Der Spruch an der Wand
„Such dir deine Freunde gut aus, denn du wirst so sein wollen wie sie.“ Diesen kurzen Spruch hatte ich schon unzählige Male gelesen und mir nie etwas dabei gedacht. Er gehörte nur zu den zahlreichen an strategischen Punkten angebrachten Gedanken und Zitaten, die bei uns zu Hause die Wände übersäten. Dieser befand sich an der günstigsten Stelle überhaupt, nämlich genau über dem Küchentisch.
Wenn Freunde zu uns kamen, zog es uns ganz von selbst in die Küche: Ob bei einer Verabredung, einem Film spätabends oder wenn wir eine Kleinigkeit aßen – fast immer war die Küche mit im Spiel. Mutter wusste dies und plante ihren Angriff entsprechend. Erst Jahre später wurde mir klar, dass sie einen Volltreffer gelandet hatte.
Glücklicherweise hatte ich viele Freunde, die ebenfalls der Kirche angehören. Wir gingen zusammen zur Kirche und in die Schule, und die meisten von uns gingen etwa zur selben Zeit auch auf Mission. Einer unserer Freunde war aber etwas anders als wir. Seine Eltern waren geschieden, und er wurde zwischen ihnen hin- und hergereicht oder wohnte zeitweise bei Freunden. Ich glaube, er fühlte sich deswegen immer ein wenig isoliert und einsam. Er hatte langes Haar und trug stets mindestens einen Ohrring. Wir mochten ihn aber und er gehörte dazu.
In der Highschool konnten wir zu unserer Freude beobachten, wie er sich änderte. Kurz nach seinem 19. Geburtstag reichte er seine Missionspapiere ein und wurde auf Mission berufen. Einige Monate später begriffen wir, wie bedeutsam das war.
An einem kalten Januarsonntag nahmen meine Freunde und ich an der Abendmahlsversammlung teil, in der unser Freund seine Abschiedsansprache hielt. Ich saß auf dem Podium, weil ich eine musikalische Darbietung geben sollte. Es war ein herrlicher Anblick: In der Menge saßen alle meine Freunde und meine Familie. Mein Freund trat mit geröteten Augen an das Rednerpult.
Er begann seine Ansprache mit einer Frage: „Weiß jemand von Ihnen, wieso ich hier stehe? Das ist eigentlich ganz einfach. Ich stehe heute vor Ihnen, weil ich oft mit bei einem Freund zu Hause an einem Tisch gegessen habe, über dem der Spruch hängt: ,Such dir deine Freunde gut aus, denn du wirst so sein wollen wie sie.‘ Ich möchte meinen Freunden sagen, dass ich ohne ihr Beispiel und ihre Liebe heute nicht hier wäre.“
Ich schaute nach unten und sah, dass meine Mutter mit Tränen in den Augen lächelte.
Seitdem habe auch ich darüber nachgedacht, wie meine Freunde mich beeinflusst haben. Ich weiß nicht, ob ich auf Mission gegangen wäre, hätte ich nicht ihr Beispiel gesehen. Ich weiß nicht, was ich heute für ein Mensch wäre, hätte ich nicht von der Stärke und Freundschaft solch wunderbarer Menschen profitiert. Dafür werde ich ihnen und dem Himmlischen Vater ewig dankbar sein.
Ich weiß, dass niemand die Ansprache meines Freundes vergessen hat; und der Spruch hängt immer noch über unserem Küchentisch.
Jeremy Robertson gehört zur Gemeinde Grandview 19 im Pfahl Grandview in Provo in Utah.