Kapitel 10
Die Zeit ist ein entscheidender Faktor
Im Frühjahr 1966 betrat in der Stadt New York Dr. Aziz Atiya zusammen mit einem Museumswärter ein Dokumentenlager des Metropolitan Museum of Art. Beim Umhersehen fiel ihm eine Mappe ins Auge. Er öffnete sie. Was er sah, verwunderte ihn.
In der Mappe befanden sich Bruchstücke eines altägyptischen Papyrus. Sie waren zwar stark beschädigt, doch Dr. Atiya konnte unschwer das Bild zweier Männer erkennen, von denen einer auf einer Liege in Löwenform lag, der andere stand neben ihm. Der Teil des Papyrus, welcher die Arme und den Torso des Mannes auf der Liege sowie den Kopf der stehenden Figur zeigen musste, fehlte. Irgendjemand hatte – in dem verzweifelten Versuch, die Zeichnung zu bewahren – das Stück Papyrus auf ein Blatt Papier geklebt und die fehlenden Bildelemente als Skizze ergänzt.
Dr. Atiya war kein Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Aber als Professor für Geschichte und Sprachen an der Universität von Utah hatte er oft genug mit den Heiligen zu tun gehabt, um zu erkennen, dass er eine Darstellung aus dem Buch Abraham in der Köstlichen Perle vor sich hatte.
Zusammen mit diesem Bild waren noch neun weitere Papyrusfragmente aufbewahrt. Dr. Atiya untersuchte sie und stieß zudem auf eine Bescheinigung, aus der hervorging, dass sie einst Eigentum des Propheten Joseph Smith gewesen waren. Die Bescheinigung war auf 1856 datiert und von Joseph Smith III., Emma Smith und Emmas zweitem Ehemann Lewis Bidamon unterzeichnet.
Die Fragmente waren Teil einiger Papyrusrollen, die der Prophet Joseph Smith und weitere Heilige erworben hatten, als sie 1835 bei einem Antiquitätenhändler vier Mumien erstanden. Sieben Jahre später veröffentlichte Joseph Smith – gemeinsam mit einer Übersetzung, die das Buch Abraham genannt wurde – auch Bilder aus diesen Papyrusrollen. Einige Jahre nach Josephs Tod verkaufte Emma die Mumien und die Papyri. Der neue Besitzer teilte sie auf und veräußerte einige davon an ein nahegelegenes Museum. Jahrzehntelang galten die Schriftrollen als bei einem Brand verschollen, doch irgendwie hatten ein paar Fragmente ihren Weg nach Osten ins Metropolitan Museum gefunden.
„Diese Dokumente gehören nicht hierher“, befand Dr. Atiya. Er wusste, wie wichtig die Fragmente der Kirche waren, und beschloss, das Seinige dazu beizutragen, sie erneut den Heiligen zukommen zu lassen.
Im selben Jahr hatte die vierzehnjährige Isabel Santana reichlich Mühe, sich in ihren neuen Lebensumständen zurechtzufinden. Sie hatte soeben ihr Zuhause in Ciudad Obregón, einer Stadt im Norden Mexikos, verlassen, um in Mexiko-Stadt das Centro Escolar Benemérito de las Américas zu besuchen, eine von der Kirche betriebene Schule. Die Hauptstadt war eine ausgedehnte Metropole mit sieben Millionen Einwohnern. Die Menschen hier kleideten sich anders und sprachen anders als die Leute bei ihr zuhause.
Die Art und Weise, wie sie „bitte“, „danke“ und „entschuldigen Sie“ sagten, war sehr förmlich. So drückte man sich im Norden nicht aus.
Das wiederhergestellte Evangelium hatte im 19. Jahrhundert in Mexiko Wurzeln geschlagen, und es gab dort inzwischen zwei starke Pfähle. In den vergangenen zwei Jahrzehnten war die Zahl der Heiligen in Mexiko von etwa fünftausend auf mehr als sechsunddreißigtausend gestiegen.
Angesichts der zunehmenden Mitgliederzahl wollten die Führer der Kirche sicherstellen, dass die heranwachsende Generation sämtliche Möglichkeiten schulischer und beruflicher Ausbildung erhielt. 1957 berief die Erste Präsidentschaft einen Ausschuss ein, der das Bildungswesen in Mexiko analysieren und Empfehlungen für die Einrichtung von Schulen der Kirche im ganzen Land aussprechen sollte. Der Ausschuss stellte fest, dass es in Stadtgebieten nicht genügend Schulen für die wachsende Bevölkerung Mexikos gab. Er schlug vor, verteilt über das Land mindestens ein Dutzend Grundschulen sowie in Mexiko-Stadt eine weiterführende Schule, ein Junior College und eine Lehrerbildungseinrichtung zu eröffnen.
