2000–2009
Lasst uns mutig sein!
April 2004


Lasst uns mutig sein!

Haben wir doch den Mut, der Allgemeinheit zu trotzen und für Grundsätze einzutreten. Mut, nicht Konformität, findet die Zustimmung Gottes.

Brüder, Sie sind ein inspirierender Anblick. Es stimmt mich ehrfürchtig, wenn ich bedenke, dass zu dieser Stunde weltweit in tausenden Gemeindehäusern unsere Brüder im Priestertum Gottes diese Versammlung via Satellit verfolgen. Wir gehören verschiedenen Völkern an und sprechen unterschiedliche Sprachen, doch eines haben wir alle gemeinsam: Uns wurde das Priestertum anvertraut und wir dürfen im Namen Gottes handeln. In uns wird ein heiliges Vertrauen gesetzt. Von uns wird viel erwartet.

Vor langer Zeit schrieb der bekannte Schriftsteller Charles Dickens darüber, was uns erwarten kann. In seinem Klassiker Große Erwartungen erzählt er von einem Jungen namens Philip Pirrip, besser bekannt als „Pip“. Pip kam unter ungewöhnlichen Umständen zur Welt. Er war ein Waisenkind. Er wünschte sich von ganzem Herzen, er wäre ein Gelehrter und ein Gentleman. Doch alle seine Ziele und Hoffnungen schienen zum Scheitern verurteilt zu sein. Habt ihr jungen Männer manchmal auch dieses Gefühl? Geht es den Älteren unter uns genauso?

Dann setzt sich aber eines Tages ein Londoner Advokat namens Jagger mit Pip in Verbindung und teilt ihm mit, dass ein anonymer Wohltäter ihm ein Vermögen hinterlassen habe. Der Advokat legt Pip den Arm um die Schultern und sagt: „Mein Junge, dich erwartet eine große Zukunft.“

Wenn ich heute Abend euch junge Männer betrachte und mir vor Augen halte, wer ihr seid und was aus euch werden kann, muss ich sagen: „Euch erwartet eine große Zukunft!“ Und das nicht, weil ihr einen anonymen Wohltäter habt, sondern einen, den ihr kennt, nämlich den Himmlischen Vater. Allerdings wird auch von euch Großes erwartet.

Das Leben ist keine Reise auf einer Autobahn ohne Hindernisse, Fallgruben oder Schlingen, sondern ein Pfad mit vielen Gabelungen und Biegungen. Ständig müssen wir Entscheidungen treffen. Kluge Entscheidungen erfordern Mut – den Mut, Nein zu sagen, den Mut, Ja zu sagen. Unsere Entscheidungen bestimmen unser Schicksal.

Immer wieder wird von uns allen Mut gefordert. So ist es immer schon gewesen, und so wird es bleiben.

Ein junger Infanterist in der grauen Uniform der Konföderierten berichtete über den Mut eines militärischen Führers im amerikanischen Bürgerkrieg. Er beschrieb den Einfluss von General J. E. B. Stuart mit folgenden Worten:

„Im entscheidenden Moment der Schlacht deutete er mit der Hand in Richtung des Feindes und rief: ‚Vorwärts, Männer! Vorwärts! Einfach mir nach!‘ …

Mutig und entschlossen folgten ihm die Soldaten, unaufhaltsam wie ein reißender Strom. Sie nahmen das Angriffsziel ein und hielten es.“1

Lange davor sprach in einem weit entfernten Land ein anderer Führer die Aufforderung aus: „Folgt mir nach!“2 Er war kein Kriegsherr, nein, sondern der Friedensfürst, der Sohn Gottes. Diejenigen, die ihm damals nachfolgten, und jene, die ihm heute folgen, erringen einen viel größeren Sieg, der sich auf die Ewigkeit auswirkt. Wir müssen ständig mutig sein.

Den Beweis für diese Wahrheit finden wir in den heiligen Schriften. Josef, der Sohn Jakobs, der nach Ägypten verkauft wurde, bewies Mut und Entschlossenheit, als er zu Potifars Frau, die ihn verführen wollte, sagte: „Wie könnte ich … ein so großes Unrecht begehen und gegen Gott sündigen? [Er hörte] nicht auf sie … und lief hinaus.“3

In unserer Zeit hat ein Vater dieses Beispiel für Mut auf seine Kinder umgemünzt und sie aufgefordert: „Wenn ihr je in eine Situation geratet, in der ihr nicht sein solltet – lauft davon!“

Wer ließe sich nicht von den zweitausend jungen Söhnen Helamans inspirieren, die gezeigt haben, dass man Mut braucht, das zu tun, was die Eltern einem beigebracht haben, und Mut, um keusch und rein zu sein?4

Das krönende Beispiel ist vielleicht Moroni, der den Mut hatte, rechtschaffen bis ans Ende auszuharren.5

Mose stärkte sein Volk mit folgenden Worten: „Empfangt Macht und Stärke: Fürchtet euch nicht, und weicht nicht erschreckt zurück …; denn der Herr, dein Gott, zieht mit dir. Er lässt dich nicht fallen und verlässt dich nicht.“6 Er hat sie nicht fallen lassen, und er wird auch uns nicht fallen lassen. Er hat sie nicht verlassen, und er wird auch uns nicht verlassen.

