Euch jedoch muss es um sein Reich gehen
Ich hoffe, dass Sie alle sich daran erinnern werden, dass Sie an diesem Sabbat gehört haben, wie ich bezeugt habe, dass dies Gottes heiliges Werk ist.
Meine lieben Brüder und Schwestern, ich danke Ihnen, dass Sie für mich gebetet haben, und bete nun darum, dass Sie mich mit Ihrem Glauben unterstützen mögen.
Wenn man mein Alter erreicht hat, hält man ab und an inne und denkt darüber nach, wie man zu dem geworden ist, was man jetzt ist.
Ich möchte gern Ihre Zeit ein wenig in Anspruch nehmen für etwas, was vielleicht selbstsüchtig erscheint. Das tue ich deshalb, weil ja eigentlich die ganze Kirche Anteil hat am Leben des Präsidenten der Kirche. Er hat nur wenig Privatsphäre und keine Geheimnisse. Diese Ansprache wird sich, glaube ich, von allen anderen unterscheiden, die bisher bei einer Generalkonferenz der Kirche zu hören waren.
Mein Leben neigt sich nun dem Ende zu. Wir alle sind ja ganz in der Hand des Herrn. Vielen von Ihnen ist bekannt, dass ich kürzlich eine größere Operation hatte. Zum ersten Mal in meinen 95 Jahren war ich als Patient in einem Krankenhaus. Ich kann das niemandem empfehlen. Die Ärzte sagen, einige Schäden seien wohl dauerhaft.
Ich gehe auf meinen 96. Geburtstag zu. Ich möchte die Gelegenheit nutzen und für die großen Segnungen danken, die der Herr mir im Übermaß geschenkt hat. Ich weiß sie sehr zu schätzen.
Wir alle müssen im Leben Entscheidungen treffen: Bei einigen verheißt uns ein Sirenengesang Reichtum und Wohlstand, andere sind weniger vielversprechend. Irgendwie hat mich der Herr bei meinen Entscheidungen immer begleitet und geführt, auch wenn mir das zu der Zeit manchmal nicht bewusst war.
Dabei muss ich an ein Gedicht von Robert Frost denken, „Am Scheideweg“. Es endet mit diesen Zeilen:
„Zwei Wege verschwanden dort, und ich –
ich hab den einsameren gewählt.
Und das macht einen gewaltigen Unterschied aus.
(The Poetry of Robert Frost, Hg. Edward Connery Lathem, Seite 105.)
Ich muss an die Worte des Herrn denken: „Euch jedoch muss es um sein Reich gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben.“ (Lukas 12:31.)
Vor 48 Jahren bin ich auf der Frühjahrs-Generalkonferenz als Generalautorität bestätigt worden. Seither habe ich an jeder Generalkonferenz der Kirche gesprochen. Ich habe über 200 Konferenzansprachen gehalten. Ich habe über viele Themen gesprochen. Aber in allen kommt wie ein roter Faden mein Zeugnis von diesem herrlichen Werk in den Letzten Tagen zum Ausdruck.
Doch es gab Veränderungen und gibt sie immer noch. Meine geliebte Frau, die 67 Jahre lang an meiner Seite war, ist vor zwei Jahren von mir gegangen. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich sie vermisse. Sie war eine bemerkenswerte Frau, mit der ich über zwei Drittel eines Jahrhunderts in völligem Einklang Seite an Seite gegangen bin. Wenn ich so auf mein Leben zurückblicke, kann ich nur ehrfürchtig staunen. All das Gute, was mir widerfahren ist, einschließlich meiner Ehe, kam dadurch zustande, dass ich in der Kirche aktiv war.
Vor ein paar Tagen habe ich am Abend eine unvollständige Auflistung der Gesellschaften und Organisationen durchgesehen, von denen ich eine Auszeichnung erhalten habe – und das alles, weil ich in der Kirche aktiv mitwirke. Etliche Präsidenten der Vereinigten Staaten haben das Büro der Ersten Präsidentschaft aufgesucht. Bei mir im Büro hängt ein Foto an der Wand. Darauf sieht man, wie ich Präsident Ronald Reagan ein Buch Mormon überreiche. In meinem Bücherregal ist auch die Freiheitsmedaille des Präsidenten, die mir von Präsident Bush verliehen wurde. Ich war zu diversen Anlässen im Weißen Haus. Ich habe Premierminister und Botschafter vieler Länder kennen gelernt und empfangen, darunter auch die britischen Premierminister Margaret Thatcher und Harold Macmillan.
Ich kannte und arbeitete mit jedem Präsidenten der Kirche von Präsident Grant an bis hin zu Howard W. Hunter. Ich kannte und schätzte sämtliche Generalautoritäten in all den vielen Jahren.
Momentan sehe ich die vielen Bücher und Erinnerungsstücke durch, die ich im Laufe der Jahre gesammelt habe. Dabei fand ich ein altes Tagebuch mit sporadischen Einträgen aus den Jahren 1951 bis 1954. Damals war ich Ratgeber in der Pfahlpräsidentschaft und war noch nicht als Generalautorität berufen.
