Das Gesetz des Opferns
Dieses Gesetz dient im Wesentlichen zu zweierlei: Es soll uns prüfen und es soll uns helfen, zu Christus zu kommen.
Vor einigen Jahren besuchte ich mit meiner Familie Palmyra in New York, Kirtland in Ohio und Nauvoo in Illinois. Wir dachten an die Anfangszeit der Kirche und die großen Opfer ihrer Gründer, die das Reich Gottes in dieser letzten Evangeliumszeit aufgerichtet haben.
Ich sann über ihren demütigen Gehorsam nach, was mich dazu veranlasste, über das Gesetz des Opferns nachzusinnen, das ja ewig gilt und ein wesentlicher Bestandteil des Evangeliums Jesu Christi ist. Dieses Gesetz wurde zur Zeit des Alten Testaments ebenso befolgt wie zur Zeit des Neuen Testaments und im Buch Mormon. Zwar änderte sich die Praxis dieses Gesetzes zur Zeit des Neuen Testaments, doch der Zweck des Gesetzes blieb auch dann derselbe, als das mosaische Gesetz durch das Sühnopfer Christi erfüllt worden war.
Wer „mosaisches Gesetz“ hört, denkt zunächst wohl an Tieropfer. Wegen der grausig anmutenden Art des Blutopfers mag sich manch einer fragen: „Was kann denn so etwas mit dem Evangelium der Liebe zu tun haben?“ Die Antwort wird leichter verständlich, wenn wir uns die beiden Hauptzwecke des Gesetzes des Opferns vergegenwärtigen. Sie galten für Adam, Abraham, Mose und die Apostel zur Zeit des Neuen Testaments, und sie gelten auch für uns, wenn wir heute das Gesetz des Opferns annehmen und danach leben. Dieses Gesetz dient im Wesentlichen zu zweierlei: Es soll uns prüfen und es soll uns helfen, zu Christus zu kommen.
„Ich habe in meinem Herzen beschlossen, spricht der Herr, euch in allem zu erproben, ob ihr in meinem Bund beharren wollt ; ja, bis zum Tod, damit ihr als würdig befunden werden könnt.
Denn wenn ihr nicht in meinem Bund beharrt, seid ihr meiner nicht würdig.“ (LuB 98:14,15; Hervorhebung hinzugefügt.)
Durch das Gesetz des Opferns können wir demnach dem Herrn beweisen, dass wir ihn mehr als alles andere lieben. Unser Weg wird dann manchmal schwer, weil wir ja vollkommen gemacht werden sollen – bereit für das celestiale Reich, wo wir „für immer und immer in der Gegenwart Gottes und seines Christus wohnen“ sollen (siehe LuB 76:62).
Präsident Ezra Taft Benson (1899–1994) hat außerdem gesagt, die heilige Mission der Kirche bestehe darin, alle einzuladen, zu Christus zu kommen (siehe LuB 20:59). (Siehe ‚„Come unto Christ, and Be Perfected in Him‘“, Ensign, Mai 1988, Seite 84; siehe auch Moroni 10:32.) So gesehen ist das Gesetz des Opferns immer ein Mittel, wodurch die Kinder Gottes zum Herrn Jesus Christus kommen können.
Inwiefern hilft uns das Opfern, zu Christus zu kommen? Niemand nimmt je den Erretter an, ohne zunächst an ihn zu glauben. Daher ist der erste Grundsatz des Evangeliums der Glaube an den Herrn Jesus Christus. Und deswegen hat der Prophet Joseph Smith (1805– 1844) eine grundlegende Beziehung zwischen dem Grundsatz des Glaubens und dem Grundsatz des Opferns deutlich gemacht: „Wir wollen hier anmerken: Eine Religion, die nicht verlangt, dass man alles opfert, hat niemals genügend Macht, solchen Glauben hervorzubringen, der für Leben und Errettung notwendig ist. … Die Menschen können nur dadurch, dass sie alles Irdische opfern, sicher wissen, dass sie das tun, was vor Gott angenehm ist. Wenn ein Mensch um der Wahrheit willen alles, was er hat, als Opfer dargeboten hat und sich nicht einmal an sein Leben klammert und wenn er vor Gott daran glaubt, dass er berufen ist, dieses Opfer zu bringen, weil er sich bemüht, seinen Willen zu tun, weiß er mit Gewissheit, dass Gott sein Opfer wirklich annimmt und dass er sein Angesicht nicht vergebens sucht. Unter diesen Umständen kann er also den Glauben erlangen, den er braucht, um ewiges Leben zu ergreifen.“ ( Lectures on Faith [1985], Seite 69.)