Von dieser herrlichen Gewissheit können wir uns alle leiten lassen – in unserer Zeit, in unserem Leben. Natürlich werden wir auch mit Furcht, Hohn und Widerstand konfrontiert. Haben wir doch den Mut, der Allgemeinheit zu trotzen und für Grundsätze einzutreten. Mut, nicht Konformität, findet die Zustimmung Gottes. Mut wird zu einer echten und anziehenden Tugend, wenn er sich nicht in der Bereitschaft erschöpft, wie ein Mann zu sterben, sondern sich auch in der Entschlossenheit zeigt, anständig zu leben. Jemand, der sich fürchtet, das zu tun, was er für richtig hält, weil andere anderer Meinung sind oder ihn auslachen, ist moralisch ein Feigling. Vergessen Sie nicht: Jeder Mensch hat Ängste. Wer sich aber seinen Ängsten mit Würde stellt, beweist auch seinen Mut.

Ich möchte Ihnen aus meinem Erfahrungsschatz ein Beispiel für Mut erzählen. Es stammt aus meiner Militärzeit.

Als ich in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs in die US-Marine eintrat, stand ich vor einer Herausforderung. Ich erfuhr von tapferen und wagemutigen Taten und hörte viele Beispiele für Mut. Mit am besten ist mir die Geschichte vom Mut eines achtzehnjährigen Matrosen – er war kein Mitglied der Kirche –, haften geblieben, der nicht zu stolz war, zu beten. Von den 250 Männern in seiner Kompanie war er der einzige, der sich jeden Abend neben seiner Koje niederkniete und mit gesenktem Haupt, manchmal unter dem Gespött der Neugierigen und dem Gelächter der Ungläubigen, zu Gott betete. Er ließ sich nicht beirren und er ließ niemals nach. Er hatte Mut.

Mir gefallen die folgenden Worte der Dichterin Ella Wheeler Wilcox:

Wie leicht es doch ist, fröhlich zu sein,

wenn das Leben sanft wie ein Lied verläuft,

doch Sieger ist der, der noch lächeln kann,

wenn ein Problem sich aufs andere häuft.7

Diese Beschreibung trifft auf Paul Tingey zu. Vor einem Monat nahm ich hier in Salt Lake City an seiner Beisetzung teil. Paul ist in einer guten Familie, die der Kirche angehörte, aufgewachsen und hat ehrenvoll eine Mission in Deutschland erfüllt. Elder Bruce D. Porter vom Ersten Kollegium der Siebziger war auf Mission sein Mitarbeiter. Elder Porter beschrieb Elder Tingey als einen der engagiertesten und erfolgreichsten Missionare, die er je kannte.

Nachdem Elder Tingey von Mission nach Hause gekommen war, schloss er ein Universitätsstudium ab, heiratete seine Liebste und zog mit ihr Kinder auf. Er diente als Bischof und war auch beruflich erfolgreich.

Dann traten ohne jede Warnung die Symptome einer gefürchteten Krankheit in seinem Nervensystem auf. Er bekam Multiple Sklerose. Paul Tingey bäumte sich tapfer gegen die Krankheit auf, musste aber schließlich den Rest seiner Tage in einem Pflegeheim zubringen. Dort tröstete er die Trauernden und erfreute alle Leute.8 Immer, wenn ich dort die Versammlungen der Kirche besuchte, munterte Paul mich und die anderen auf.

Als 2002 die Olympischen Spiele in Salt Lake City stattfanden, wurde Paul ausgewählt, die Olympische Fackel über eine bestimmte Strecke zu tragen. Als dies in dem Pflegeheim bekannt gegeben wurde, brachen die versammelten Patienten begeistert in Beifall aus, der auf allen Gängen zu vernehmen war. Ich gratulierte Paul, und er sagte mit großer Mühe: „Ich hoffe, ich lasse die Fackel nicht fallen.“

Brüder, Paul Tingey hat die Olympische Fackel nicht fallen lassen. Mehr noch, er trug die Fackel, die ihm im Leben gereicht wurde, wacker bis zum Tag seines Todes.