Damals betrieb die Kirche bereits Schulen in Neuseeland, Westsamoa, Amerikanisch-Samoa, Tonga, Tahiti und Fidschi. Einige Jahre später eröffnete die Kirche zwei Grundschulen in Chile und war auch in Mexiko im Bildungsbereich aktiv. Als Isabel in Benemérito ankam, waren etwa dreitausendachthundert Schüler an fünfundzwanzig Grundschulen und zwei weiterführenden Schulen der Kirche in Mexiko eingeschrieben.
Benemérito war eine dreijährige weiterführende Schule. Sie war 1964 auf einer nahezu einhundertzwanzig Hektar großen Farm nördlich von Mexiko-Stadt eröffnet worden. Zum ersten Mal hatte Isabel von der Schule erfahren, als sie in Obregón eine von der Kirche geführte Grundschule besuchte. Obwohl es ihr nicht behagte, über tausendfünfhundert Kilometer von ihrem Zuhause und ihrer Familie entfernt zu wohnen, war sie begierig darauf, weiterhin Schulunterricht zu nehmen und Neues zu lernen.
Das Lehrpersonal an der Schule bestand ausschließlich aus mexikanischen Heiligen der Letzten Tage. Vorgeschriebene Pflichtkurse waren Spanisch, Englisch, Mathematik, Geografie, Weltgeschichte, mexikanische Geschichte, Biologie, Chemie und Physik. Darüber hinaus gab es Wahlfächer wie Kunst, Sport oder Technik. Das von der Schule getrennt organisierte Seminarprogramm vermittelte den Schülern religiöse Bildung.
Obwohl Isabels Vater nicht der Kirche angehörte, unterstützte er ihren Wunsch, sich in Benemérito einzuschreiben, und erlaubte ihr und ihrer Schwester Hilda den Schulbesuch. Hilda war zwar ein Jahr jünger, aber sie und Isabel waren seit der Grundschule in der gleichen Klasse gewesen, weil Isabel nicht allein zur Schule gehen wollte.
Isabel und Hilda waren also mit ihrer Mutter nach Benemérito gefahren. Als sie dort ankamen, befand sich die Schule noch teilweise im Bau, das Gelände war unbefestigt, es gab nur wenige Unterrichtsgebäude sowie fünfzehn kleinere Häuser, in denen die Schüler wohnten. Dennoch war Isabel von der Größe des Campus beeindruckt.
Sie und ihre Gruppe wurden zu Haus 2 geleitet. Dort wurden sie herzlich von einer Betreuerin empfangen, die ihnen die Waschmaschinen, die Schränke zur Aufbewahrung ihrer Habseligkeiten und die Schlafzimmer mit jeweils zwei Stockbetten zeigte. Das Haus mit vier Schlafzimmern verfügte zudem über ein Esszimmer, eine Küche und ein Wohnzimmer.
Isabel verbrachte einen Großteil ihrer Zeit damit, die anderen Schüler zu beobachten und zu versuchen, sich an die neue Kultur anzupassen. Es gab in Benemérito etwa fünfhundert Schüler, die meisten kamen aus den südlichen Landesteilen. Sie hatten einen anderen Hintergrund als Isabel – selbst ihre Ernährung war viel abwechslungsreicher. Isabel war überrascht von der Schärfe, Aromenvielfalt und Auswahl der Zutaten.
Ungeachtet aller kulturellen Unterschiede wurde von allen Schülern in Benemérito erwartet, dass sie sich an die gleichen Regeln hielten. Sie folgten einer strengen Routine: frühes Aufstehen, Erledigung häuslicher Pflichten und Teilnahme am Unterricht. Zudem wurden sie ermutigt, feste geistige Gewohnheiten zu entwickeln, wozu zählte, dass sie in die Kirche gingen und beteten. Isabel und ihre Schwester waren in einer gemischtkonfessionellen Familie aufgewachsen und hatten all dies zuvor nie regelmäßig getan.