Fassen wir zusammen: Wir müssen wissen, dass das, was wir tun, in den Augen Gottes wohlgefällig ist, und außerdem wissen, dass wir diese Erkenntnis durch Opfer und Gehorsam erlangen. Wer auf diese Weise zu Christus kommt, empfängt eine Zuversicht, die seiner Seele Frieden zuspricht und ihn letztlich befähigt, ewiges Leben zu ergreifen.
Was Wir Durch Opferbereitschaft Lernen
Durch Opferbereitschaft lernen wir etwas über uns selbst – nämlich was wir aufgrund unseres Gehorsams dem Herrn zu geben bereit sind.
Bruder Truman G. Madsen hat einmal mit Präsident Hugh B. Brown (1883–1975), einem Apostel des Herrn, der als Zweiter Ratgeber und später als Erster Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft gedient hat, Israel bereist. Im Hebron-Tal, wo sich der Überlieferung nach das Grab Abrahams befindet, fragte Bruder Madsen Präsident Brown: „Worin bestehen die Segnungen Abrahams, Isaaks und Jakobs?“ Nach kurzem Nachdenken sagte Präsident Brown: „Nachkommen“.
Bruder Madsen schreibt: „Da entfuhr mir die Frage: ‚Aber warum wurde Abraham dann geboten, zum Berg Morija zu gehen und dort seine einzige Hoffnung auf Nachkommenschaft als Opfer darzubringen?‘
Es war [Präsident Brown], der damals fast 90 Jahre alt war, deutlich anzusehen, dass er über diese Frage lange nachgedacht und auch gebetet und geweint hatte. Er antwortete schließlich: ‚Abraham musste etwas über Abraham lernen.‘“ ( The Highest in Us [1978], Seite 49.)
Wenden wir uns nun einer weiteren Art und Weise zu, wie das Gesetz des Opferns die Menschen zu Christus brachte. Die Blutopfer in alter Zeit brachten die Menschen zu Christus, weil sie ein Sinnbild und ein Vorzeichen seines Lebens und seiner Mission waren.
Adam wurde gesagt, das Opfer auf dem Altar sei „ein Sinnbild für das Opfer des Einziggezeugten des Vaters“ (Mose 5:7). Daraus können wir schließen, dass die Kinder des himmlischen Vaters am Anfang um die Beziehung zwischen dem Darbringen von Opfergaben und dem Opfer des Lammes Gottes wussten (siehe LuB 138:12,13).
Im Buch Mormon finden wir mit die klarsten Lehren über den Zweck des Gesetzes des Opferns, wie es nach dem mosaischen Gesetz praktiziert wurde. Nephi sagt, es sei gegeben worden, weil es sinnbildlich auf das Opfer Christi hinweise (siehe 2 Nephi 11:4). Er schreibt: „So befolgen wir das Gesetz des Mose und schauen standhaft nach Christus aus. … Denn zu diesem Zweck ist das Gesetz gegeben worden.“ (2 Nephi 25:24,25.) Und in Alma steht: „[Sie] schauten … nach dem Kommen Christi aus, denn sie betrachteten das Gesetz des Mose als ein Vorbild seines Kommens. … Das Gesetz des Mose diente ihnen dazu, den Glauben an Christus zu stärken.“ (Alma 25:15,16.)
Der Prophet Joseph Smith hat gelehrt: „Wann auch immer der Herr sich den Menschen in alter Zeit offenbarte und ihnen gebot, ihm Opfer dazubringen, so geschah dies, damit sie glaubensvoll nach der Zeit seines Kommens ausschauen und auf die Macht der Versöhnung zur Vergebung der Sünden vertrauen sollten.“ ( Lehren des Propheten Joseph Smith, Hg. Joseph Fielding Smith [1976], Seite 63; siehe auch Seite 60 f.)
Präsident Spencer W. Kimball (1895–1985) erklärte einmal einem jungen Mann, der um ein Zeugnis rang, dass es der Anstrengung und des Kampfes bedarf, wenn wir durch Jesus Christus errettet werden sollen. Er sagte dem jungen Mann: „Durch Opfer und Dienen lernt man den Herrn kennen.“ In dem Maß, wie wir unsere selbstsüchtigen Wünsche opfern und Gott und unseren Mitmenschen dienen, werden wir Gott ähnlicher.
