Generalkonferenz
Wir müssen unsere von Gott inspirierte Verfassung verteidigen
Frühjahrs-Generalkonferenz 2021


15:50

Wir müssen unsere von Gott inspirierte Verfassung verteidigen

Unser Glaube an göttliche Inspiration erlegt uns Mitgliedern der Kirche eine besondere Verantwortung auf, die Verfassung der Vereinigten Staaten und die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit zu schützen und zu verteidigen

In diesen unruhigen Zeiten sehe ich mich dazu veranlasst, über die inspirierte Verfassung der Vereinigten Staaten zu sprechen. Diese Verfassung ist von besonderem Interesse für unsere Mitglieder in den Vereinigten Staaten, aber sie war auch ein Grundstein für Verfassungen in aller Herren Länder.

I.

Eine Verfassung ist die Grundlage der Staatsführung. Sie gibt der Ausübung der Regierungsbefugnisse eine Struktur und setzt ihre Grenzen fest. Die Verfassung der Vereinigten Staaten ist die älteste schriftlich festgehaltene, noch gültige Verfassung. Obwohl sie zunächst nur von einigen wenigen Kolonien angenommen worden war, diente sie bald weltweit als Vorbild. Heute gibt es in allen bis auf drei Ländern schriftlich niedergelegte Verfassungen.1

In dieser Ansprache spreche ich weder für eine politische Partei noch für irgendeine andere Gruppe. Ich spreche für die Verfassung der Vereinigten Staaten, mit der ich mich seit mehr als 60 Jahren befasse. Ich spreche aus meiner Erfahrung als Rechtsreferendar beim Vorsitzenden Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Ich spreche auf Grundlage der 15 Jahre, die ich als Jura-Professor tätig war, und der dreieinhalb Jahre als Richter am Obersten Gerichtshof von Utah. Vor allem spreche ich jedoch aus meiner Erfahrung der letzten 37 Jahre als Apostel Jesu Christi. Als solcher habe ich die Bedeutung der von Gott inspirierten Verfassung der Vereinigten Staaten für das Werk der wiederhergestellten Kirche des Herrn studiert.

Die Verfassung der Vereinigten Staaten ist einzigartig, denn Gott hat offenbart, dass er sie „für die Rechte und zum Schutz allen Fleisches … eingerichtet“ hat (Lehre und Bündnisse 101:77; siehe auch Vers 80). Deswegen hat diese Verfassung für die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in aller Welt eine besondere Bedeutung. Ob und, wenn ja, wie die darin enthaltenen Grundsätze von anderen Nationen der Welt angewendet werden sollen, müssen diese entscheiden.

Was war Gottes Absicht bei der Ausarbeitung der Verfassung der Vereinigten Staaten? Sie liegt in der Lehre der sittlichen Entscheidungsfreiheit. Im ersten Jahrzehnt der wiederhergestellten Kirche wurden die Mitglieder im damaligen Grenzland im Westen einzeln und als Gemeinschaft öffentlich verfolgt. Zum Teil lag das daran, dass sie die Sklaverei ablehnten, die es damals in den Vereinigten Staaten gab. Unter diesen misslichen Umständen offenbarte Gott durch den Propheten Joseph Smith ewige Wahrheiten über seine Lehre.

Gott hat seinen Kindern sittliche Entscheidungsfreiheit gewährt – die Macht, selbständig zu entscheiden und zu handeln. Das Beste wäre nun, wenn alle Männer und Frauen bei der Wahrnehmung dieser Freiheit den größtmöglichen Spielraum hätten, ihren persönlichen Wünschen gemäß zu handeln. Dann nämlich wäre, wie in der Offenbarung erklärt wird, „jedermann am Tag des Gerichts für seine Sünden selbst verantwortlich“ (Lehre und Bündnisse 101:78). „Darum“, hat der Herr offenbart, „ist es nicht recht, dass irgendjemand in der Knechtschaft eines anderen sei.“ (Lehre und Bündnisse 101:79.) Das bedeutet offenbar, dass Sklaverei unter Menschen falsch ist. Und demselben Grundsatz zufolge ist es auch falsch, wenn Bürger bei der Auswahl ihrer Regierenden und bei der Gesetzgebung kein Mitspracherecht haben.

II.

