2002
Er erwies ihnen seine Liebe bis zur Vollendung
September 2002


Er erwies ihnen seine Liebe bis zur Vollendung

Ich möchte Ihnen, den glaubenstreuen Mitgliedern der Kirche, dafür danken, dass Sie mich in meiner Berufung unterstützen. Es ist nichts Geringes, jemandem die Unterstützung auszusprechen. Es bedeutet, dass wir ihm Kraft geben und ihm helfen, dass wir ihn – im buchstäblichen Sinne des Wortes – „stützen“. Wer einen anderen solchermaßen unterstützt, fördert ihn in seiner Entwicklung und sorgt dafür, dass er seine Arbeit tun kann. Wer einen Freund, einen Nachbarn oder einen Fremden unterstützt, schenkt ihm damit Kraft und leistet ihm Beistand. Wir stärken einander, so dass wir die gegenwärtige Last tragen können.

Jesus Schenkt Uns Unterstützung

Wie in allen anderen Lebensbereichen ist der Herr Jesus Christus auch in dieser wichtigen Sache unser Vorbild und Ideal. Sein Arm ist unendlich stark, und er harrt bis ans Ende aus. Nirgendwo zeigt sich seine Treue deutlicher als in den letzten Augenblicken seines irdischen Lebens – in den Stunden, da er sich wohl hätte wünschen können, dass jemand ihm beisteht.

Als das heilige Mahl des letzten Paschafestes zubereitet wurde, lasteten Jesus sehr tief gehende Empfindungen auf der Seele. Nur er wusste, was ihm unmittelbar bevorstand, doch vielleicht war selbst ihm das Ausmaß der Schmerzen nicht bewusst, die er ertragen musste, ehe gesagt werden konnte: „Des Menschen Sohn ist hinabgestiegen unter das alles.“ (LuB 122:8.)

Bewegt von solchen Gedanken, erhob sich Christus leise im Verlaufe des Mahls, umgürtete sich wie ein Sklave oder Knecht und kniete nieder, um den Aposteln die Füße zu waschen (siehe Johannes 13:3–17). Die kleine Gruppe von Gläubigen in dem gerade erst gegründeten Gottesreich hatte ihre schwerste Prüfung vor sich, und deshalb schob der Herr seine wachsende Qual beiseite, um ihnen noch einmal zu dienen und sie zu stärken. Es machte ihm nichts aus, dass niemand ihm die Füße wusch. In tiefer Demut fuhr er fort, zu unterweisen und zu reinigen. Bis zu seiner letzten Stunde – und darüber hinaus – war er ihr Knecht und unterstützte sie. Johannes, der das Wunder all dessen miterlebte, schrieb: „Da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung.“ (Johannes 13:1.)

So war es, und so würde es weiterhin sein – die ganze Nacht seines Leidens hindurch und für immer. Er würde immer ihre Stärke sein; keine Seelenqual konnte ihn jemals davon abhalten, sie zu unterstützen.

In der Stille jener mondhellen Nacht im Nahen Osten wurde jeder heftige Schmerz, jeder herzzerreißende Kummer, jedes niederschmetternde Fehlverhalten und jeder Schmerz eines jeden Mannes, einer jeden Frau und eines jeden Kindes – der gesamten Menschheit – auf seine müden Schultern gelegt. In solch einem Augenblick sagt er uns, was man damals eher ihm hätte sagen sollen: „Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht.“ (Johannes 14:27.)

„Ihr werdet weinen und klagen“, hat er gesagt – traurig, einsam, angsterfüllt und manchmal sogar verfolgt, „aber euer Kummer wird sich in Freude verwandeln…. Habt Mut: Ich habe die Welt besiegt.“ (Johannes 16:20,33.)

Wie kann er das sagen? Wie kann er von Mut und Freude sprechen? In einer solchen Nacht? Er wusste doch um die Schmerzen, die ihm bevorstanden. Aber dies waren die Segnungen, die er seit jeher brachte, so hatte er schon immer gesprochen – und er tat es bis zuletzt.

Jesus Harrte Aus Und Siegte

Wir wissen nicht, inwieweit die Jünger die bevorstehenden Ereignisse verstanden, wir wissen aber, dass Christus in seinen letzten Stunden allein war. Er sagte seinen Brüdern ganz freimütig: „Meine Seele ist zu Tode betrübt.“ (Matthäus 26:38.) Und er verließ sie, um das zu vollbringen, was nur er vollbringen konnte. Das Licht der Welt entfernte sich von den Menschen und trat in den Garten, um dort allein mit dem Herrscher der Finsternis zu ringen. Er trat vor, kniete nieder, fiel auf sein Angesicht und rief in einer Qual, die wir niemals erfassen werden: „Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber.“ (Matthäus 26:39.) Aber er wusste, dass der bittere Kelch um unsertwillen nicht an ihm vorübergehen konnte und dass er ihn bis zur Neige leeren musste!