Elder Russell M. Nelson vom Kollegium der Zwölf Apostel hat gesagt:
„Wir sollen zwar immer noch Opfer bringen, aber nicht, indem wir Tierblut vergießen. Höchste Opferbereitschaft entwickeln wir, indem wir uns jeden Tag mehr heiligen.
Das tun wir, indem wir Gottes Gebote befolgen. Das Gesetz des Gehorsams und das Gesetz des Opferns sind also untrennbar miteinander verbunden. … Wenn wir diese und andere Gebote halten, geschieht mit uns etwas Wunderbares. … Wir werden heiliger – dem Herrn ähnlicher!“ („Was wir von Eva lernen können“, Der Stern, Januar 1988, Seite 82.)
Schon Von Anfang An Ein Gesetz
Das Gesetz des Opferns und weitere Grundsätze des Evangeliums haben wir bereits im vorirdischen Dasein kennen gelernt. Dort erfuhren wir von der Fülle des Evangeliums und vom Erlösungsplan (siehe LuB 138:56). Wir wussten um die Mission des Erretters und sein zukünftiges Sühnopfer und bereitwillig erkannten wir ihn als Erretter und Erlöser an. Aus Offenbarung, Kapitel 12, Vers 9 und 11 geht hervor, dass wir „durch das Blut des Lammes“ (nämlich das Sühnopfer Christi) und unser Zeugnis in der Lage sind, den Satan zu besiegen. Präsident Joseph F. Smith (1838–1918) hat gesagt: „Der Herr hat von Anfang an vorgesehen, dem Menschen die Erkenntnis von Gut und Böse vorzulegen, und er gab ihm das Gebot, am Guten festzuhalten und das Böse zu meiden. Sollte er aber Fehler machen, so wollte er ihm das Gesetz des Opferns geben und ihm einen Erretter geben, damit er wieder in die Gegenwart und Gunst Gottes gelangen und mit ihm ewiges Leben haben könne. Das war der Erlösungsplan, den der Allmächtige erwählt und in Kraft gesetzt hat, ehe der Mensch auf die Erde kam.“ ( Lehren der Präsidenten der Kirche: Joseph F. Smith [1998], Seite 98.)
Adam und Eva wurden im Gesetz des Opferns unterwiesen. Ihnen wurde geboten, dieses Gesetz dadurch zu befolgen, dass sie opferten; dabei ging es vor allem um zwei Sinnbilder: die Erstlinge der Herde und die ersten Früchte des Feldes. Adam und Eva gehorchten, ohne Fragen zu stellen (siehe Mose 5:5,6). Präsident David O. McKay (1873–1970) hat gesagt: „Die Absicht dahinter war, dass das Beste, was die Erde hervorbringt, und die besten Tiere der Herde nicht für den Menschen verwendet werden sollen, sondern für Gott.“ (“The Atonement”, Instructor, März 1959, Seite 66.) Zu einer Zeit, wo es ohnehin schwer war, genug Nahrung für die Familie zu beschaffen, sollten diejenigen, die den Herrn verehren wollten, das Beste ihrer Lebensgrundlage als Opfer darbringen. Dies war für Adam und Eva eine wahre Glaubensprüfung und sie gehorchten.
Ebenso haben Abel, Noach, Abraham, Isaak, Jakob und alle die heiligen Propheten von Adam bis Mose dem Herrn auf gleiche Weise Opfer dargebracht.
Das Mosaische Gesetz
Da sich die Israeliten in den Tagen des Mose immer wieder gegen Gott auflehnten, wurden die Opfervorschriften abgeändert. Das Opfern war nun ein striktes Gesetz, dessen Vorschriften tagtäglich beachtet werden mussten. Zur Zeit des Mose wurden Anzahl und Art der Opfergaben unter dem Gesetz des Opferns erweitert. Die mosaischen Opfer bestanden im Wesentlichen aus fünf Opfergaben, die in zwei Kategorien eingeteilt waren, nämlich in Pflichtopfer und freiwillige Opfer. Der Unterschied zwischen den Pflichtopfern und den freiwilligen Opfern lässt sich mit dem Unterschied zwischen dem Gesetz des Zehnten und dem Gesetz des Fastopfers vergleichen.
