Ein Lied für den Propheten
Nach einer wahren Begebenheit
Die zehnjährige Olivia* drehte sich im Bett um und versuchte, wieder einzuschlafen, obwohl sie wusste, dass das unmöglich war. Denn schließlich war ja Weihnachten – Weihnachten 1843. „Na ja, so gut wie Weihnachten“, dachte Olivia und zählte die zwölf Schläge, die leise von der Uhr ihrer Mutter her klangen.
Letztes Jahr Weihnachten hatte sie noch im weit entfernten Leek in England gewohnt. Doch dann hatte Großvater den Missionaren der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage zugehört. „Diese Männer verkünden die Wahrheit“, hatte er gesagt. Drei Monate später wurden Olivia und ihre ganze Familie getauft, außerdem noch Großvater Richard und Großmutter Lettice Rushton.
Die Entscheidung, England zu verlassen und sich den Mitgliedern in Amerika anzuschließen, war ihnen nicht leicht gefallen. Ob Großvater seinen Seidenhandel wohl verkaufen konnte? Und was für eine Arbeit würde Papa finden? Ob der kleine James krank werden und sterben würde, so wie Mamas anderes Baby? Und was war mit Großmutter Lettice? Sie war blind und deshalb war es für sie besonders schwer, ihre Heimat zu verlassen und in ein unbekanntes Land zu ziehen. Nachdem Papa viel gebetet und den Herrn befragt hatte, wusste er, dass sie auf den Rat des Propheten Joseph Smith hören und sich den Mitgliedern in Zion anschließen mussten.
Und nun war Weihnachten. Weihnachten in Nauvoo war ganz anders als Weihnachten zu Hause in England. Zum einen war Großvater Rushton gestorben und Olivia vermisste ihn schrecklich. Zum anderen legten die Leute hier – anders als in England – kein spezielles Weihnachtsholz in den Kamin, sangen keine Weihnachtslieder und beschenkten sich auch nicht gegenseitig. Ja, in Nauvoo gab es sogar viele, die Weihnachten überhaupt nicht feierten. Mama sagte, das habe mit den religiösen Bräuchen zu tun, die die Menschen gehabt hätten, ehe sie sich der Kirche anschlossen. Aber Olivia fand nicht, dass das ein besonders guter Grund war. „Wenn wir doch nur so Weihnachten feiern könnten wie früher in England!“, dachte sie seufzend.
Gerade in diesem Augenblick hörte sie gedämpfte Stimmen an der Haustür. Olivia glitt aus dem Bett und tappte auf Zehenspitzen über den kalten Boden. „Mama?“
Ihre Mutter und ihr Vater waren dick vermummt – sie trugen einen warmem Mantel und einen Hut!
„Wo geht ihr denn hin, Mama?“
„Wieso bist du überhaupt wach, Olivia?“, flüsterte Mama. „Du gehörst doch ins Bett.“
„Ich konnte nicht schlafen – und dann habe ich euch gehört.“
„Geh schnell wieder ins Bett“, sagte Mama. „Großmutter Lettice hat uns gebeten, mit ihr Weihnachtslieder singen zu gehen.“
„Singen – jetzt? Darf ich auch mit?“
„Es ist kalt draußen“, meinte Papa.
„Das macht mir nichts aus“, gab Olivia zur Antwort. „Bitte!“
Mama und Papa schauten sich an. „Na gut, von mir aus“, gab Papa nach. „Aber du musst dich schnell anziehen. Wir wollen ja nicht zu spät kommen.“
Olivia zog sich die wärmsten Sachen an, die sie finden konnte, und folgte ihren Eltern dann in die kalte Nacht hinaus. Die Kälte stach ihr ins Gesicht, und ihr Atem sah aus wie kleine Rauchwölkchen. „Wo gehen wir denn hin?“, fragte sie. „Singen wir ein Lied, das ich auch kenne?“
„Das wirst du schon sehen“, sagte Mama.
