Niemand war bei ihm
Laut erschallt von Golgotas Gipfel die Wahrheit, dass wir niemals allein oder ohne Hilfe gelassen werden, auch wenn es uns manchmal so vorkommen mag.
Danke, Schwester Thompson, und ein Dankeschön den bemerkenswerten Frauen dieser Kirche. Brüder und Schwestern, die Osterbotschaft, die ich heute überbringe, ist für jeden bestimmt, in besonderer Weise aber an diejenigen gerichtet, die allein sind oder sich allein – oder schlimmer noch – verlassen fühlen. Dazu gehören diejenigen, die sich danach sehnen, verheiratet zu sein, diejenigen, die einen Ehepartner verloren haben, und diejenigen, die Kinder verloren haben oder nie mit welchen gesegnet waren. Wir fühlen mit den Ehefrauen, die von ihrem Mann verlassen wurden, Ehemännern, deren Frau fortgegangen ist, Kindern, die Vater oder Mutter – oder beide – verloren haben. Zu dieser weit gefassten Gruppe kann auch ein Soldat zählen, der fern der Heimat ist, ein Missionar, der in den ersten Wochen unter Heimweh leidet, oder ein arbeitsloser Vater, der fürchtet, dass seine Familie die Angst in seinen Augen sieht. Kurz gesagt kann sich jeder von uns ab und an darin wiederfinden.
All diesen Menschen möchte ich von der einsamsten Reise berichten, die jemals unternommen wurde, und von den endlosen Segnungen, die sie der gesamten Menschheit einbrachte. Ich spreche von der einsamen Aufgabe des Heilands, die Bürde unserer Errettung ganz allein zu tragen. Er selbst hat zutreffend gesagt: „Ich allein trat die Kelter; von den Völkern war niemand dabei. … Ich sah mich um, doch niemand wollte mir helfen; ich war bestürzt, weil keiner mir beistand.“1
Wie Präsident Uchtdorf bereits so anschaulich erklärt hat, wissen wir aus den heiligen Schriften, dass die messianische Ankunft Jesu in Jerusalem am Sonntag vor dem Paschafest – also genau am heutigen Tag vor all diesen Jahren – ein großer, publikumswirksamer Augenblick war. Aber das Verlangen, an seiner Seite zu sein, ließ schon bald nach.
Es dauerte nicht lang, da führte man Jesus den Mächtigen der Israeliten jener Tage vor – zunächst Hannas, dem ehemaligen Hohepriester, dann Kajaphas, dem amtierenden Hohepriester. In ihrer Hast, ein Urteil zu fällen, verkündeten diese Männer und ihre Räte ihren Richterspruch schnell und zornig. „Wozu brauchen wir noch Zeugen?“, riefen sie. „Er ist … des Todes würdig.“2
Damit wurde er vor die Fremdherrscher im Land gebracht. Herodes Antipas, der Tetrarch von Galiläa, verhörte ihn einmal, und Pontius Pilatus, der römische Statthalter in Judäa, zweimal, wobei er beim zweiten Mal der Menge verkündete: „Ich selbst habe ihn in eurer Gegenwart verhört und habe keine der Anklagen […] bestätigt gefunden.“3 Dann gab Pilatus „den Befehl, Jesus zu geißeln und zu kreuzigen“4, eine Tat, die ebenso skrupellos wie unlogisch war. Pilatus’ frisch gewaschene Hände hätten gar nicht befleckter und unreiner sein können.
Diese religiöse und politische Ablehnung nahm eine persönliche Dimension an, als sich auch die Menschen auf der Straße gegen Jesus wandten. Gemeinsam mit Jesus – und das ist eine Ironie des Schicksals – saß ein echter Gotteslästerer im Gefängnis, ein Mörder und Revolutionär, bekannt als Barabbas. Dieser Name oder Titel bedeutet auf Aramäisch „Sohn des Vaters“5. Da es zum Paschafest die Tradition gab, einen Gefangenen freizulassen, fragte Pilatus die Leute: „Wen von beiden soll ich freilassen?“ Sie riefen: „Barabbas!“6 Und so wurde ein gottloser „Sohn des Vaters“ freigelassen, wohingegen ein wahrhaft göttlicher Sohn des himmlischen Vaters zur Kreuzigung geschickt wurde.