Eines blieb jedoch bei all diesen Opfern unverändert. Alles am Opfern unter dem mosaischen Gesetz bezog sich auf Christus. Der Priester war, wie Christus, der Mittler zwischen dem Volk und Gott. Wie Christus musste der Priester die rechte Abstammung aufweisen, um sein Amt ausüben zu können. Und wie Christus brachte der Opfernde freiwillig und gehorsam das dar, was vom Gesetz gefordert wurde.
Der Teil des Opferns, der am meisten der Rolle des Erretters vergleichbar ist, war die Opfergabe selbst. Betrachten wir einmal einige Gemeinsamkeiten.
Erstens wurde das Tier – wie Christus – durch Händeauflegen erwählt und gesalbt. (Das hebräische Wort Messias und das griechische Christos bedeuten beide „der Gesalbte“.) Zweitens musste das Lebensblut des Tieres vergossen werden. Drittens musste das Tier fehlerlos sein, es durfte also keinerlei körperliche Mängel aufweisen und musste völlig gesund und vollkommen sein. Viertens musste das Opfertier rein und würdig sein. Fünftens musste das Opfertier ein Haustier sein; es durfte kein wildes Tier sein, sondern musste eines sein, das dem Menschen nützlich war (siehe Levitikus 1:2,3,10; 22:21). Sechstens und siebtens musste das Tier bei den ursprünglichen Opfern, wie Adam sie darbrachte, und beim häufigsten Opfer unter dem mosaischen Gesetz ein erstgeborenes, männ-liches Tier sein (siehe Exodus 12:5; Levitikus 1:3; 22:18–25). Achtens musste im Fall von Getreideopfern das Getreide zu Mehl gemahlen und zu einer Art Brot gebacken sein, was an die Bezeichnung „Brot des Lebens“ für den Herrn erinnert (siehe Johannes 6:48). Neuntens wurden Erstlinge geopfert, was daran erinnern soll, dass Christus bei der Auferstehung der Erste der Entschlafenen sein sollte (siehe 1 Korinther 15:20). (Siehe Daniel H. Ludlow, Hg., Encyclopedia of Mormonism, 5 Bände [1992], 3:1248 f.)
Das Gesetz Wird Erfüllt
Zur Zeit des Neuen Testaments wurde das Gesetz des Opferns mit seinen verschiedenen Opferkategorien, wie es Mose kundgetan worden war, noch immer vollzogen. Der Christus des Neuen Testaments war im Alten Testament Jahwe, derjenige nämlich, der das mosaische Gesetz ursprünglich gegeben hatte; er selbst hatte all das ins Gesetz schreiben lassen, was konkret auf sein späteres Sühnopfer hindeutete. Er war es demnach auch, in dessen Macht es stand, das Gesetz zu erfüllen, und seine letzten Worte „Es ist vollbracht“ (Johannes 19:30) deuten darauf hin, dass er es schließlich erfüllt hatte.
Amulek hat erklärt, auf welche Weise das Gesetz erfüllt werden sollte:
„Darum ist es ratsam, dass es ein großes und letztes Opfer gebe; und dann wird dem Blutvergießen Einhalt getan werden; … dann wird das Gesetz des Mose erfüllt sein. …
Und siehe, dies ist die ganze Bedeutung des Gesetzes – in allem und jedem deutet es auf das große und letzte Opfer hin; und dieses große und letzte Opfer wird der Sohn Gottes sein, ja, unbegrenzt und ewig.“ (Alma 34:13,14.)
Hierin liegt eine sehr wichtige Wahrheit. Wir müssen wissen, dass das mosaische Gesetz nicht gleichzusetzen ist mit dem Gesetz des Opferns. Das mosaische Gesetz ist erfüllt, doch die Grundsätze des Gesetzes des Opferns sind noch immer Teil der Lehre der Kirche. Der Hauptzweck des Gesetzes des Opferns ist immer noch der, dass wir geprüft werden und dass es uns helfen soll, zu Christus zu kommen. Nach dem letzten Opfer, dem des Erretters, wurden an diesem Gesetz zwei Änderungen vorgenommen: Erstens wurde anstelle des Opfers das Abendmahl als heilige Handlung eingeführt, und zweitens stand im Mittelpunkt nun nicht mehr das Opfertier, das dem Menschen gehört, sondern der Mensch selbst. Das Opfern hat sich sozusagen von der Gabe auf den Geber verlagert.