Schon wenige Tage nach ihrer Ankunft fiel Isabel auf, dass einige Schüler Heimweh bekamen und die Schule verließen. Doch trotz all der neuen Eindrücke – fremde Leute, Speisen und Gebräuche – war sie entschlossen, zu bleiben und die Schule zu schaffen.
Präsident David O. McKay schrieb am 1. Januar 1967 in sein Tagebuch: „Es scheint mir unglaublich, dass ich mich meinem vierundneunzigsten Lebensjahr nähere.“ Er hatte den Tag in aller Ruhe zuhause verbracht und über seinen Erfahrungsschatz nachgedacht: „Es war ein glückliches, interessantes Leben! Was für eine lange Zeit – und doch, wie schnell ist sie vergangen.“
Der Prophet freute sich zwar auf das neue Jahr, aber er war auch besorgt. „Die betagte Welt ist problembeladen“, schrieb er. Jeden Tag berichteten Zeitungen und Fernsehen über Kriege, rassistische und politische Unruhen und Naturkatastrophen. Nach wie vor gab es starke Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. Und viele Menschen in Asien, Afrika, Mittel- und Südamerika waren in heftige regionale Konflikte verwickelt, die Regierungen zu stürzen und Gemeinschaften zu spalten drohten.
Präsident McKay war besonders besorgt angesichts des Bürgerkriegs im südostasiatischen Vietnam, der nun schon mehr als ein Jahrzehnt andauerte. Um zu verhindern, dass der Kommunismus in dem Land Fuß fasst, hatten die Vereinigten Staaten vor kurzem nahezu eine halbe Million Soldaten nach Südvietnam entsandt. Der Guerillakrieg eskalierte jedoch zusehends, und unzählige Soldaten und Zivilisten waren auf beiden Seiten schon ums Leben gekommen.
In Saigon, der Hauptstadt Südvietnams, gab es mehrere Zweige der Kirche, in denen sich etwa dreihundert Einheimische mit einigen der viertausend Heiligen versammelten, die im amerikanischen Militär dort stationiert waren. Elder Gordon B. Hinckley vom Kollegium der Zwölf Apostel und Elder Marion D. Hanks vom Ersten Rat der Siebziger hatten erst kürzlich das vom Krieg zerrüttete Land besucht. Auf einer Distriktskonferenz hatte Elder Hinckley das Land für die Verkündigung des Evangeliums geweiht und darum gebetet, dass Frieden in das Land zurückkehren möge. „Bringe bitte den Tag schnell herbei“, hatte er gefleht, „da der Kriegslärm verstummt!“ An jenem Abend gaben die Führer der Kirche Zeugnis – und in der Ferne dröhnte das Artilleriefeuer.
Präsident McKay hoffte, im Jahr 1967 weniger Chaos und Konflikte zu erleben. Doch dieser Wunsch wurde ihm nicht erfüllt. Im Juni brach zwischen Israel und dessen Nachbarländern ein Krieg aus, der die gesamte Region destabilisierte. Im darauffolgenden Monat führte die anhaltende politische Instabilität in Nigeria zu einem Bürgerkrieg. Steigende Opferzahlen samt der Kritik am Vietnamkrieg führten dazu, dass auch in den Vereinigten Staaten häufig gewalttätige Proteste von Kriegsgegnern aufkamen. Auch ethnische Spannungen erreichten im ganzen Land einen neuen Höhepunkt. Eine Welle der Gewalt erschütterte viele Großstädte.
Der Prophet machte sich Sorgen über die Auswirkungen dieser Unruhen auf die Jugend. Junge Menschen, die durch das Weltgeschehen entmutigt waren, stellten Werte und Kultur ihrer Eltern und Großeltern in Frage. Viele junge Leute experimentierten mit schädlichen Drogen, praktizierten sexuelle Promiskuität und bedienten sich einer vulgären Sprache.
Präsident McKay lag die Jugend der Kirche sehr am Herzen. Er wollte nicht, dass sie solchen Strömungen zum Opfer fiel. Daher ermunterte er die jungen Mitglieder, auch während der Woche einen Religionsunterricht zu besuchen – im Seminar oder Institut. Dort konnten sie christliche Eigenschaften weiterentwickeln und waren von Menschen umgeben, die ihre Werte und Maßstäbe teilten. Kurz zuvor hatte die Kirche eine Broschüre mit dem Titel Für eine starke Jugend herausgegeben, um jungen Männern und Frauen die Maßstäbe der Kirche für ein reines Leben, Verabredungen, Tanzen, Kleidung und Umgangsformen nahezubringen und um ihnen zu helfen, sie zu verstehen und danach zu leben. Präsident McKay war aber auch der Meinung, dass Eltern und Führer der Kirche die Pflicht haben, die Jugendlichen zu unterweisen und ihnen vorzuleben, dass ein sittlich einwandfreies Leben glücklich macht.