Als ich dieses alte Tagebuch las, wurde mir bewusst, dass ich – dank der Güte des Herrn – sämtliche Mitglieder der Ersten Präsidentschaft und des Kollegiums der Zwölf sehr gut gekannt hatte, und dafür bin ich dankbar. Heutzutage ist das wohl niemandem mehr vergönnt, weil die Kirche so gewachsen ist.
In diesem Tagebuch finden sich Einträge wie die Folgenden:
„11. März 1953 – Präsident McKay besprach mit mir das Programm für die Missionspräsidenten bei der Frühjahrskonferenz.“
„Donnerstag, 19. März – Joseph Fielding Smith trug mir auf, einen der führenden Brüder zu bitten, dass er vorzeigt, wie die Missionarskonferenz am Samstagabend abzuhalten ist. … Meiner Meinung nach sollte Spencer W. Kimball oder Mark E. Petersen dies übernehmen.“
„Donnerstag, 26. März – Präsident McKay hat eine interessante Geschichte erzählt. Er sagte: ‚Ein Farmer hatte ein großes Stück Land. Als er alt wurde, war ihm die Arbeit zu viel. Er hatte nur Söhne. Und so rief er seine Söhne zu sich und erklärte ihnen, dass sie von nun an die Bürde zu tragen hätten. Der Vater ruhte sich aus. Doch eines Tages ging er hinaus aufs Feld. Die Söhne sagten, er solle nach Hause gehen, denn sie brauchen seine Hilfe nicht. Da sagte der Vater: „Mein Schatten auf dieser Farm ist mehr wert als eure ganze Arbeit.“‘ Präsident McKay sagte, dass der Vater in dieser Geschichte Präsident Stephen L. Richards darstellte. Dieser war krank, aber für Präsident McKay war seine Unterstützung und Freundschaft äußerst wertvoll.“
„Freitag, 3. April 1953 – War von 9.00 Uhr bis 15.30 Uhr bei der Versammlung für Generalautoritäten und Missionspräsidenten im Tempel. Über 30 Missionspräsidenten haben gesprochen. Alle wollen mehr Missionare. Alle kommen gut voran.“
„Dienstag, 14. April – Präsident Richards war im Büro, hatte ein angenehmes Gespräch mit ihm. Er wirkt müde und schwach. Ich glaube, er wurde zu einem ganz besonderen Zweck vom Herrn bewahrt.“
„Montag, 20. April 1953 – Hatte ein interessantes Gespräch mit Henry D. Moyle vom Rat der Zwölf Apostel.“
„15. Juli 1953 – Albert E. Bowen vom Rat der Zwölf ist gestorben. Er war über ein Jahr lang schwer krank. Wieder ist einer meiner Freunde gegangen. … Ich habe ihn gut gekannt. Er war ein weiser und standhafter Mann. Man konnte ihn nicht aus der Ruhe bringen, er war auch nie in Eile. Er handelte immer wohlüberlegt – ein ungewöhnlich besonnener Mann mit großem, schlichtem Glauben. Die alten, klugen Köpfe verschwinden allmählich. Sie waren meine Freunde. In der kurzen Zeit habe ich viele große Männer in der Kirche kommen und gehen sehen. Mit den meisten habe ich zusammengearbeitet. Ich habe sie auch gut gekannt. Nach einer Weile wird man nicht mehr an sie denken. In fünf Jahren werden Namen wie Merrill, Widtsoe, Bowen – sie alle waren einflussreiche Männer – nur noch bei ganz wenigen präsent sein. Man muss bei seiner täglichen Arbeit Zufriedenheit finden, daran denken, dass die Familie vielleicht einmal seiner gedenken wird, dass man dem Herrn wichtig ist, aber darüber hinaus wird man bei den kommenden Generationen kaum etwas gelten.“
Und so geht es weiter. Ich habe das nur vorgelesen, um zu zeigen, was für eine bemerkenswerte Beziehung ich als junger Mann zu den Mitgliedern der Ersten Präsidentschaft und des Kollegiums der Zwölf hatte.
Im Laufe meines Lebens war ich auch bei den Benachteiligten und Armen der Erde. Ihnen habe ich meine Liebe, meine Zuwendung und meinen Glauben geschenkt. Ich hatte Kontakt zu angesehenen und einflussreichen Männern und Frauen aus vielen Teilen der Erde. Ich hoffe, dass ich dadurch wenigstens ein kleines Bisschen erreichen konnte.
Als ich gerade einmal elf Jahre alt war, bekam ich meinen Patriarchalischen Segen von einem Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte und danach auch nie wieder sah. Das ist ein bemerkenswertes Dokument, ein prophetisches Dokument. Der Segen ist persönlich und ich werde auch nicht viel daraus vorlesen. Jedoch steht darin Folgendes: „Die Völker der Erde werden deine Stimme hören und werden durch das wunderbare Zeugnis, das du geben wirst, zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen.“
Als ich nach meiner Mission in England entlassen wurde, machte ich noch eine kurze Europareise. Ich hatte in London Zeugnis gegeben und tat dies dann noch in Berlin und Paris sowie später auch in Washington, D.C. So sagte ich mir, dass ich ja in diesen großen Hauptstädten der Welt mein Zeugnis gegeben hatte. Also hatte sich dieser Teil meines Segens erfüllt.