Betrachten wir das Abendmahl und das Tieropfer, das es ersetzt hat, so fällt uns auf, dass die beiden heiligen Handlungen viel gemeinsam haben. Sowohl für das Tieropfer als auch für das Abendmahl gilt:
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Beide hängen von der Einstellung und der Würdigkeit des Betreffenden ab (siehe Amos 5:6,7, 9,10, 21,22; 3 Nephi 18:27–29; Moroni 7:6,7).
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Beide sollen von einem Priester des Aaronischen Priestertums vollzogen werden (siehe LuB 13:1; 20:46).
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Beide stellen Christus in den Mittelpunkt (siehe Lukas 22:19,20; Alma 34:13,14).
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Beide verwenden Sinnbilder, die das Fleisch und Blut Christi darstellen (siehe Lukas 22:19,20; Mose 5:6,7).
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Beide sind ein Mittel, wodurch der Mensch Bündnisse mit Gott eingehen bzw. diese erneuern kann (siehe Levitikus 22:21; LuB 20:77,79).
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Beide finden regelmäßig am Sabbat statt, aber auch bei anderen besonderen Anlässen (siehe Levitikus 23:15; LuB 59:9–13).
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Beide werden mit einem Mahl in Verbindung gebracht, das symbolisch das Sühnopfer darstellt (siehe Levitikus 7:16–18; Matthäus 26:26).
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Es sind die einzigen errettenden heiligen Handlungen, an denen der Mensch um seiner selbst willen mehr als einmal teilnimmt.
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Beide stellen einen wichtigen Schritt beim Vorgang der Umkehr dar (siehe Levitikus 19:22; 3 Nephi 18:11; Mose 5:7,8).
Präsident Joseph F. Smith hat gesagt, der Zweck des Abendmahls bestehe darin, „dass wir immer an den Sohn Gottes denken, der uns vom ewigen Tod erlöst hat und uns durch die Macht des Evangeliums ins Leben zurückgebracht hat. Ehe Christus zur Erde kam, wurden die Erdenbewohner … durch eine andere heilige Handlung daran erinnert, nämlich durch das Opfer tierischen Lebens, das ein vorwegnehmendes Sinnbild des großen Opfers war, das in der Mitte der Zeit stattfinden sollte.“ ( Lehren der Präsidenten der Kirche: Joseph F. Smith, Seite 102.)
Sich Selbst Als Opfer Darbringen
Christus hob nach seinem irdischen Wirken das Gesetz des Opferns auf eine höhere Ebene. Jesus beschrieb den nephitischen Aposteln, wie das Gesetz weiterhin bestehen solle. Er sagte, dass er von nun an keine Brandopfer mehr annehmen werde, sondern dass seine Jünger ihm „als Opfer ein reuiges Herz und einen zerknirschen Geist darbringen“ sollten (3 Nephi 9:19,20; siehe auch LuB 59:8,12). Der Herr verlangt nun keines unserer Tiere und keine Früchte des Feldes mehr, sondern er möchte, dass wir alles aufgeben, was ungöttlich ist. Diese höhere Ausübung des Gesetzes des Opferns erstreckt sich bis ins Innere des Menschen. Elder Neal A. Maxwell vom Kollegium der Zwölf Apostel hat gesagt:,,Es ist also so, dass ein wirkliches, persönliches Opfer nie darin bestanden hat, ein Tier auf den Altar zu legen. Vielmehr besteht es in der Bereitschaft, das Tier in uns auf den Altar zu legen und es von den Flammen verzehren zu lassen!“ („Verzichtet auf alles, was ungöttlich ist“, Der Stern, Juli 1995, Seite 62.)
Und wie zeigen wir dem Herrn nun, dass wir uns symbolisch auf den Opferaltar von heute gelegt haben? Wir zeigen es ihm, indem wir das wichtigste Gebot halten: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken.“ (Matthäus 22:37.) Wenn wir unsere selbstsüchtigen Wünsche überwinden und Gott an die erste Stelle setzen und geloben, ihm unter allen Umständen zu dienen, dann leben wir nach dem Gesetz des Opferns.