Wenn wir sagen, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten von Gott inspiriert war, meinen wir nicht, dass jedes Wort und jeder Satz durch göttliche Offenbarung vorgegeben wurde, wie etwa die Anzahl der Vertreter aus jedem Staat oder deren Mindestalter.2 Die Verfassung war kein „vollständig abgeschlossenes Dokument“, so Präsident J. Reuben Clark. „Im Gegenteil!“, erklärte er. „Wir glauben, es muss erweitert und angepasst werden, damit es den Bedürfnissen einer sich weiterentwickelnden Welt gerecht wird.“3 So wurde durch inspirierte Zusatzartikel beispielsweise die Sklaverei abgeschafft und den Frauen das Wahlrecht gegeben. Nicht jede die Verfassung auslegende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs lässt jedoch Inspiration erkennen.

Ich glaube, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten mindestens fünf von Gott inspirierte Grundsätze enthält.4

Der erste ist der Grundsatz, dass die Regierung ihre Macht aus dem Volk bezieht. In einer Zeit, in der gemeinhin angenommen wurde, dass ein Souveränitätsanspruch sich aus dem gottgegebenen Recht eines Königs oder aus Militärgewalt ableite, war es revolutionär, dem Volk Souveränität zuzugestehen. Philosophen hatten sich dafür ausgesprochen, aber in der Verfassung der Vereinigten Staaten wurde es zum ersten Mal umgesetzt. Dass das Volk Souveränität besitzt, bedeutet nicht, dass wütende Meuten oder andere Gruppen die Regierung mit Einschüchterung oder Gewalt beeinflussen dürfen. Die Verfassung der USA hat eine konstitutionelle demokratische Republik begründet, in der die Menschen ihr Mitbestimmungsrecht durch gewählte Vertreter ausüben.

Ein zweiter inspirierter Grundsatz ist die Teilung der anvertrauten Regierungsgewalt zwischen den Vereinigten Staaten und den Einzelstaaten. In unserem föderalen System wurde dieser damals neue Grundsatz in manchen Fällen durch inspirierte Zusatzartikel abgeändert, wie etwa durch die bereits erwähnten, mit denen die Sklaverei abgeschafft und Frauen das Wahlrecht gegeben wurde. Von Bedeutung ist, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten der Bundesregierung nur diejenigen Befugnisse zugesteht, die ihr ausdrücklich oder implizit übertragen werden. Alle weiteren Machtbefugnisse „bleiben den Einzelstaaten oder dem Volke vorbehalten“5.

Ein weiterer inspirierter Grundsatz ist die Gewaltenteilung. Weit mehr als hundert Jahre vor dem Verfassungskonvent 1787 in den USA sorgte das englische Parlament zum ersten Mal für eine Teilung der legislativen und der exekutiven Gewalt, als es dem König bestimmte Befugnisse entriss. Der amerikanische Konvent hatte die Inspiration, der Exekutive, der Legislative und der Judikative voneinander unabhängige Befugnisse zu verleihen, damit die drei Gewalten sich gegenseitig kontrollieren konnten.

Ein vierter inspirierter Grundsatz liegt in der Zusammenstellung unabdingbarer Garantien von Persönlichkeitsrechten sowie bestimmten Einschränkungen der Hoheitsgewalt in der Bill of Rights, die in Zusatzartikeln drei Jahre nach Inkrafttreten der Verfassung verabschiedet wurde. Eine Gesetzesvorlage mit Rechten war nichts Neues. Hier zeigte sich die Inspiration in der praktischen Anwendung von Grundsätzen, die, beginnend mit der Magna Charta, erstmals in England eingeführt wurden. Die Urheber der Verfassung kannten diese, denn einige Chartas der amerikanischen Kolonien enthielten solche Garantien.

Ohne die Bill of Rights hätte Amerika nicht der Ort für die Wiederherstellung des Evangeliums werden können, die nur drei Jahrzehnte später begann. Göttliche Inspiration lässt sich bereits in der ursprünglichen Bestimmung erkennen, dass für öffentliche Ämter kein religiöser Bekenntnisakt notwendig sein dürfe,6 doch die Ergänzung um die Religionsfreiheit und das Verbot einer Staatsreligion im ersten Zusatzartikel war unerlässlich. Göttliche Inspiration zeigt sich auch bei der Rede- und Pressefreiheit im ersten Zusatzartikel sowie in den weiteren Zusatzartikeln bei den Bestimmungen zum Schutz der Person, etwa bei der Strafverfolgung.