Auf der Herbst-Generalkonferenz 1967 konnte Präsident McKay aufgrund seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung seine Ansprachen nicht persönlich halten. Er bat daher seinen Sohn Robert, sie den Heiligen vorzulesen.
In der ersten Versammlung der Generalkonferenz stellte der Prophet klar: „Mit der Zukunft dieser Kirche vor Augen muss ich einfach sagen, dass es nichts Wichtigeres gibt, als ‚eins zu sein‘ und zu meiden, was die Mitglieder spaltet.“
In den vergangenen Jahren hatte sich die Kirche ja bemüht, durch die koordinierten Programme und die Betonung von Priestertum, Zuhause und Familie unter den Heiligen Einigkeit zu schaffen. Bis dato waren aufgrund der Korrelationsbestrebungen der Kirche sowohl der Inhalt der internationalen Zeitschriften der Kirche standardisiert als auch ein einheitlicher Lehrplan eingeführt worden. Als Reaktion auf das weltweite Wachstum hatte Präsident McKay zudem neunundsechzig „Regionalrepräsentanten der Zwölf“ berufen, die bei der Schulung von Pfahlpräsidentschaften ihren Beitrag leisteten, damit die Kirche überall auf der Welt effizient und einheitlich tätig sein konnte.
Da die Heiligen mit sozialen Unruhen und sich wandelnden Werten in der Gesellschaft konfrontiert waren, hofften Präsident McKay und die übrigen Führer der Kirche, koordinierte Programme könnten den Menschen in der ganzen Welt eine einheitliche Botschaft und eine stabile Grundlage bieten.
„Wir stehen vor einer Herausforderung“, sagte Präsident McKay zu den Heiligen. „Einigkeit in den Absichten, also harmonische Zusammenarbeit innerhalb der kirchlichen Organisation, wie der Herr sie offenbart hat, muss unser Ziel sein.“
Im selben Jahr kümmerte sich Hwang Keun Ok in Seoul in Südkorea um etwa achtzig Mädchen im Songjuk-Waisenhaus. Als sie 1964 als Leiterin dieses Waisenhauses für Mädchen eingestellt wurde, hatte sie der protestantischen Trägerschaft nicht mitgeteilt, dass sie der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage angehörte. In Südkorea war noch kein hinlängliches Verständnis von der Kirche vorhanden. So hatte man Keun Ok, nachdem sie sich 1962 hatte taufen lassen, an der christlichen Schule gekündigt, wo sie unterrichtet hatte.
Mittlerweile gab es in Südkorea ungefähr dreitausenddreihundert Heilige. Kim Ho Jik, das erste koreanische Mitglied, hatte sich 1951 während seines Studiums in den Vereinigten Staaten der Kirche angeschlossen. Vor seinem Tod im Jahr 1959 kehrte Ho Jik nach Südkorea zurück. Er bekleidete eine Professur sowie eine Verwaltungsposition an einer Universität und machte einige seiner Studenten mit dem wiederhergestellten Evangelium bekannt. Zusammen mit amerikanischen Soldaten trugen diese Studenten zum Wachstum der Kirche im Land bei. 1967 wurde das Buch Mormon in koreanischer Übersetzung herausgegeben.
Keun Ok, die ihren Vorgesetzten nichts von ihrer Religion erzählt hatte, schämte sich jedoch keineswegs dafür, Mitglied der Kirche zu sein. Sie war FHV-Präsidentin ihres Zweiges und unterrichtete die Sonntagsschulklasse für Kinder. Auch Besuche von Mitgliedern, die im Waisenhaus helfen wollten, unterstützte sie. Eines Tages erhielt Keun Ok den Telefonanruf eines amerikanischen Soldaten namens Stanley Bronson. Er war in Seoul stationiert und gehörte der Kirche an. Er wollte das Waisenhaus besuchen und einige Lieder singen, um die Kinder aufzuheitern.
Schon wenige Tage später kam Stan zu Besuch. Er war fast zwei Meter groß und überragte alle. Die Mädchen waren begeistert, dass er für sie singen wollte. Bevor er zur Armee eingezogen worden war, hatte er ein Album mit Volksliedern herausgebracht. Er hoffte, in Südkorea ein weiteres Album aufnehmen zu können.