Wir können sicher sein, dass wir das erste große Gebot halten, wenn wir das zweite große Gebot halten. Der Herr hat gesagt: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25:40.) König Benjamin lehrt: „Wenn ihr euren Mitmenschen dient, allein dann dient ihr eurem Gott.“ (Mosia 2:17.) Wie sehr wir den Herrn und unsere Mitmenschen lieben, lässt sich daran ermessen, zu welchen Opfern wir um ihretwillen bereit sind. Opferbereitschaft ist ein Zeichen reiner Liebe.
Mitunter lässt sich ein Grundsatz besonders gut durch ein Beispiel aus dem Leben veranschaulichen. Ich möchte Ihnen hier zwei Beispiele nennen, von denen ich weiß. Viele Mitglieder können ebenfalls solche Beispiele von Opferbereitschaft erzählen, die sich in ihrer Familie zugetragen haben.
Mein Urgroßvater, Henry Ballard, schloss sich in England der Kirche an, wanderte dann nach Amerika aus und hatte auf dem Weg nach Utah viel zu erleiden. Auch meine Urgroßmutter, Margaret McNeil Ballard, hat viel erdulden müssen, als sie als elfjähriges Mädchen über die Prärie zog. Als ich vor einigen Jahren mit meiner Familie den Pionierweg entlang zog, fragte ich mich, wie meine glaubenstreuen Urgroßeltern diesen Treck überhaupt überleben und wie sie all das vollbringen konnten, was sie im Laufe ihres Lebens geleistet haben. Bestimmt haben sie Gott und seinen heiligen Sohn kennen gelernt, da sie bereitwillig alles, was sie hatten, in den Dienst Gottes stellten. Henry Ballard diente fast 40 Jahre lang treu als Bischof der Gemeinde Logan 2. Seine liebe Frau Margaret diente 30 Jahre lang als FHV-Leiterin.
Selbst wenn heute von uns andere Opfer verlangt werden, soll doch unsere Verpflichtung gegenüber dem Gottesreich ebenso groß sein wie die unserer treuen Vorfahren. Viele Beispiele in der Kirche von heute zeigen, dass es noch immer wichtig ist, um des Evangeliums willen Opfer zu bringen; wenn wir zu Christus kommen wollen, müssen wir heute genau so viel Selbstverpflichtung und Engagement an den Tag legen wie eh und je.
Vor kurzem präsidierte ich über eine Regionskonferenz in La Paz in Bolivien. Manche Mitglieder dort wohnen in entlegenen Ortschaften und Dörfern, und der Besuch der Versammlungen verlangt ihnen große Opferbereitschaft und Selbstverpflichtung ab. Vor der Priestertums-Führerschaftsversammlung unterhielt ich mich mit einigen der Brüder, die sich eingefunden hatten. Mir fiel dabei auf, dass das Hemd eines älteren Bruders ab der Mitte der Brust anders gefärbt war als oberhalb. Oben war es weiß, unten rotbraun. Er war mit drei anderen, die alle das Melchisedekische Priestertum trugen, viele Stunden unterwegs gewesen. Sie waren fast die ganze Strecke zu Fuß gegangen und hatten zwei Flüsse durchwatet, deren rotbraunes Wasser ihnen bis zur Brust reichte. Schließlich hatten sie einen LKW angehalten und die beiden letzten Stunden stehend hinten auf der Ladefläche verbracht.
Ihre Opferbereitschaft stimmte mich sehr demütig. Einer dieser glaubenstreuen Männer sagte zu mir: „Elder Ballard, Sie sind ein Apostel des Herrn. Meine Brüder und ich würden alles tun, was erforderlich ist, um von Ihnen unterwiesen zu werden.“
Haben auch wir diese Einstellung, wenn wir zu einer Führerschaftsversammlung im Pfahl, in der Gemeinde, im Zweig oder im Distrikt eingeladen sind?
Die Segnungen Des Opferns
Viele unserer Kirchenlieder bringen zum Ausdruck, dass Opferbereitschaft den Segen des Himmels herabruft. Das ist ein wahrer Grundsatz. Ich möchte Ihnen dazu etwas erzählen, was ich selbst erlebt habe.
