Auf den Herrn hoffen
Glaube bedeutet, Gott zu vertrauen – in guten wie in schlechten Zeiten –, selbst wenn wir Leid ertragen müssen, bis wir sehen, wie sein Arm um unsertwillen offenbar wird
Meine lieben Brüder und Schwestern, wir alle – und natürlich auch ich – brennen darauf, die Schlussansprache unseres geliebten Propheten, Präsident Russell M. Nelson, zu hören. Dies war eine herrliche Konferenz, es war aber auch schon das zweite Mal, dass sie wegen COVID-19 in einem etwas anderen Rahmen stattfand. Wir sind dieser Seuche so überdrüssig, es ist einfach zum Haareraufen. Und offensichtlich haben einige meiner Brüder schon damit angefangen. Bitte seien Sie versichert, dass wir ständig für diejenigen beten, die auf irgendeine Weise von der Pandemie betroffen sind, vor allem für jene, die einen geliebten Menschen verloren haben. Wir sind uns alle einig, dass das alles schon viel zu lange dauert.
Wie lange warten wir auf Befreiung von den Bedrängnissen, die uns ereilen? Wie sieht es bei unseren ganz persönlichen Herausforderungen aus, wenn wir warten und warten und die ersehnte Hilfe sich alle Zeit der Welt lässt? Warum dauert das so lange, wenn wir meinen, die Last sei mehr, als wir ertragen können?
Wenn wir uns solche Fragen stellen, können wir mit etwas Anstrengung den Hilferuf eines anderen hören, der aus einer feuchten, dunklen Gefängniszelle in einem der kältesten Winter erschallte, den diese Gegend bis dahin jemals zu verzeichnen hatte.
„O Gott, wo bist du?“, hören wir aus den Tiefen des Gefängnisses zu Liberty. „Und wo ist das Gezelt, das dein Versteck bedeckt? Wie lange noch wird deine Hand sich zurückhalten?“1 Wie lange noch, o Herr, wie lange noch?
Wir sind also nicht die Ersten und werden auch nicht die Letzten sein, die solche Fragen stellen, wenn uns Sorgen erdrücken oder ein Schmerz nicht aus unserem Herzen weichen will. Ich will jetzt nicht über Pandemien oder Gefängnisse sprechen, sondern über Sie, Ihre Familie und Ihre Mitmenschen, die vor einer Unmenge solcher Herausforderungen stehen. Ich spreche über die Sehnsucht vieler, die gerne verheiratet wären, es aber nicht sind, und derer, die zwar verheiratet sind, sich jedoch wünschen, die Beziehung wäre ein wenig mehr celestialer Art. Ich spreche über diejenigen, die mit dem unerwünschten Auftreten einer schweren Krankheit – die womöglich unheilbar ist – zurechtkommen müssen oder die ihr Leben lang mit einem Gendefekt zu kämpfen haben, gegen den man nichts tun kann. Ich spreche über den steten Kampf mit psychischen und geistigen Störungen, die schwer auf den vielen Menschen lasten, die darunter leiden, und auch auf denen, die einen nahestehenden Menschen darunter leiden sehen. Ich spreche über die Armen, von denen der Erretter gesagt hat, wir dürften sie nie vergessen, und ich spreche über diejenigen von Ihnen, die darauf warten, dass ein Kind – ganz gleich, welchen Alters – wieder zurückkehrt, wenn es trotz all Ihrer Gebete einen anderen Weg eingeschlagen hat, als Sie es sich gewünscht hätten.