Als sich alle um ihn geschart hatten, sagte Keun Ok zu Stan: „Bevor Sie Ihre Gitarre anstimmen, möchten die Kinder Ihnen etwas vorsingen, das sie für Sie einstudiert haben.“
Die Mädchen sangen oft, wenn Gäste im Haus waren, und sie hatten viel Übung darin. Stan stand vor Erstaunen der Mund offen, als die Mädchen ein paar Lieder für ihn sangen. Ihre Stimmen verschmolzen in perfekter Harmonie.
Stan besuchte nun das Waisenhaus regelmäßig und sang mit den Mädchen zusammen. Schließlich schlug er vor, gemeinsam ein Album aufzunehmen, dessen Verkaufserlös dem Waisenhaus zugutekommen sollte.
Keun Ok war von der Idee begeistert. Als junge Frau hatte sie sich geschworen, sich der Verbesserung der Welt zu widmen. Sie hatte ihren Vater in jungen Jahren verloren und war im Krieg aus Nordkorea geflohen. Daher wusste sie, wie schwierig es für Mädchen war, ohne starken Rückhalt durch Familie und Gemeinschaft in Korea etwas aus sich zu machen. Viele Menschen im Land sahen auf Waisenmädchen herab und nahmen an, sie würden es wohl kaum zu etwas bringen. Keun Ok selbst hatte mit Armut, dem Verlust eines Elternteils und ihrer Heimat kämpfen müssen, hatte aber dennoch ihre Ausbildung geschafft. Sie hoffte, dass ein Auftritt mit Stan den Mädchen in ihrer Obhut helfen würde, ihren Wert zu erkennen – und auch anderen Koreanern ihren Wert vor Augen führen würde.
Stan fand ein Aufnahmestudio, und in den nächsten Monaten stand Keun Ok ihm und den Mädchen beim Proben und Aufnehmen von Liedern zur Seite. Während seines dreißigtägigen Heimaturlaubs ließ Stan die Aufnahmen in den Vereinigten Staaten auf Schallplatten pressen. Zurück in Korea arrangierte er einen Auftritt für sich und die Mädchen in einer beliebten amerikanischen Fernsehsendung, die gerade dort gedreht wurde.
Das Album Daddy Big Boots: Stan Bronson and the Song Jook Won Girls erschien Anfang des Jahres 1968 in Seoul. Keun Ok wollte die Veröffentlichung des Albums in Korea zu einem großen Ereignis machen. Sie lud den südkoreanischen Präsidenten, den US-Botschafter sowie den Befehlshaber der UN-Truppen in Korea zu einer Feier an einer örtlichen Mädchenschule ein. Obwohl nur der Botschafter anwesend sein konnte, schickten die anderen Persönlichkeiten Vertreter. Die Veröffentlichung des Albums wurde ein großer Erfolg.
Schon bald waren die Sängerinnen aus dem Songjuk-Waisenhaus sehr gefragt.
In den Vereinigten Staaten erhielt unterdessen Truman Madsen, Philosophieprofessor an der Brigham-Young-Universität, ein Memo von seinem Kollegen Richard Bushman, einem Professor der Geschichtsabteilung. Richard war besorgt über einen wissenschaftlichen Artikel, den er gerade gelesen hatte. Der Autor, Wesley Walters, war ein presbyterianischer Geistlicher im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten. Er behauptete, die erste Vision von Joseph Smith widerlegt zu haben.
Im Laufe der Jahre hatten Kritiker immer wieder versucht, die heilige Geschichte der Kirche in Zweifel zu ziehen, wobei sie oft mit denselben unbelegten Behauptungen argumentierten. Aber dieser Artikel unterschied sich von anderen Veröffentlichungen. „Es ist ein gut geschriebener, gut recherchierter Aufsatz“, informierte Richard seinen Kollegen Truman. Ein weiterer Kollege war sogar der Meinung, dass dieser Artikel eine ernsthafte Bedrohung für den Glauben der Heiligen darstelle.
Richard schickte Truman eine Kopie des Artikels. Wesley Walters räumte ein, nicht direkt widerlegen zu können, dass Joseph Smith im Frühjahr 1820 den Vater und den Sohn gesehen habe. Er hatte daher die Angaben des Propheten zum historischen Rahmen der ersten Vision untersucht.