Ich wurde 1958 Bischof einer Gemeinde am Stadtrand von Salt Lake City. Damals trugen die Mitglieder noch 50 Prozent der Baukosten für ihr Gemeindehaus. Eine meiner wichtigsten Führungserfahrungen machte ich einige Wochen vor der Weihung des Gemeindehauses. Unsere Gemeinde bestand aus jungen Familien, die alle zu kämpfen hatten, um mit ihrem Geld auszukommen. Wir mussten aber noch 30 000 US-Dollar aufbringen. Ich fastete und betete und wollte wissen, was ich den Mitgliedern bezüglich dieser Verpflichtung sagen solle, denn wir hatten ihnen bereits viel Geld abverlangt.
Ich hatte den Eindruck, ich solle den Brüdern in der Priestertumsversammlung das Zeugnis vorlesen, das mein Großvater Melvin J. Ballard gegeben hatte, als er am 7. Januar 1919 als Mitglied des Kollegiums der Zwölf Apostel ordiniert wurde. Ich will hier nur einen kleinen Auszug daraus zitieren; 1917 erflehte er die Hilfe des Herrn in einer Angelegenheit, für die es keine Erfahrungswerte gab.
„In der Nacht hatte ich eine wunderbare Kundgebung, die sich mir unauslöschlich eingeprägt hat. Ich wurde an diesen Ort gebracht – in dieses Zimmer. Ich sah mich hier zusammen mit Ihnen. Mir wurde gesagt, ich dürfe noch etwas Besonderes erleben, und ich wurde in ein weiteres Zimmer geführt. Dort sollte ich jemandem begegnen. Als ich das Zimmer betrat, sah ich, etwas erhöht auf einer Plattform, das herrlichste Wesen sitzen, das ich mir je vorstellen könnte. Als ich näher trat, lächelte er und streckte mir die Hände entgegen. … Er nahm mich in die Arme und küsste mich, er drückte mich an seine Brust und segnete mich, so dass ich von Kopf bis Fuß davon durchdrungen war! Ich fiel ihm zu Füßen und sah dort die Nägelmale; und als ich sie küsste, war ich so sehr von Freude erfüllt, dass ich meinte, ich sei wirklich und wahrhaftig im Himmel. Ich konnte nur noch denken: Ach, wenn ich doch würdig leben kann, … dass ich am Ende, wenn ich alles vollbracht habe, in seine Gegenwart gelangen und dasselbe Gefühl haben kann – ich würde alles geben, was ich bin und jemals zu sein hoffe!“ (Melvin R. Ballard, Melvin J. Ballard: Crusader for Righteousness [1966], Seite 66; siehe auch Der Stern, Juli 1992, Seite 71.)
Damals berührte der Geist des Herrn das Herz der treuen Brüder in der Priestertumsversammlung meiner Gemeinde. Wir wussten alle, dass sich unser Ziel mit größerem Glauben an Jesus Christus, unseren Erretter und Erlöser, erreichen ließ. Im Laufe des Tages kam eine Familie nach der anderen in mein Büro, und sie alle spendeten Geld und brachten Opfer, die weit über das hinausgingen, was ich als Bischof je von ihnen verlangt hätte. Bis acht Uhr am Sonntagabend hatte der Finanzsekretär Quittungen für insgesamt etwas mehr als 30 000 Dollar ausgestellt.
Diese Opferbereitschaft hat den Mitgliedern unserer Gemeinde wahrhaftig den Segen des Himmels gebracht. Damals habe ich unter Menschen gelebt, die einig waren und sich sehr umeinander kümmerten. Als wir unser größtes Opfer brachten, waren wir miteinander im wahren Geist des Evangeliums der Liebe und des Dienens verbunden.
Noch immer sind Opfer notwendig, damit wir den Glauben entwickeln, den wir brauchen, um ewiges Leben erlangen zu können. Ich bin der Meinung, dass wir dem Herrn und dem himmlischen Vater unsere Liebe dadurch zeigen sollen, dass wir dem Herrn und unseren Mitmenschen mit mehr geistiger Hingabe dienen.
Überfluss Als Prüfung
Wenn wir so das Gesetz des Opferns betrachten, wollen wir auch einen Blick auf das Umfeld werfen, in dem wir leben. Heutzutage werden uns schier unfassbare Segnungen zuteil. Wir müssen darauf achten, dass wir nicht undankbar werden. Der Herr hat gesagt: „Und in nichts beleidigt der Mensch Gott, oder gegen niemanden entflammt sein Grimm, ausgenommen diejenigen, die nicht seine Hand in allem anerkennen.“ (LuB 59:21.) Der Geist des Gesetzes des Opferns fördert die Dankbarkeit.