Mir ist auch klar, dass selbst diese lange Liste mit Dingen, auf die der eine oder andere wartet, nicht die großen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Sorgen anspricht, vor denen wir alle gemeinsam stehen. Unser Vater im Himmel erwartet zweifelsohne, dass wir diese quälenden Probleme angehen, die die ganze Gesellschaft betreffen, und auch unsere ganz individuellen Herausforderungen, und doch werden wir es manchmal erleben, dass selbst unsere größten geistigen Anstrengungen und aufrichtigen, flehentlichen Gebete nicht den Erfolg bringen, den wir uns ersehnt haben – sei es bei den großen, weltweiten Problemen oder bei unseren kleinen, individuellen. Während wir uns also gemeinsam darum bemühen und darauf warten, dass einige unserer Gebete beantwortet werden, gebe ich Ihnen eine Verheißung als Apostel, dass diese Gebete gehört und erhört werden, aber vielleicht nicht zu der Zeit oder auf die Art und Weise, wie wir es uns wünschen. Aber sie werden immer erhört – zu der Zeit und auf die Art und Weise, wie ein allwissender und ewig mitfühlender Vater sie erhören wird. Meine lieben Brüder und Schwestern, seien Sie sich bitte der Tatsache bewusst, dass ihm, der nicht schlummert oder schläft,2 das Glück und die Erhöhung seiner Kinder, die irgendwann kommen wird, wichtiger ist als alles andere, was ein göttliches Wesen sonst noch zu tun hat. Er ist in Herrlichkeit die reine Liebe in Person, und barmherziger Vater ist sein Name.
„Wenn das so ist“, mögen Sie jetzt sagen, „sollten seine Liebe und Barmherzigkeit dann nicht einfach unser eigenes Rotes Meer teilen und uns ermöglichen, trockenen Fußes unsere Schwierigkeiten zu durchschreiten? Müsste er dann nicht auch im 21. Jahrhundert Seemöwen senden, die von irgendwoher angeflogen kommen und all die lästigen Heuschrecken des 21. Jahrhunderts verschlingen?“
Die Antwort darauf lautet: „Ja, Gott kann auf der Stelle Wunder bewirken, aber früher oder später werden wir feststellen, dass nur er allein bestimmt, was wann in unserem Erdenleben geschieht.“ Er hat für jeden Einzelnen von uns einen eigenen Zeitplan. Für jeden Kranken, der am Teich Betesda augenblicklich geheilt wird,3 muss jemand anders 40 Jahre in der Wüste verbringen und darauf warten, das verheißene Land zu betreten.4 Für jeden, der wie Nephi und Lehi aufgrund seines Glaubens von Gott beschützt wird, indem er von einer Feuerflamme umschlossen wird,5 gibt es einen Abinadi, der wegen seines Glaubens in den Flammen eines Scheiterhaufens den Feuertod erleidet.6 Und wir wissen ja noch, dass der Elija, der zum Zeugnis gegen die Baalspriester im Handumdrehen Feuer vom Himmel herabrufen konnte,7 derselbe Elija ist, der es ertragen musste, dass es jahrelang nicht regnete, und der eine Zeit lang nur von den dürftigen Happen lebte, die ein Rabe mit seinen Krallen tragen konnte.8 Ich vermute mal, dass es sich dabei nicht gerade um ein „Happy Meal“ handelte.
Was will ich damit sagen? Ich will damit sagen, dass Glaube bedeutet, Gott zu vertrauen – in guten wie in schlechten Zeiten –, selbst wenn wir Leid ertragen müssen, bis wir sehen, wie sein Arm um unsertwillen offenbar wird.9 Das kann in unserer modernen Welt schwierig sein, denn viele glauben inzwischen, dass das höchste Gut im Leben darin bestehe, allen Schmerz zu vermeiden, und dass niemand jemals wegen irgendetwas leiden sollte.10 Doch diese Annahme führt uns niemals zur „vollen Größe, die der Fülle Christi entspricht“11.