Viele Jahre lang kannten die Heiligen der Letzten Tage nur zwei Berichte, die der Prophet Joseph über die Vision verfasst hatte. Der bekannteste Bericht war 1838 begonnen worden und findet sich in der Köstlichen Perle. Der andere Bericht war Anfang der 1840er Jahre in der Times and Seasons, einer Zeitung der Kirche, veröffentlicht worden. Nun hatten jedoch ein Doktorand der Brigham-Young-Universität und ein Archivar der Kirche in der Sammlung der Joseph-Smith-Papiere zwei noch frühere Berichte über die erste Vision entdeckt.
Wesley Walters hatte die vier Berichte sorgfältig geprüft, um mögliche historische Ungereimtheiten aufzudecken. Als Walters die Behauptung des Propheten hinterfragte, eine in seinem Umfeld stattgefundene Erweckungsbewegung habe ihn dazu veranlasst, den Herrn im Gebet zu suchen, hatte er im fraglichen Zeitraum keinerlei Belege für irgendwelche religiösen Erweckungsbewegungen in der Nähe des Hauses der Familie Smith gefunden – erst fast fünf Jahre nach der ersten Vision hatte so etwas stattgefunden. Walters schloss daraus, Joseph Smith habe seine Geschichte erfunden.
Truman war sich sicher, dass Waltersʼ Forschungsergebnisse falsch waren. Da es jedoch kaum historische Forschungen über die erste Vision und die Anfänge der Kirche gab, konnte er dies nicht beweisen. Als ehemaliger Missionspräsident wusste er, dass viele Menschen das wiederhergestellte Evangelium angenommen hatten, weil der Prophet so eindringlich bezeugt hatte, den Vater und den Sohn gesehen zu haben. Ein Angriff auf die erste Vision schien demnach wie ein Angriff auf das Fundament der Wiederherstellung.
Nachdem Truman den Artikel gelesen hatte, versammelte er eine kleine Gruppe von Historikern in Salt Lake City. Sie alle waren angesehene Gelehrte und engagierte Mitglieder der Kirche. Als sie über den Artikel diskutierten, befanden sie, dass sie mit ihrer akademischen Ausbildung der Kirche helfen könnten. Sie und weitere Gläubige mussten die Geschichte der Kirche neu aufrollen und bei ihren Wurzeln beginnen. Ansonsten würde die Behauptung von Wesley Walters über die erste Vision unwiderlegt bleiben.
Unter der Leitung von Truman bildete die Gruppe ein Komitee, das Wissenschaftler der Kirche anspornen sollte, sich eingehend mit der Anfangsgeschichte der Kirche zu befassen. Um auf Waltersʼ Artikel reagieren zu können, schlug man vor, fünf Historiker in den Osten der Vereinigten Staaten zu entsenden und die dortigen Erweckungsbewegungen sowie die erste Vision zu erforschen. Leider fehlten die finanziellen Mittel hierfür.
Das Komitee versuchte zunächst, an Forschungsgelder von privaten Spendern zu kommen. Als sich dies nur teilweise als erfolgreich erwies, wandte sich Truman an die Erste Präsidentschaft. Präsident McKay und seine Ratgeber hatten bereits andere Bemühungen zur Erforschung und Bewahrung der Geschichte der Kirche unterstützt. Zu Beginn des Jahrzehnts hatten sie zum Beispiel Mittel zum Kauf und zur Erhaltung historischer Liegenschaften in Nauvoo, dem Hauptsitz der Kirche in Ilinois von 1839 bis 1846, zur Verfügung gestellt.
Die Erste Präsidentschaft war außerdem an den Papyrusfragmenten aus dem einstigen Besitz Joseph Smiths interessiert. In enger Zusammenarbeit mit Dr. Aziz Atiya und dem Metropolitan Museum of Art hatte Präsident N. Eldon Tanner dafür gesorgt, dass die Fragmente als Geschenk an die Kirche zurückgegeben wurden. Zeitungen in den gesamten Vereinigten Staaten berichteten darüber, und die Kirche gab eine Pressekonferenz und veröffentlichte in der Zeitschrift Improvement Era Bilder der Fragmente. Auf Bitten der Ersten Präsidentschaft gingen die Fragmente dann zur weiteren Untersuchung als Leihgabe an Hugh Nibley, einen Professor an der Brigham-Young-Universität. Hugh, der führende Altertumsforscher der Kirche, hatte stichhaltige historische Beweise für die Echtheit des Buches Mormon gefunden und war sich sicher, dass er auch für das Buch Abraham Beweise finden werde.