Diese Zeit stellte aber auch diejenigen auf die Probe, die Jesus besser kannten. Am schwersten zu verstehen aus dieser Gruppe ist Judas Iskariot. Wir wissen, dass der göttliche Plan erforderte, dass Jesus gekreuzigt wurde, aber es zerreißt einen zu denken, dass einer seiner besonderen Zeugen – der zu seinen Füßen saß, ihn beten hörte, sah, wie er andere heilte, und seinen Einfluss spürte – ihn und alles, was er war, verraten konnte; und das für 30 Silberstücke. Niemals in der Weltgeschichte hat man mit so wenig Geld so viel Schande erworben. Wir sind nicht die Richter, die über das Schicksal des Judas bestimmen, aber Jesus sagte über seinen Verräter: „Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre.“7
Natürlich hatten auch andere unter den Gläubigen schwierige Momente. Nach dem letzten Abendmahl bat Jesus die Jünger Petrus, Jakobus und Johannes, auf ihn zu warten, während er sich allein in den Garten Getsemani begab. Er warf sich zu Boden und betete „zu Tode betrübt“8, und – so steht es geschrieben – sein Schweiß war wie Blut9, als er den Vater anflehte, diesen erdrückenden, grausamen Kelch an ihm vorübergehen zu lassen. Aber natürlich konnte der Kelch nicht vorübergehen. Als er nach diesem schmerzlichen Gebet zurückkehrte, fand er seine drei obersten Apostel schlafend vor, worauf er sie fragte: „Konntet ihr nicht einmal eine Stunde mit mir wachen?“10 Dies geschah noch zweimal, bis er bei seiner dritten Rückkehr mitfühlend sagte, sie sollten jetzt weiterschlafen und sich ausruhen.11 Für ihn jedoch sollte es keine Ruhe geben.
Später, nach Jesu Festnahme und Erscheinen vor Gericht, leugnete Petrus, als er beschuldigt wurde, Jesus zu kennen und einer seiner Vertrauten zu sein, dies nicht nur ein-, sondern dreimal. Wir wissen nicht alles, was dort geschah, und wir wissen auch nicht, welchen Rat der Heiland seinen Aposteln unter vier Augen zu ihrem Schutz gegeben haben mag,12 aber wir wissen, dass Jesus klar war, dass nicht einmal diese Getreuen am Ende zu ihm stehen würden, und er hatte Petrus entsprechend gewarnt.13 Dann, als der Hahn krähte, „wandte sich der Herr um und blickte Petrus an. Und Petrus erinnerte sich an das, was der Herr zu ihm gesagt hatte … Und er ging hinaus und weinte bitterlich.“14
Wie es erforderlich war, um die Absichten Gottes zu erfüllen, wurde somit der Kreis derer, die Jesus beistanden, immer kleiner. Dies verleiht den Worten des Matthäus Bedeutung: „Alle Jünger [verließen ihn] und flohen.“15 Petrus blieb nahe genug, dass man ihn wiedererkannte und ihn befragte. Johannes stand mit der Mutter Jesu unten am Kreuz. Insbesondere blieben – wie immer – die gesegneten Frauen im Leben des Erlösers so nahe bei ihm, wie sie konnten. Aber im Wesentlichen setzte er seine einsame Reise zurück zu seinem Vater ohne Trost oder Begleitung fort.
Und nun spreche ich mit großer Vorsicht, ja, mit Ehrfurcht, von dem wahrscheinlich schwersten Augenblick auf diesem einsamen Weg zur Sühne. Ich spreche von den letzten Augenblicken, auf die Jesus verstandesmäßig und körperlich gewiss vorbereitet war, die er aber gefühlsmäßig und geistig vielleicht nicht in ihrer gesamten Tragweite vorausgeahnt hatte – jenem abschließenden Abstieg in die lähmende Verzweiflung, dass sich nun auch Gott zurückgezogen hat, als er in Einsamkeit, wie sie größer nicht sein kann, ausrief: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“16
Den Verlust an weltlicher Unterstützung hatte er kommen sehen, aber dies war ihm offenbar nicht in vollem Umfang klar gewesen. Hatte er nicht zu seinen Jüngern gesagt: „Die Stunde … ist schon da, in der ihr versprengt werdet, jeder in sein Haus, und mich werdet ihr allein lassen. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir.“ Und: „[Der Vater] hat mich nicht allein gelassen, weil ich immer das tue, was ihm gefällt.“17
Mit der ganzen Überzeugung meiner Seele bezeuge ich, dass er wirklich in Vollkommenheit das getan hat, was seinem Vater gefiel, und dass der vollkommene Vater seinen Sohn in jener Stunde nicht verlassen hat. Ja, ich bin sogar davon überzeugt, dass im gesamten irdischen Wirken Christi der Vater seinem Sohn wohl niemals näher war als in diesen qualvollen letzten Augenblicken voller Leid. Doch damit sein Sohn das höchste Opfer gleichermaßen umfassend wie auch aus freien Stücken und ganz allein vollbringen konnte, entzog der Vater Jesus kurz den Trost seines Geistes – die Unterstützung, die seine Gegenwart ihm bot. Damit das Sühnopfer den ihm gebührenden Stellenwert erhalten konnte, war es erforderlich, ja, sogar entscheidend, dass dieser vollkommene Sohn, der niemals ein schlechtes Wort verloren noch falsch gehandelt oder etwas Unreines berührt hatte, wusste, wie sich der Rest der Menschheit – ja, ein jeder von uns – fühlt, wenn man solche Sünden begeht. Damit sein Sühnopfer unbegrenzt und ewig sein konnte, musste er erfahren, wie es ist, wenn man nicht nur körperlich, sondern auch geistig stirbt, musste er spüren, wie es ist, wenn sich der Geist Gottes zurückzieht und man sich vollständig, erbärmlich und hoffnungslos allein fühlt.