Ich entschuldige mich bei Elder Neal A. Maxwell, dass ich es wage, ein wenig abzuwandeln und zu ergänzen, was er einmal gesagt hat. Auch ich glaube, dass „unser Leben … nicht mit Glauben gefüllt und dabei frei von Stress“ sein kann. Wir können nun mal nicht „naiv durchs Leben tanzen“ noch ein Glas Limonade trinken und dabei sagen: „Herr, schenke mir all deine erstrebenswertesten Tugenden, aber pass auf, dass du mir weder Kummer noch Leid noch Widerstände bescherst. Bitte lass nicht zu, dass jemand mich nicht mag oder mich hintergeht, und lass vor allem niemals zu, dass ich mich von dir oder meinen Lieben verlassen fühle. Ja, Herr, halte unbedingt jede Art der Erfahrung von mir fern, die dich zu einem göttlichen Wesen gemacht hat. Doch wenn dann die holprige Fahrt aller anderen vorbei ist, lass mich bitte zu dir und bei dir wohnen, wo ich dann damit prahlen kann, wie ähnlich wir uns doch in unseren Stärken und unserem Charakter sind, während ich auf meiner Wolke aus bequemem Christsein dahinschwebe.“12
Meine lieben Brüder und Schwestern, das Christsein schenkt Trost, aber bequem ist es oft nicht. Der Weg zu Heiligkeit und Glück hier und im künftigen Leben ist lang und manchmal auch steinig. Dafür braucht man Zeit und Beharrlichkeit. Doch natürlich ist der Lohn dafür gewaltig. Diese Wahrheit wird im Buch Mormon, im 32. Kapitel des Buches Alma, ganz deutlich und überzeugend dargelegt. Dort erklärt dieser große Hohe Priester: Wenn mit dem Wort Gottes nur ein Samenkorn in unser Herz gepflanzt wird, und wenn wir es dann gießen, von Unkraut befreien, nähren und gute Bedingungen schaffen, dann wird es in der Zukunft einmal Frucht hervorbringen, „die höchst kostbar ist, … süßer als alles Süße“13, und wenn man davon isst, hat man nie wieder Durst oder Hunger.
In diesem bemerkenswerten Kapitel stehen viele Lehren, doch ihnen allen gemein ist die Kernaussage, dass das Samenkorn genährt werden muss und man warten muss, bis es gewachsen ist; mit gläubigem Auge schauen wir nach seiner Frucht aus.14 Für unsere Ernte, so sagt Alma, brauchen wir „Geduld“15. Kein Wunder, dass er am Ende seiner bemerkenswerten Belehrung dreimal dazu aufruft, beim Nähren des Wortes Gottes in unserem Herzen Eifer und Geduld an den Tag zu legen und, wie er sagt, mit „Langmut“ zu warten, bis „der Baum euch Frucht hervorbringt“16.
COVID und Krebs, Zweifel und Verzweiflung, Probleme mit den Finanzen und der Familie – wann werden diese Lasten von uns genommen? Die Antwort lautet: Nach einer Weile – wir brauchen „Geduld“17. Ob wir nur wenig oder viel Geduld brauchen, liegt nicht immer in unserer Hand, doch dank der Gnade Gottes werden diejenigen gesegnet, die am Evangelium Jesu Christi festhalten. Diese Angelegenheit wurde vor langer Zeit in einem abgeschiedenen Garten und auf einem für alle zugänglichen Hügel in Jerusalem geregelt.
Wenn wir nun zum Abschluss der Konferenz von unserem geliebten Propheten hören, denken wir an das, was Russell Nelson sein ganzes Leben lang bewiesen hat: „Die aber auf den Herrn hoffen, empfangen neue Kraft, wie Adlern wachsen ihnen Flügel. Sie laufen und werden nicht müde, sie gehen und werden nicht matt.“18 Ich bete dafür, dass jeder von Ihnen, der sich wünscht, von seinen Sorgen und seinem Kummer befreit zu werden, nach einer Weile, früher oder später, diese Segnungen erhalten möge. Ich gebe Zeugnis für Gottes Liebe und für die Wiederherstellung seines herrlichen Evangeliums, das auf die eine oder andere Weise die Lösung für jedes Problem ist, dem wir im Leben begegnen. Im erlösenden Namen des Herrn Jesus Christus. Amen.