Seine Jünger waren verständlicherweise müde und schliefen bald ein. Doch wie stand es um Christus? Was war mit seiner Erschöpfung? Wie könnte er in Schlaf oder Schlummer Kraft für diese schwere Prüfung finden? Aber darum machte er sich wie immer keine Gedanken. Er harrt aus. Er siegt. Er wankt nicht, er verlässt uns nicht.

Selbst bei der Kreuzigung bewies er die Güte und Haltung eines Königs. Über die Menschen, die ihm Wunden schlugen und sein Blut vergossen, sagte er: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lukas 23:34.) Dem reuigen Verbrecher an seiner Seite verhieß er das Paradies. Seiner lieben Mutter konnte er mit keiner Geste mehr zeigen, dass er sich um sie sorgte. So schaute er sie einfach an und sagte: „Frau, siehe, dein Sohn!“ Dann wandte er sich an Johannes, der in Zukunft für sie sorgen sollte, und erklärte: „Siehe, deine Mutter!“ (Johannes 19:26,27.) Er kümmerte sich bis ans Ende um andere – besonders aber um seine Mutter.

Er musste völlig auf sich allein gestellt die Weinkelter der Erlösung treten – wie konnte er da die finstersten Augenblicke ertragen, den allergrößten Schmerz? Es waren nicht die Dornen und die Nägel, sondern es war das furchtbare Gefühl, völlig allein zu sein: „Eloï, Eloï, lema sabachthani?… Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Markus 15:34.) Kann er alle unsere Sünden auf sich nehmen und auch unsere Ängste und unsere Einsamkeit? Er hat es getan, er tut es auch jetzt und er wird es immer tun.

Wir wissen nicht, wie man solches Leid ertragen kann, doch es wundert nicht, dass die Sonne ihr Antlitz vor Scham verbarg. Es wundert nicht, dass der Vorhang im Tempel entzwei riss. Es wundert nicht, dass die Erde beim Anblick der Qual dieses vollkommenen Sohnes erbebte. Und mindestens einen römischen Soldaten gab es, der ein wenig von all dem begriff. In Ehrfurcht sprach er den Satz, der in Ewigkeit Bestand hat: „Wahrhaftig, das war Gottes Sohn.“ (Matthäus 27:54.)

Die Reine Christusliebe Hört Niemals Auf

Das Leben bringt Ängste und Fehlschläge mit sich. Manches gelingt uns nicht. Manchmal scheint es – sowohl im persönlichen Bereich als auch im öffentlichen Leben –, dass wir keine Kraft mehr haben, weiterzumachen. Manchmal lässt uns jemand im Stich, oder die wirtschaftlichen oder sonstigen Gegebenheiten sind gegen uns. Das Leben mit all seinen Schwierigkeiten und seinem Herzeleid kann dazu führen, dass wir uns sehr einsam fühlen.

Doch wenn wir auf Schwierigkeiten stoßen, gibt es etwas, was uns niemals im Stich lässt. Das bezeuge ich. Etwas, was alle Zeit, jegliche Drangsal und alle Schwierigkeiten und Übertretungen überdauert. Etwas, was niemals vergeht – nämlich die reine Christusliebe.

„Ich denke daran“, spricht Moroni zum Erretter der Welt, „dass du gesagt hast, du habest die Welt geliebt, ja, so dass du dein Leben für die Welt niedergelegt hast…. Nun weiß ich“, schreibt er, „dass diese Liebe, die du für die Menschenkinder gehabt hast, Nächstenliebe ist.“ (Ether 12:33,34.)

Nachdem Moroni mit angesehen hatte, wie eine Evangeliumszeit zu Ende ging und eine ganze Zivilisation sich selbst zerstörte, zitierte er seinen Vater für die Menschen, die später einmal (in den Letzten Tagen) auf seine Worte hören würden: „Wenn ihr nicht Nächstenliebe habt, seid ihr nichts.“ (Moroni 7:46.) Nur die reine Christusliebe lässt uns bestehen. Nur die Christusliebe ist langmütig und wohlwollend. Nur die Christusliebe ist nicht aufgeblasen und lässt sich nicht erbittern. Nur die reine Christusliebe macht Jesus – und auch uns – fähig, alles zu ertragen, alles zu glauben, alles zu hoffen und alles zu erdulden (siehe Moroni 7:45).

O Gottessohn, voll Gnad und Huld,

wie groß ist meine Dankesschuld,

da mir Vergebung ward zuteil

durch dich allein, mein ewges Heil.

(„In Lieb und Gnad vom Himmelsthron“, Gesangbuch, Nr. 114.)

Ich bezeuge, dass Christus uns, die wir in der Welt sind, liebt und uns seine Liebe bis zur Vollendung erweisen wird. Seine reine Liebe lässt uns niemals im Stich, weder jetzt noch in Zukunft.

Nach einer Ansprache auf der Generalkonferenz im Oktober 1989.