Wir leben in einer Zeit großen Wohlstands, die sich im Rückblick als für uns seelisch ebenso schädlich erweisen könnte wie sich die Verfolgung physisch auf unsere Pioniere ausgewirkt hat. Präsident Brigham Young (1801–1877) hat warnend darauf hingewiesen: „Wir haben Armut, Verfolgung und Unterdrückung ertragen; und viele unter uns haben all ihren materiellen Besitz verloren. Doch muss sich erst erweisen, ob wir auch den Wohlstand ertragen und bereitwillig Gott dienen werden. Es muss sich erst erweisen, ob wir bereitwillig auch Millionenbeträge als Opfer darbringen, so wie wir unsere Habe opferten, als wir noch vergleichsweise arm waren.“ ( Deseret News Weekly, 26. Oktober 1870, Seite 443.)
Wir tun gut daran, wenn wir uns den Kreislauf des Wohlstandes im Buch Mormon vor Augen halten, wie nämlich diejenigen, die wegen ihrer Rechtschaffenheit gesegnet waren, reich wurden und in der Folge den Herrn vergaßen. Vergessen wir nicht den Herrn, wenn es uns wohl ergeht! Bewahren wir in uns den Geist des Gesetzes des Opferns und danken wir ihm immer für alles, was wir haben – selbst wenn wir weniger haben sollten als jemand anders.
Hören wir doch, welche Opferbereitschaft in den heiligen Schriften von uns gefordert wird: „Bringt [Gott] eure ganze Seele als Opfer dar.“ (Omni 1:26; siehe auch Mosia 2:24.) Im Römerbrief werden wir aufgefordert, uns „selbst als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen“ (Römer 12:1). Und der Herr sagt, wir müssen unsere „Bündnisse … halten, indem [wir] opfern – ja, jedes Opfer, das ich, der Herr gebiete“ (LuB 97:8). Das Opfer, das der Her von uns verlangt, besteht darin, dass wir „den natürlichen Menschen“ gänzlich ablegen (Mosia 3:19), ebenso alles, was damit an Ungöttlichem verbunden ist. Wenn wir uns dem Herrn völlig unterwerfen, bewirkt er in uns eine mächtige Wandlung und wir werden ein neuer Mensch – gerechtfertigt, geheiligt und von neuem geboren, wobei wir sein Abbild in unseren Gesichtsausdruck aufnehmen (siehe Mosia 5:2; Alma 5:14; Mose 6:59,60).
In der Opferbereitschaft hat uns der Herr und Erretter – wie in allem – das höchste Beispiel gegeben. Seine göttliche Mission fand ihren Höhepunkt, als er zu unserer Erlösung sein Leben hingab. Dadurch, dass er sich selbst zum Opfer brachte, hat er es möglich gemacht, dass uns die Sünden vergeben werden und wir in die Gegenwart des Vaters zurückkehren können.
Ich bin heute ein besonderer Zeuge für dieses einzigartige Ereignis. Ich gebe davon Zeugnis, welch weitreichende Folgen diese heiligste aller Opfergaben hat. Und wenn dann in einer anderen Welt später einmal unser endlicher Verstand sich erweitert, werden wir die umfassende Macht des Sühnopfers besser verstehen und uns gedrängt fühlen, dem Erretter noch dankbarer zu sein, ihn noch mehr zu bewundern und zu verehren und zu lieben, als uns dies in unserem gegenwärtigen Zustand möglich ist.
Ich fürchte nur eines, nämlich dass uns der Grundsatz des Opferns entgleitet. Dieser Grundsatz ist ein Gesetz Gottes. Wir müssen ihn begreifen und danach handeln. Wenn es zu leicht wird, der Kirche anzugehören, dann wird das Zeugnis seicht und seine Wurzeln reichen nicht so tief wie bei unseren Pioniervorfahren in den Boden des Glaubens. Möge Gott einem jedem von uns gewähren, dass wir das Gesetz des Opferns verstehen und die Überzeugung erlangen, dass dieses Gesetz auch heute noch nötig ist. Es ist unabdingbar, dass wir dieses Gesetz verstehen und danach leben.
Nach einer Ansprache an die Lehrer im Bildungswesen der Kirche, Brigham-Young-Universität, 13. August 1996.