Präambel „Wir, das Volk“

Fünftens und letztens erkenne ich göttliche Inspiration im Zweck der gesamten Verfassung. Wir werden durch das Gesetz regiert, nicht von einzelnen Menschen, und unsere Loyalität gilt der Verfassung und ihren Grundsätzen und Verfahrensweisen, nicht einem bestimmten Amtsträger. Auf diese Weise sollen alle Menschen vor dem Gesetz gleich sein. Mit diesen Grundsätzen wird das Streben nach Alleinherrschaft verhindert, das in manchen Ländern die Demokratie zerstört. Sie sorgen auch dafür, dass keine der drei Gewalten in der Regierung über die anderen bestimmt oder verhindert, dass die anderen ihre verfassungsrechtlichen Funktionen zur gegenseitigen Kontrolle ausüben.

III.

Auch wenn die Grundsätze in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Gott inspiriert sind, erreichen sie nicht immer ihr ursprüngliches Ziel, wenn sie von unvollkommenen Menschen angewendet werden. Wichtige Themenbereiche der Gesetzgebung, wie etwa einige der Gesetze zur Regelung familiärer Beziehungen, wurden den Bundesstaaten von der Bundesregierung entzogen. Die im ersten Zusatzartikel garantierte Redefreiheit wird manchmal aufgeweicht, um unliebsame Äußerungen zu unterdrücken. Der Grundsatz der Gewaltenteilung wird in einem steten Auf und Ab verschoben, bei dem ein Teil der Staatsgewalt versucht, die Befugnisse eines anderen auszuüben oder einzuschränken.

Es gibt weitere bedrohliche Entwicklungen, die die inspirierten Grundsätze in der Verfassung der Vereinigten Staaten unterlaufen. Das Ansehen der Verfassung wird durch Bemühungen geschmälert, als Begründung für deren Ausarbeitung aktuelle Strömungen in der Gesellschaft an die Stelle von Freiheit und Selbstverwaltungsrechten zu setzen. Die Verfassung als Instanz wird bagatellisiert, wenn Kandidaten oder Amtsträger ihre Grundsätze nicht beachten. Die Würde und die Wirkung der Verfassung wird gemindert, wenn jemand von ihr spricht, als diene sie nur als Loyalitätsprobe oder politisches Schlagwort und nehme nicht den erhabenen Rang einer Grundlage für die Befugnisse und Grenzen der Staatsgewalt ein.

IV.

Unser Glaube an göttliche Inspiration erlegt uns Mitgliedern der Kirche eine besondere Verantwortung auf, die Verfassung der Vereinigten Staaten und die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in unserem jeweiligen Heimatland zu schützen und zu verteidigen. Wir müssen dem Herrn vertrauen und an die Zukunft dieses Landes glauben.

Was sollen die treuen Heiligen der Letzten Tage außerdem tun? Wir müssen dafür beten, dass der Herr alle Länder und ihre Regierenden führt und segnet. Das leitet sich aus unserem Glaubensartikel ab. Einem Präsidenten oder Herrscher untertan zu sein7 bedeutet natürlich nicht, dass wir nicht gegen einzelne Gesetze oder Bestimmungen sein dürfen. Es erfordert aber, dass wir unseren Einfluss höflich und friedlich geltend machen und auf die in der Verfassung und in entsprechenden Gesetzen festgelegte Weise. Bei Streitthemen sollten wir vermitteln und Einigkeit fördern.

Mit dem Schutz der inspirierten Verfassung gehen weitere Pflichten einher. Wir müssen die inspirierten Grundsätze der Verfassung kennen und uns für sie einsetzen. Wir müssen nach verständigen, guten Menschen, die diese Grundsätze in ihrem öffentlichen Handeln respektieren, Ausschau halten und diese unterstützen.8 Wir müssen kundige Bürger sein, die ihren Einfluss als Staatsbürger aktiv geltend machen.

In den Vereinigten Staaten und in anderen Demokratien wird politischer Einfluss geltend gemacht, indem man für ein Amt kandidiert (was wir befürworten), indem man wählt, durch finanzielle Unterstützung, durch Mitgliedschaft und Mitwirkung in politischen Parteien und indem man mit Amtsträgern, Parteien und Kandidaten im Gespräch bleibt. Dies alles ist nötig, damit eine Demokratie gut funktioniert, aber nicht jeder gewissenhafte Bürger muss alles davon tun.