In einem Schreiben im Frühjahr 1968 ersuchte Truman die Erste Präsidentschaft um siebentausend Dollar zur Finanzierung der Forschungsreisen. „Die erste Vision ist geschichtswissenschaftlich stark angegriffen worden“, teilte er mit. „Die Zeit ist ein entscheidender Faktor.“
Anfangs hatte die Erste Präsidentschaft entschieden, das Projekt nicht zu finanzieren. In den letzten Jahren hatte sich die Kirche mit dem Bau von weltweit immer mehr Gemeindehäusern verschuldet – seither waren die Führer der Kirche bei Ausgaben vorsichtiger geworden.
Aber Truman blieb hartnäckig. Er hatte Wesley Walters kürzlich auf einer Konferenz zum Thema Geschichte der Kirche kennengelernt und die Entschlossenheit des Geistlichen gespürt, Joseph Smith diskreditieren zu wollen.
„Er wird alles tun, um als Erster die Quellen aufzuspüren“, warnte Truman die Erste Präsidentschaft. „Wir sind der Meinung, unsere Maßnahmen aufzuschieben, wäre unklug.“ Dieses Mal bat er um fünftausend Dollar.
Präsident McKay und seine Ratgeber überprüften den Antrag erneut und erklärten sich damit einverstanden, das Forschungsteam zu finanzieren.
An einem warmen Septembernachmittag im selben Jahr saß die vierzehnjährige Maeta Holiday allein in einem Bus Richtung Fullerton, einem Vorort von Los Angeles. Sie starrte aus dem Fenster auf die Orangenhaine, die sich auf beiden Seiten der Autobahn erstreckten – eine Landschaft so ganz anders als ihre Heimat in der kargen Wüste an der Grenze zwischen Utah und Arizona.
Maeta war eine Diné, eine Stammesangehörige des Volkes der Navajo. Sie war in einem Reservat für amerikanische Ureinwohner in der Region jener vier heiligen Berge aufgewachsen, welche die traditionellen Grenzen der Heimat ihrer Vorfahren markierten. Im 19. Jahrhundert hatte die Regierung der Vereinigten Staaten indigenen Stämmen wie den Navajo Land weggenommen, um Platz für weiße Siedler zu schaffen, darunter auch für Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, und für die ursprünglichen Bewohner dieses und weitere Reservate geschaffen. Viele Familien hatten ein schweres Los, denn sie waren gezwungen, auf oft minderwertigem Land ihr Dasein zu fristen.
Das Navajo-Reservat, in dem Maeta gewohnt hatte, war riesig, und die Menschen lebten weit voneinander entfernt, sodass es schwierig war, die Kinder überhaupt zur Schule zu schicken. Obendrein waren die von der Regierung finanzierten Internate oft überfüllt und finanziell schlecht ausgestattet. Unter diesen Bedingungen versuchten viele, einer indigenen Volksgruppe angehörige Eltern, das Leben ihrer Kinder zu verbessern, indem sie sie außerhalb des Reservats zur Schule schickten.
So war Maeta im Rahmen des kirchlichen Vermittlungsprogramms für indigene Schüler nun nach Kalifornien unterwegs – zu einer ihr unbekannten weißen Familie. Maetas ältere Schwestern hatten an dem Programm teilgenommen, und sie wollte es ihnen gleichtun. Doch obwohl sie sich voll Begeisterung angemeldet hatte, war ihr bei dem Gedanken an die neue Pflegefamilie doch bange.
Das Vermittlungsprogramm war 1954 unter der Leitung von Elder Spencer W. Kimball gegründet worden. Wie so viele Heilige damals sah er in den amerikanischen Ureinwohnern die direkten Nachfahren der Völker aus dem Buch Mormon. Er war der Meinung, dass die Mitglieder der Kirche die Verantwortung hätten, ihren lamanitischen Brüdern und Schwestern zu helfen, Zugang zu Bildungsmöglichkeiten zu erhalten und ihre göttliche Bestimmung als Bundesvolk zu erfüllen.
