd ins Schwitzen!“ Also fragte Marta Jesus: „Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester die ganze Arbeit mir allein überlässt? Sag ihr doch, sie soll mir helfen!“7

Vielleicht war Marta von der freundlichen Antwort des Herrn überrascht. „Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat das Bessere gewählt, das soll ihr nicht genommen werden.“8

Aus der Antwort des Herrn geht klar hervor, was am wichtigsten ist. An jenem Abend in Martas Haus war es besser, dem Herrn zu Füßen zu sitzen, als in der Küche zu stehen. Das Essen konnte warten.

So wie Maria sehne ich mich danach, beim Erretter zu sitzen, andererseits muss ich, so wie Marta, zusehen, dass ich den Fußboden in der Waschküche wieder sehe, alle meine Aufgaben erfülle und meinem Mann etwas anderes als kalte Pizza serviere. Ich habe 15 Enkelkinder, denen ich gern zuhören, deren tägliche Sorgen und Nöte ich gern erfahren würde – ich habe aber auch eine ziemlich anspruchsvolle Berufung in der Kirche! Ich habe nicht so viel Zeit. So wie Sie alle, muss ich mich entscheiden. Wir alle wollen „das Bessere“ wählen, das uns nicht genommen werden kann, wir wollen Ausgewogenheit zwischen den geistigen und den zeitlichen Belangen in unserem Leben. Wäre es nicht einfach, wenn wir zwischen dem Besuchslehren und einem Banküberfall wählen müssten? Leider sind unsere Entscheidungen oft viel schwieriger. Wir müssen aus vielen guten Dingen wählen.

Maria und Marta – das sind Sie und ich, sie stellen jede FHV-Schwester dar. Beide liebten den Herrn und wollten diese Liebe zeigen. Bei dieser Begebenheit sieht es für mich so aus, dass Maria ihre Liebe zeigte, indem sie seinen Worten lauschte, und Marta, indem sie ihm diente.

Marta fühlte sich im Recht und meinte, ihre Schwester müsse ihr helfen.

Ich glaube nicht, dass der Herr damit sagte, dass es „Martas“ und „Marias“ gibt. Jesus verurteilte Martas Mühen nicht, sondern lenkte ihre Aufmerksamkeit in eine andere Richtung, indem er ihr sagte, man solle „das Bessere“ wählen. Und was ist das? Der Prophet Lehi lehrte, wir sollen „zu dem hohen Mittler [aufblicken] und auf seine großen Gebote [hören] und … seinen Worten treu [sein] und das ewige Leben [wählen], gemäß dem Willen seines Heiligen Geistes“9.

Wir müssen uns für das ewige Leben entscheiden. Wir treffen jeden Tag Entscheidungen. Wenn wir den Herrn suchen, auf ihn hören und ihm folgen, sind wir umfangen von den Armen seiner Liebe – seiner reinen Liebe.

Mormon erklärt uns: „Nächstenliebe ist die reine Christusliebe, und sie dauert für immer fort.“10 Die reine Christusliebe. Schauen wir uns das doch einmal an. Was bedeutet dieser Ausdruck? Einen Hinweis finden wir in Josua: „Achtet aber genau darauf, … den Herrn, euren Gott, zu lieben, … und ihm von ganzem Herzen und ganzer Seele zu dienen.“11 Nächstenliebe ist unsere Liebe zum Herrn, die sich im Dienen, in Geduld, in Mitgefühl und Verständnis füreinander zeigt.

Eine weitere Erklärung der reinen Christusliebe finden wir in Ether: „[Jesus hat] die Welt geliebt, ja, sodass [er sein] Leben für die Welt niedergelegt [hat], um es wieder aufzunehmen, um für die Menschenkinder eine Stätte zu bereiten. Und nun weiß ich, dass diese Liebe, die [er] für die Menschenkinder gehabt [hat], Nächstenliebe ist.12 Nächstenliebe ist also auch die Liebe des Herrn zu uns, die sich in seinem Dienen, seiner Geduld, seinem Mitgefühl und Verständnis zeigt.

Die „reine Christusliebe“13 umfasst somit nicht nur unsere Liebe zum Erretter, sondern auch seine Liebe zu uns.

Die Begebenheit mit Maria und Marta weist auch darauf hin, worunter Nächstenliebe leiden kann. In Martas Bitte um Hilfe schwingt ein unausgesprochenes, aber klares Urteil mit: „Ich habe Recht, sie hat Unrecht.“

Richten wir einander? Kritisieren wir einander wegen der Entscheidungen, die wir treffen, meinen wir, wir wüssten es besser, obwohl wir kaum die Situation des anderen kennen oder kaum wissen, welche Eingebungen er hatte? Haben wir schon einmal gesagt: „Sie arbeitet, anstatt zu Hause zu bleiben“ oder „Ihr Sohn war nicht auf Mission“ oder „Sie ist zu alt für eine Berufung“ oder „Sie kann das nicht – sie ist alleinstehend“? Solche und ähnliche Verurteilungen berauben uns des „Besseren“, der reinen Christusliebe.

Wir verlieren dieses „Bessere“ auch aus den Augen, wenn wir uns mit anderen vergleichen. Ihr Haar ist schöner, meine Beine sind dicker, ihre Kinder sind begabter, ihr Garten bringt mehr Ertrag … Sie wissen schon, Schwestern. Das dürfen wir einfach nicht tun. Wir können es uns nicht erlauben, uns unzulänglich zu fühlen, weil wir darauf achten, wer wir nicht sind, statt darauf, wer wir sind! Wir sind alle Schwestern in der FHV. Es ist einfach nicht möglich zu kritisieren, zu klatschen oder zu verurteilen und gleichzeitig die reine Christusliebe zu behalten. Hören Sie nicht die liebevolle Zurechtweisung des Herrn: „Marta, Marta …“?