Es gibt viele Themen in der Politik, aber keine Partei, kein Programm und kein einzelner Kandidat kann all unseren persönlichen Präferenzen gerecht werden. Daher muss jeder Bürger zum jeweiligen Zeitpunkt entscheiden, welche Themen ihm am wichtigsten sind. Die Mitglieder sollten sich anschließend um Inspiration bemühen, wie sie ihren Einfluss ihren persönlichen Prioritäten entsprechend geltend machen wollen. Dieser Vorgang ist nicht einfach. Es mag nötig sein, die Partei oder die Kandidaten, die man unterstützt, zu wechseln – und sei es von einer Wahl zur anderen.

Mit solch unabhängigem Verhalten wird man als Wähler manchmal Kandidaten oder politische Parteien und Programme unterstützen müssen, denen man in anderen Standpunkten nicht zustimmen kann.9 Das ist einer der Gründe, warum wir unsere Mitglieder auffordern, einander in politischen Fragen nicht zu verurteilen. Wir sollten nie behaupten, dass man als treuer Heiliger der Letzten Tage nicht zu einer bestimmten Partei gehören oder für einen bestimmten Kandidaten stimmen darf. Wir lehren richtige Grundsätze und lassen unsere Mitglieder entscheiden, wie sie diese Grundsätze in Bezug auf die jeweils aktuellen Themen bewerten und anwenden. Wir bestehen auch darauf und bitten unsere örtlichen Führer, ebenfalls darauf zu bestehen, dass politische Entscheidungen oder Zugehörigkeiten in keiner unserer Versammlungen debattiert oder befürwortet werden.

Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage behält sich natürlich ihr Recht vor, konkreten Gesetzesvorschlägen, die sich unserer Meinung nach auf die freie Ausübung der Religion oder grundlegende Interessen von kirchlichen Gemeinschaften auswirken, zuzustimmen oder diese abzulehnen.

Ich gebe Zeugnis für die von Gott inspirierte Verfassung der Vereinigten Staaten. Mögen wir, die wir das göttliche Wesen anerkennen, das die Inspiration zu dieser Verfassung gegeben hat, ihre guten Grundsätze stets schützen und verteidigen. Im Namen Jesu Christi. Amen.

Anmerkungen

  1. Siehe Mark Tushnet, „Constitution“, zitiert in: The Oxford Handbook of Comparative Constitutional Law, Hg. Michel Rosenfeld und András Sajó, 2012, Seite 222. Die drei Länder ohne eine schriftlich niedergelegte Verfassung sind Großbritannien, Neuseeland und Israel. In jedem dieser Länder herrschen verfassungsrechtliche Traditionen, auch wenn es kein Dokument gibt, das die maßgeblichen Bestimmungen zusammenfasst.

  2. Siehe Verfassung der Vereinigten Staaten, Artikel 1, Abschnitt 2

  3. J. Reuben Clark Jr., „Constitutional Government: Our Birthright Threatened“, Vital Speeches of the Day, 1. Januar 1939, Seite 177, zitiert in: Martin B. Hickman, „J. Reuben Clark, Jr.: The Constitution and the Great Fundamentals“, wiederum zitiert in: Ray C. Hillam, Hg., By the Hands of Wise Men: Essays on the U.S. Constitution, 1979, Seite 53. Brigham Young hatte eine ähnliche Auffassung von der Weiterentwicklung der Verfassung. Er sagte, dass die Gründerväter „die Grundlage legten, und es an den nachfolgenden Generationen war, darauf aufzubauen“ (Discourses of Brigham Young, Hg. John A. Widtsoe, 1954, Seite 359).

  4. Diese fünf sind ähnlich (wenn auch nicht identisch) wie die in J. Reuben Clark Jr., Stand Fast by Our Constitution, 1973, Seite 7; Ezra Taft Benson, „Die Verfassung der Vereinigen Staaten“, Der Stern, November 1987, Seite 3ff.; Ezra Taft Benson, „The Constitution – A Glorious Standard“, Ensign, September 1987, Seite 6–11; siehe zusammenfassend Noel B. Reynolds, „The Doctrine of an Inspired Constitution“, zitiert in: By the Hands of Wise Men, Seite 1–28

  5. Verfassung der Vereinigten Staaten, Zusatzartikel 10

  6. Siehe Verfassung der Vereinigten Staaten, Artikel 6

  7. Siehe 12. Glaubensartikel

  8. Siehe Lehre und Bündnisse 98:10

  9. Siehe David B. Magleby, „The Necessity of Political Parties and the Importance of Compromise“, BYU Studies, 54. Jahrgang, Nr. 4, 2015, Seite 7–23