Im Rahmen des Vermittlungsprogramms verließen die Kinder dieser Volksgruppen ihr Zuhause in den Reservaten und wohnten während des Schuljahres bei Mitgliederfamilien. Ziel des Programms war es, den Schülern Zugang zu besseren Schulen zu ermöglichen und ihnen ein vom Evangelium geprägtes Zuhause zu bieten. Bis 1968 waren etwa dreitausend Schüler aus mehr als dreiundsechzig Stämmen bei Familien in Kanada und in sieben US-Bundesstaaten untergebracht worden. Zwar gehörten alle Schüler der Kirche an, aber viele hatten vor Beginn des Programms nur sehr wenig mit der Kirche zu tun gehabt.
Glen Van Wagenen, der das Programm im südlichen Kalifornien leitete, hatte von Maeta gehört, als sie in Utah bei einer Familie in Kanab lebte. Maeta war gerne bei dieser Familie und verstand sich besonders gut mit einer Tochter. Als Glen dann Maeta zu Beginn der neunten Klasse einlud, am Vermittlungsprogramm in Kalifornien teilzunehmen, nahm sie das Angebot dankend an.
Maeta war die jüngste von sechs Töchtern von Calvin Holiday und Evelyn Crank. Ihre Eltern hatten sich schon zu Beginn ihrer Ehe der Kirche angeschlossen, später aber das Interesse verloren. Obwohl Maeta im Alter von acht Jahren getauft worden war, besuchte sie weder regelmäßig die Versammlungen noch verstand sie die Bedeutung ihrer Taufe. Um Maetas Ausbildungschancen zu verbessern, schickten ihre Eltern sie, sobald sie alt genug war, nach Arizona in ein Internat für amerikanische Ureinwohner. Sie hatte also mal hier, mal dort gewohnt.
Maeta kannte Familien im Reservat, in denen die Eltern einander liebhatten und die Kinder glücklich waren. Doch in ihrer Familie war das anders. Ihre Eltern ließen sich scheiden. Danach heiratete ihre Mutter noch zweimal. Aus diesen Ehen gingen sechs weitere Kinder hervor. Da Maetas Mutter oft nicht daheim war, musste Maeta sich um ihre jüngeren Geschwister kümmern. Mehr als einmal waren Maeta und ihre Geschwister tagelang allein, hatten wenig zu essen und kaum Wasser. Maeta tat ihr Bestes, um den Hunger der Kinder zu stillen. Manchmal gab es verdorbenes Hammelfleisch oder Dosengerichte.
Als Maeta einmal draußen am Feuer das traditionelle Fladenbrot machte, sah ihre Mutter sie an und meinte: „Das Einzige, wozu du gut sein wirst, ist Kinderkriegen.“ Maeta brach es fast das Herz. In diesem Moment schwor sie sich im Stillen: „Ich werde etwas aus mir machen!“
Als Maeta an der Bushaltestelle im Süden Kaliforniens ankam, war sie erleichtert, von ihrer Mutter weg zu sein. Aber sie war auch nervös, als sie ein Ehepaar mittleren Alters durch die Tür kommen sah. „Das sind also meine neuen Eltern“, dachte sie.
Ihr Pflegevater, Spencer Black, war ein ruhiger, zurückhaltender Mann. Maeta begrüßte ihn mit einer gewissen Skepsis, da sie schlechte Erfahrungen mit Missbrauch gemacht hatte. Ihre Pflegemutter Venna hatte jedoch eine beruhigende Ausstrahlung.
Sie brachten Maeta zu sich nach Hause, wo sie ihre Kinder, die fünfzehnjährige Lucy und den dreizehnjährigen Larry, kennenlernte. Die Blacks hatten noch drei ältere Kinder, die bereits aus dem Haus waren. Maeta machte sich mit ihrem neuen Zuhause vertraut, das über einen großen Kamin und einen Garten voller Blumen verfügte. Da sie ihr ganzes Leben lang mit ihren Geschwistern ein Zimmer geteilt hatte, freute sie sich besonders über ihr eigenes Zimmer.
Aber Maeta war immer noch nicht ganz entspannt. Die Stadt war erdrückend und erstickte im Smog. Und obwohl ihre Pflegeeltern nett waren, fragte sich Maeta, ob diese sie mit ihrer Freundlichkeit manipulierten – so wie es ihre Mutter manchmal gemacht hatte –, damit sie Arbeiten im Haushalt erledigte.
Sie bereute zwar nicht, nach Kalifornien gekommen zu sein, aber als sie am Abend im Bett lag und der laute Verkehrslärm von der Autobahn ihr den Schlaf raubte, vermisste sie doch die Stille des Reservats.