Es stellte sich aber heraus, dass das nur die Spitze des Eisberges gewesen war. Seither habe ich meine Stimme auf jedem Kontinent erhoben, in großen und kleinen Städten, überall von Nord bis Süd, von Ost bis West in dieser großen, weiten Welt – von Kapstadt bis Stockholm, von Moskau bis Tokio oder Montreal, in jeder großen Hauptstadt der Welt. Das alles ist ein Wunder.
Letztes Jahr habe ich die Mitglieder der Kirche in aller Welt gebeten, das Buch Mormon erneut zu lesen. Tausende, ja Hunderttausende, sind dieser Aufforderung nachgekommen. Der Prophet Joseph Smith sagte 1841: „Ich habe den Brüdern gesagt, das Buch Mormon sei das richtigste aller Bücher auf Erden und der Schlussstein unserer Religion, und wenn man sich an dessen Weisungen hielte, würde man dadurch näher zu Gott kommen als durch jedes andere Buch.“ (Lehren des Propheten Joseph Smith, Seite 198.)
Diese Aussage ist wahr, und ich glaube, dadurch muss etwas Bemerkenswertes bei den Mitgliedern dieser Kirche geschehen sein. Es wurde beobachtet, wie Mitglieder im Bus im Buch Mormon lasen, beim Mittagessen, im Wartezimmer beim Arzt und in vielen anderen Situationen. Ich glaube und bin zuversichtlich, dass wir Gott näher gekommen sind, weil wir dieses Buch gelesen haben.
Letzten Dezember hatte ich die Freude, zusammen mit vielen von Ihnen dem Propheten Joseph Smith am 200. Jahrestag seiner Geburt Ehre zu erweisen. Mit Elder Ballard war ich an seinem Geburtsort in Vermont, während dieses große Konferenzzentrum mit Heiligen der Letzten Tage gefüllt war. Die Botschaften wurden über Satellit in alle Welt ausgestrahlt, und so wurde der beliebte Prophet dieses großen Werkes der Letzten Tage gepriesen.
Ich könnte noch vieles aufzählen. Ich möchte mich nochmals entschuldigen, dass ich über so Persönliches spreche. Doch ich tue dies nur, um meine Wertschätzung und Dankbarkeit für die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage zum Ausdruck zu bringen. All dies ist geschehen, weil der Herr mich an diese Stelle gesetzt hat. Das Herz quillt mir über vor Dankbarkeit und Liebe.
Ich wiederhole:
„Zwei Wege verschwanden dort, und ich –
ich hab den einsameren gewählt.
Und das macht einen gewaltigen Unterschied aus.
Ich hoffe, dass Sie meine Worte nicht als Nachruf auffassen. Vielmehr freue ich mich darauf, im Oktober wieder zu Ihnen sprechen zu dürfen.
Zum Schluss möchte ich sagen: Ich hoffe, dass Sie alle sich daran erinnern werden, dass Sie an diesem Sabbat gehört haben, wie ich bezeugt habe, dass dies Gottes heiliges Werk ist. Die Vision, die dem Propheten Joseph Smith im Wald bei Palmyra zuteil wurde, war keine Einbildung. Das hat sich wirklich zugetragen. Das geschah am helllichten Tag. Sowohl der Vater als auch der Sohn sprachen zu dem jungen Mann. Er sah die beiden über sich in der Luft stehen. Er hörte ihre Stimme, und er folgte ihren Anweisungen.
Es war der auferstandene Herr, der da von seinem Vater, dem großen Gott des Universums, vorgestellt wurde. Soweit wir aus den Aufzeichnungen wissen, war dies das erste Mal, dass der Vater und der Sohn zusammen erschienen sind, um den Schleier zu zerteilen und diese, die letzte Evangeliumszeit, die Fülle der Zeiten, zu eröffnen.
Das Buch Mormon ist alles, was es zu sein vorgibt – ein Bericht, der von Propheten aus alter Zeit verfasst wurde und der hervorgekommen ist, damit „die Juden und die Andern davon überzeugt werden, dass Jesus der Christus ist, der ewige Gott, der sich allen Nationen kundtut“ (Titelblatt des Buches Mormon).
Das Priestertum wurde durch Johannes den Täufer sowie Petrus, Jakobus und Johannes wiederhergestellt. Alle Schlüssel und Vollmachten, die für das ewige Leben erforderlich sind, werden in dieser Kirche ausgeübt.
Joseph Smith war und ist ein Prophet, der große Prophet dieser Evangeliumszeit. Die Kirche, die den Namen des Erlösers trägt, ist wahr.
Ich gebe Ihnen mein Zeugnis. Ich habe einen jeden von Ihnen lieb. Im Namen Jesu Christi. Amen.