Ein Gespür für Geistiges, Glaube, Entschlossenheit, Mut – Paul Tingey besaß dies alles.

Jemand hat einmal gesagt, Mut bedeute nicht, dass man keine Angst hat, sondern dass man sie meistert.9 Manchmal braucht man Mut, um es nach einem Fehlschlag noch einmal zu versuchen.

Als Teenager habe ich einmal an einem von der Kirche veranstalteten Basketballspiel teilgenommen. Als der Ausgang des Spiels noch offen war, schickte mich der Trainer gleich zu Beginn der zweiten Halbzeit ins Spiel. Ich nahm einen Einwurf an, dribbelte mit dem Ball bis kurz vor den Korb und warf. Als der Ball meine Fingerspitzen verließ, wurde mir klar, warum die gegnerische Abwehr nicht versucht hatte, mich aufzuhalten: Ich warf auf den eigenen Korb! Ich sprach ein stilles Gebet: „Vater, bitte, lass den Ball danebengehen.“ Der Ball prallte gegen den Ring des Korbs und fiel nach unten.

Von den Rängen tönte es: „Wir wollen Monson, wir wollen Monson, wir wollen Monson – draußen!“ Der Trainer gehorchte.

Jahre danach besichtigte ich als Mitglied des Kollegiums der Zwölf Apostel zusammen mit anderen Generalautoritäten ein gerade fertig gestelltes Gemeindehaus, wo in der Sporthalle ein neuer, engmaschiger Teppich getestet werden sollte.

Wir begutachteten gerade den Fußboden, als Bischof J. Richard Clarke, der damals in der Präsidierenden Bischofschaft war, mir plötzlich einen Basketball zuwarf und mich herausforderte: „Ich glaube nicht, dass Sie von dort, wo Sie jetzt stehen, den Korb treffen.“

Ich befand mich noch ein Stück vor der heute als Drei-Punkte-Zone bekannten Linie. Ich hatte noch nie im Leben einen Korb aus so einer Entfernung geworfen. Elder Mark E. Petersen von den Zwölf rief den anderen zu: „Ich glaube, das s chafft er!“

Meine Gedanken kehrten zu dem Missgeschick zurück, bei dem ich auf den falschen Korb geworfen hatte. Ich nahm dennoch Maß und warf. Der Ball rutschte durchs Netz.

Bischof Clarke warf mir den Ball noch einmal zu und meinte: „Ich bin sicher, dass Sie das kein zweites Mal schaffen.“

Elder Peterson konterte: „Natürlich schafft er das noch einmal!“

Die Worte eines Dichters klangen mir im Herzen wider: „O du, der du alle Menschen hast geformt, führe uns, o führ uns doch, aus der Finsternis zum nächsten Versuch.“10 Ich warf erneut. Der Ball flog in Richtung Korb und fiel mitten hindurch.

Damit war unsere Gemeindehausbesichtigung zu Ende.

Beim Mittagessen sagte Elder Petersen zu mir: „Wissen Sie, damit hätten Sie in der Nationalliga auftreten können.“

Wir denken nicht mehr an unseren Erfolg oder Misserfolg im Basketball, wenn wir uns unsere Pflichten als Träger des Priestertums Gottes – des Aaronischen wie auch des Melchisedekischen Priestertums – vor Augen halten. Wir haben die heilige Pflicht, uns bereitzumachen, indem wir die Gebote des Herrn halten und „Ja“ sagen, wenn er uns zu seinem Dienst beruft.

Wir, die wir zum Priestertum Gottes ordiniert worden sind, können etwas bewirken. Wenn wir uns der Hilfe des Herrn würdig erweisen, können wir Jungen aufbauen. Wir können Männer formen. Wir können in seinem heiligen Dienst Wunder vollbringen. Unsere Möglichkeiten sind unbegrenzt.

Auch wenn die Aufgabe gewaltig zu sein scheint, finden wir Kraft in der folgenden Wahrheit: „Die größte Kraft in der heutigen Welt liegt in der Macht Gottes, wenn sie durch den Menschen wirkt.“ Wenn wir im Auftrag des Herrn handeln, haben wir auch ein Anrecht auf seine Hilfe. Diese göttliche Hilfe beruht jedoch auf unserer Würdigkeit. Um die See des Erdenlebens sicher zu überqueren, um eine Mission zur Rettung von Menschen ausführen zu können, brauchen wir die Führung des ewigen Seemanns – ja, des großen Jahwe. Wir blicken nach oben und strecken die Hand empor, um die Hilfe Gottes zu erhalten.