Aber Jesus hielt durch. Er strebte vorwärts. Die Güte in ihm ließ den Glauben triumphieren, sogar als er größtem Schmerz ausgesetzt war. Das Vertrauen, auf das er baute, sagte ihm trotz seiner Gefühle, dass Gottes Mitgefühl immer da ist, dass Gott immer treu ist und uns nie verlässt oder im Stich lässt. Als dann der letzte Pfennig gezahlt war, als Jesu Entschlossenheit, die Sache treu zu Ende zu führen, so offensichtlich wie absolut unerschütterlich war, war es glücklicherweise endlich „vollbracht“18. Allen Widerständen zum Trotz und ohne jemanden, der ihm half oder ihn stützte, stellte Jesus von Nazaret, der lebendige Sohn des lebendigen Gottes, körperliches Leben dort wieder her, wo der Tod herrschte, und brachte freudige, geistige Erlösung von Sünde, höllischer Dunkelheit und Verzweiflung. Mit Glauben an den Gott, von dem er wusste, dass er da ist, konnte er im Triumph sagen: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“19
Brüder und Schwestern, einer der tröstlichsten Gedanken in der Osterzeit ist, da Jesus einen so langen, einsamen Weg völlig allein gegangen ist, bleibt uns das erspart. Seine einsame Reise hat uns großartige Begleiter für unseren matten Abglanz dieses Weges verschafft – den Vater im Himmel, der mit Barmherzigkeit für uns sorgt, seinen geliebten Sohn, der uns ein verlässlicher Gefährte ist, die unübertreffliche Gabe des Heiligen Geistes, Engel im Himmel, Angehörige auf beiden Seiten des Schleiers, Propheten und Apostel, Lehrer, Führer und Freunde. All diese und noch weitere wurden uns dank des Sühnopfers Jesu Christi und der Wiederherstellung des Evangeliums als Begleiter auf unserem Lebensweg zur Seite gestellt. Laut erschallt von Golgotas Gipfel die Wahrheit, dass wir niemals allein oder ohne Hilfe gelassen werden, auch wenn es uns manchmal so vorkommen mag. Ja, unser aller Erlöser hat gesagt: „Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen, sondern [mein Vater und] ich [kommen] wieder zu euch [und bleiben bei euch].“20
Meine andere Bitte zur Osterzeit ist, dass diese Szenen vom einsamen Opfer Christi, durchwirkt mit Augenblicken, in denen er verleugnet, verlassen und – mindestens einmal – offen verraten wurde, niemals von uns wiederholt werden. Er ist einmal allein gegangen. Ich möchte nun darum bitten, dass er nie mehr ohne unsere Hilfe und Unterstützung Sünde gegenübertreten muss, dass er nie wieder teilnahmslose Zuschauer sieht, wenn er Sie oder mich auf seiner heutigen Via Dolorosa entdeckt. Mögen wir uns nun unmittelbar vor dieser heiligen Woche – Pascha-Donnerstag mit dem Paschalamm, der Freitag des Sühnopfers mit dem Kreuz, der Sonntag der Auferstehung mit dem leeren Grab – fest entschließen, mit größerer Vollkommenheit Jünger des Herrn Jesus Christus zu sein; nicht nur in Worten und nicht nur in behaglichen Zeiten, sondern auch in Taten und mit Mut und Glauben, auch dann, wenn der Pfad einsam und unser Kreuz nur schwer zu tragen ist. Mögen wir in dieser Osterwoche und auch sonst immer zu Jesus Christus stehen „allzeit, und in allem und überall, wo auch immer [wir uns] befinden [mögen], selbst bis in den Tod“21, denn so hat er ja auch zu uns gestanden, als er wirklich seinem Tod entgegensah, und als er vollkommen allein dastehen musste. Im Namen Jesu Christi. Amen.