Gerade als sich Olivia fragte, wie weit sie wohl noch laufen musste, sah sie ihre Tanten und Onkel, Großmutter Lettice und mehrere Nachbarn draußen vor dem Haus des Propheten an der Ecke von Main Street und Water Street stehen.
Das Haus des Propheten! Olivia hielt den Atem an. „Ob wir dem Propheten vorsingen?“, überlegte sie.
„Also“, flüsterte Großmutter Lettice, „genauso, wie wir es geprobt haben.“
Für den Bruchteil einer Sekunde fragte sich Olivia, ob es wohl falsch gewesen war, mitzukommen – sie hatte ja gar nicht geprobt. Doch als sie die ersten beiden Noten gehört hatte, wusste sie, dass sie das Lied kannte. Es stand in dem Gesangbuch, das Schwester Emma Smith zusammengestellt hatte. Sie atmete tief ein und sang im Chor mit den übrigen Sängern.
„Menschen erwacht, Engel singen
Preis und Ehr – ein hehrer Tag.
Liebe, Freude, Dankbarkeit
uns heut zu heilgen vermag.“
(A Collection of Sacred Hymns for The Church of Jesus Christ of Latter Day Saints, 1835, Nr. 77.)
Schon bald gingen Lichter an, und die Fenster des Hauses des Propheten wurden aufgestoßen. Der Prophet Joseph Smith, seine Familie und die Gäste, die in seinem Haus wohnten, schauten hinaus.
„Wer singt denn da?“, fragte eine Stimme.
„Wie schön“, flüsterte eine andere Stimme.
„Sind das Engel dort draußen?“
Auch wenn Olivia kein Engel war – sie fühlte sich doch wie einer, als sie spürte, wie sie von Kopf bis Fuß in eine warme Wolke eingehüllt wurde. „Wie glücklich der Prophet aussieht“, dachte sie.
Als sie zu Ende gesungen hatten, dankte der Prophet ihnen für ihren wundervollen Gesang und segnete sie im Namen des Herrn.
„Fröhliche Weihnachten“, rief Olivia, als sie und die übrigen Sänger sich auf den Heimweg machten. Auf einmal sehnte sie sich nicht mehr nach England zurück. Sie wusste, dass sie hierher gehörte – zu ihrer Familie, der wiederhergestellten Kirche und dem Propheten des Herrn. Eigentlich gab es überhaupt keinen besseren Ort, um Weihnachten zu feiern.
*) Olivia ist zwar keine reale Figur, aber die Geschichte als solche hat sich tatsächlich so zugetragen.
Die Singende Grossmutter
Wir wissen nicht, ob in jener Nacht überhaupt Kinder beim Weihnachtssingen dabei waren. Doch die Großmutter namens Lettice Rushton, von der in der Geschichte erzählt wird, hat wirklich gelebt. Sie und einige Angehörige und Freunde haben am frühen Weihnachtsmorgen des Jahres 1843 tatsächlich Weihnachtslieder für den Propheten Joseph Smith gesungen.
Lettice Rushton hatte zehn Kinder. Fünf Jahre vor ihrer Taufe erkrankte sie am Grünen Star und erblindete. Sie gehörte zu den vielen tausend Engländern, die den Missionaren begeistert zuhörten und dann mit ihrer Familie nach Nauvoo auswanderten, um sich den dortigen Mitgliedern anzuschließen.
Der Prophet Joseph Smith berichtet, dass um ein Uhr nachts am Weihnachtsmorgen des Jahres 1843 Lettice Rushton mit ihrer Familie und ihren Nachbarn unter seinem Fenster stand und zu singen begann, „was einen Strom der Freude durch meine Seele rieseln ließ“. Der Gesang bewegte ihn so stark, dass er „das Bedürfnis hatte, dem himmlischen Vater für ihren Besuch zu danken, und sie im Namen des Herrn segnete“ (siehe History of the Church, 6:134).