Sind unsere emporgestreckten Hände sauber? Ist unser sehnendes Herz rein? Wenn wir einen Blick zurück in die Geschichte werfen, so können wir vom sterbenden König Darius eine Lektion in Bezug auf Würdigkeit lernen. Darius war nach einem ordentlichen Verfahren als rechtmäßiger König Ägyptens anerkannt worden. Sein Rivale, Alexander der Große, war zum legitimen Sohns Amons ausgerufen worden. Auch er war Pharao. Alexander, der den geschlagenen Darius sterbend vorfand, legte ihm zur Heilung die Hände auf und gebot ihm, sich zu erheben und sein Königtum wieder an sich zu nehmen. Er schloss mit den Worten: „Ich schwöre dir, Darius, bei allen Göttern, dass ich dies wahrhaftig und ohne Falsch tue.“ Darius erwiderte mit einem sanften Tadel: „Alexander, mein Junge, … meinst du, du könntest den Himmel mit Händen wie deinen berühren?“11

Brüder, wenn wir unsere Pflicht lernen und unsere Berufungen groß machen, wird der Herr uns in unseren Bemühungen führen und das Herz der Menschen berühren, denen wir dienen.

Vor vielen Jahren blutete mir jedes Mal das Herz, wenn ich Mattie, eine ältere Witwe, die ich seit Jahren kannte und deren Bischof ich gewesen war, besuchte und ihre Einsamkeit sah. Ein Sohn, den sie sehr lieb hatte, wohnte viele Kilometer entfernt und hatte seine Mutter schon jahrelang nicht mehr besucht. Mattie verbrachte lange, einsame Stunden damit, aus dem Fenster zu schauen. Hinter einer ausgefransten und oft zur Seite geschobenen Gardine sagte sich die enttäuschte Mutter immer wieder: „Dick kommt noch, Dick kommt noch.“

Aber Dick kam nicht. Ein Jahr ums andere verging. Dann kam ein Lichtblick: Dick, einer meiner früheren Träger des Aaronischen Priestertums, der fern von seiner Mutter in Houston in Texas wohnte, wurde wieder in der Kirche aktiv. Er kam nach Salt Lake City, um mich zu besuchen. Als er ankam, rief er mich ganz begeistert an und erzählte mir, wie er sein Leben geändert hatte. Er fragte, ob ich Zeit für ihn hätte, wenn er gleich in mein Büro käme. Ich bejahte dies erfreut, stellte aber auch eine Bedingung: „Dick, besuche zuerst deine Mutter und komm danach zu mir.“ Er kam meiner Bitte gern nach.

Noch bevor er es zu mir ins Büro schaffte, rief mich Mattie, seine Mutter, an. Mit von Freudentränen erstickter Stimme sagte sie: „Bischof, ich habe gewusst, dass Dick kommt. Ich habe es Ihnen ja gesagt. Ich habe ihn vom Fenster aus gesehen.“

Nur wenige Jahre später unterhielt ich mich bei Matties Beerdigung mit Dick über dieses Erlebnis. Wir hatten durch das Fenster des Glaubens einer Mutter an ihren Sohn einen Blick auf Gottes heilende Macht werfen dürfen.

Die Zeit vergeht. Die Pflicht hält Schritt. Unsere Aufgaben werden weder weniger noch unbedeutender. Katastrophale Konflikte kommen und gehen, doch der Kampf um die Seele der Menschen tobt unvermindert weiter. Einem Schlachtruf gleich ergeht das Wort des Herrn an Sie und an mich, an die Träger des Priestertums überall: „Darum lasst einen jeden seine Pflicht lernen und mit allem Eifer das Amt ausüben, zu dem er bestimmt worden ist.“12

Mögen wir alle den Mut dazu haben. Darum bete ich im Namen Jesu Christi. Amen.

  1. Zitiert in Emory M. Thomas, Bold Dragoon: The Life of J. E. B. Stuart, 1986, Seite 211f.

  2. Matthäus 4:19

  3. Genesis 39:9,10,12

  4. Siehe Alma 56

  5. Siehe Moroni 1 bis 10

  6. Deuteronomium 31:6

  7. „Worth While“, The Best Loved Poems of the American People, Hg. Hazel Fellemann, 1936, Seite 144

  8. Siehe „Hab ich Gutes am heutigen Tag getan?“, Gesangbuch, Nr. 150

  9. Siehe Mark Twain, in Gorton Carruth und Eugene Ehrlich, Hg., The Harper Book of American Quotations, 1988, Seite 111

  10. Aus der Schulhymne der Yonkers High School

  11. Nach Hugh Nibley, Abraham in Egypt, 1981, Seite 192

  12. LuB 107:99