Elder Marvin J. Ashton hat dies sehr schön ausgedrückt: „Nächstenliebe in ihrer höchsten Form legen wir vielleicht dann an den Tag, wenn wir einander mit Güte begegnen, wenn wir unsere Mitmenschen nicht verurteilen oder sie mit einem Etikett belegen, wenn wir nachgiebig sind oder still bleiben. Nächstenliebe bedeutet, dass man das Anderssein und die Schwächen der anderen akzeptiert, dass man geduldig bleibt, auch wenn man enttäuscht worden ist, dass man nicht gleich beleidigt ist, wenn jemand etwas anders anpackt, als wir gehofft haben. Nächstenliebe bedeutet, dass man die Schwäche eines anderen nicht ausnützt und dass man bereit ist, jemandem, der einen verletzt hat, zu verzeihen. Nächstenliebe bedeutet, dass wir voneinander das Beste erwarten.“14

Wenn wir Nächstenliebe üben, erfahren wir, was in einer Schwester vorgeht. Wenn wir wissen, was in ihr vorgeht, sind wir anders. Wir verurteilen sie nicht. Wir lieben sie ganz einfach. Ich möchte Sie auffordern, einander nicht nur mehr Liebe entgegenzubringen, sondern dies auch intensiver zu tun.Wenn wir das tun, erleben wir selbst, dass „die Nächstenliebe [nie] vergeht“15.

Wenn ich unter Stress stehe oder Sorgen habe, verlässt mich, so wie es auch bei Marta zu sein schien, mit als Erstes die Nächstenliebe. Ist das bei Ihnen auch so?

Ich habe gelernt, dass ich Nächstenliebe am besten wieder erlange, wenn ich mich von dem Druck befreie und den Herrn liebe und ihm diene. Wie macht man das? Wir beginnen jeden Tag, indem wir uns niederknien und zu unserem Vater im Himmel beten. Wir hören seine Worte beim täglichen Schriftstudium und wir folgen der Weisung, die wir erhalten. Wenn wir Christus an die erste Stelle rücken, haben wir auch Nächstenliebe. „Wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.“16 Dies ist die Wechselwirkung der Nächstenliebe. Schwestern, die Nächstenliebe vergeht nie.

Als ich diese Berufung erhielt, wünschte ich mir von ganzem Herzen, genügend Nächstenliebe besitzen zu können, um jede einzelne Schwester in der Kirche aufrichtig zu lieben, und dass meine größere Liebe Ihnen helfen möge, die Liebe des Herrn zu Ihnen zu spüren. Ich betete „mit der ganzen Kraft [meines] Herzens zum Vater, dass [ich] von dieser Liebe erfüllt [werde], die er allen denen verleiht, die wahre Nachfolger seines Sohnes Jesus Christus sind.“17

Letztes Jahr im Dezember regte uns der Sonntagsschullehrer an, dass wir zur Zeit der Zehntenerklärung dem Herrn auch persönlich Rechenschaft ablegen, inwiefern wir die Schriften studieren und einen Grundsatz des Evangeliums befolgen. Ich hatte das ganz starke Gefühl, dass ich mich beim Schriftstudium auf das Thema Nächstenliebe konzentrieren sollte. Diese Eingebung wurde in der Abendmahlsversammlung bestätigt und ich wusste, dass ich eine Weisung vom Herrn empfangen hatte.

Ich habe viele von Ihnen kennen gelernt und eine überwältigende Liebe zu Ihnen und zu dem Guten in Ihnen gespürt. Ihre Unterstützung hat mich demütig gestimmt. Mein Wunsch, Ihnen zu dienen, ist noch stärker geworden. So äußert sich Nächstenliebe, so wurden meine Gebete beantwortet. Dies waren einige der schönsten Augenblicke, die ich mit dieser Berufung erlebt habe. Offenbar habe ich Fortschritte gemacht, denn einige meiner Kinder haben mich gefragt, warum ich in letzter Zeit so lieb war. Dieses Jahr im Dezember kann ich meinem Vater im Himmel Rechenschaft über meine Bemühungen ablegen, Nächstenliebe zu verstehen und auszuüben.

So wie Maria und Marta wird der Herr auch uns „das Bessere“ zeigen, das uns nicht genommen werden wird. Er wird uns Nächstenliebe erweisen, die reine Christusliebe, denn die Nächstenliebe vergeht nie.

Liebe Schwestern, eines ist notwendig: Wir müssen ihm jeden Tag folgen. Entscheiden wir uns also für Christus, den Herrn. Entscheiden wir uns, uns an seinem Wort zu laben. Entscheiden wir uns, ihm zu vertrauen. Entscheiden wir uns, auf seine Liebe zu hoffen. Entscheiden wir uns, ihm unser ganzes Herz zu weihen. Wählen wir also „das Bessere“.

Darum bete ich im Namen Jesu Christi. Amen.

  1. Mary Heard His Word, von Walter Rane, mit freundlicher Genehmigung des Museums für Kunst und Geschichte der Kirche

  2. Siehe Lukas 10:42

  3. Lukas 10:38,39

  4. Johannes 11:5

  5. Lukas 10:40

  6. Lukas 10:39

  7. Lukas 10:40

  8. Lukas 10:41,42

  9. 2 Nephi 2:28

  10. Moroni 7:47

  11. Josua 22:5; Hervorhebung hinzugefügt

  12. Ether 12:33,34; Hervorhebung hinzugefügt

  13. Moroni 7:47

  14. „Die Zunge kann ein scharfes Schwert sein“, Der Stern, Juli 1992, Seite 17f.

  15. Moroni 7:46

  16. 1 Johannes 4:19

  17. Moroni 7:48; Hervorhebung hinzugefügt