2006
Das Leben in Fülle
Mai 2006


Das Leben in Fülle

Das Leben in Fülle ist für uns erreichbar, wenn wir in tiefen Zügen vom lebendigen Wasser trinken, unser Herz mit Liebe füllen und aus unserem Leben ein Meisterwerk machen.

Harry de Leyer kam an einem verschneiten Tag im Jahr 1956 zu spät zur Versteigerung, und alle guten Pferde waren bereits verkauft. Die Übrigen waren alt und ausgelaugt und waren an einen Betrieb zum Schlachten verkauft worden.

Harry, der Reitlehrer an einer Mädchenschule in New York war, wollte gerade wieder gehen, als sein Blick auf eines dieser Pferde fiel – ein vernachlässigter grauer Wallach mit hässlichen Wunden an den Beinen. Man sah die Spuren des schweren Geschirrs, das das Tier getragen hatte. Offensichtlich hatte es ein schweres Leben gehabt. Doch etwas an ihm fesselte Harrys Aufmerksamkeit, also bot er 80 Dollar für das Pferd.

Es schneite, als Harrys Kinder das Pferd zum ersten Mal sahen, und weil es über und über mit Schnee bedeckt war, nannten sie es „Snowman“ (Schneemann).

Harry sorgte gut für das Pferd, das sich als gutmütiger und verlässlicher Freund erwies – ein Pferd, auf dem die Mädchen gern ritten, weil es ganz ruhig blieb und nicht so schreckhaft war wie manch anderes. Snowman entwickelte sich sogar so großartig, dass ein Nachbar ihn für den doppelten Betrag, den Harry ursprünglich gezahlt hatte, kaufte.

Doch Snowman verschwand immer wieder von der Weide des Nachbarn. Manchmal fand man ihn im Kartoffelfeld, ein andermal auf Harrys Grundstück. Das Pferd musste wohl über die Zäune zwischen den Grundstücken gesprungen sein, aber das schien unmöglich. Harry hatte Snowman nie über etwas Höheres springen sehen als über einen umgefallenen Baumstamm.

Schließlich verlor der Nachbar die Geduld und bestand darauf, dass Harry das Pferd zurücknahm.

Schon seit Jahren träumte Harry davon, ein erstklassiges Springpferd hervorzubringen. Er hatte bereits einige bescheidene Erfolge erzielt. Wollte er jedoch auf den besten Turnieren antreten, musste er wohl ein reinrassiges Pferd kaufen, das speziell zum Springen gezüchtet worden war. Ein solches Pferd kostete aber weitaus mehr, als er sich leisten konnte.

Snowman war schon recht alt – er war 8, als Harry ihn gekauft hatte – und er war schlecht behandelt worden. Doch anscheinend sprang Snowman gern. Also wollte Harry herausfinden, was das Pferd konnte.

Was Harry sah, machte ihm Hoffnung, dass sein Pferd vielleicht eine Chance hatte.

1958 startete Harry mit Snowman zum ersten Mal in einem Turnier. Snowman wirkte etwas deplatziert zwischen den edlen Rassepferden. Andere Pferdezüchter nannten Snowman den „vergammelten Grauen“.

Doch an diesem Tag geschah etwas Wunderbares, Unglaubliches.

Snowman gewann!

Harry nahm mit Snowman an weiteren Turnieren teil, und Snowman war weiterhin siegreich.

Die Zuschauer jubelten jedes Mal, wenn Snowman ein Turnier gewann. Er wurde ein Symbol dafür, wie außergewöhnlich ein gewöhnliches Pferd sein kann. Er kam sogar ins Fernsehen. Geschichten und Bücher wurden über ihn geschrieben.

Als Snowman Sieg um Sieg errang, bot man Harry 100 000 Dollar für das alte Pferd, das einmal den Pflug gezogen hatte, doch Harry verkaufte es nicht. 1958 und 1959 wurde Snowman zum Pferd des Jahres gekürt. Schließlich wurde der graue Wallach, der einst zu einem Schleuderpreis verkauft worden war, in die Ruhmeshalle der berühmtesten Springpferde aufgenommen.1

Für viele war Snowman viel mehr als ein Pferd. Er wurde zum Symbol für das verborgene, unerschlossene Potenzial, das in jedem von uns ruht.

Ich durfte schon viele wunderbare und ganz unterschiedliche Menschen kennen lernen. Ich bin reichen und armen Menschen begegnet, berühmten und bescheidenen, klugen und noch anderen.

Manche waren von schweren Sorgen bedrückt, andere strahlten Zuversicht und inneren Frieden aus. In manchen schwelte eine unauslöschliche Bitterkeit, andere strahlten vor unbändiger Freude. Manche schienen niedergeschlagen, während andere, trotz aller Schwierigkeiten, Verzweiflung und Enttäuschung überwunden hatten.

Ich habe manche Leute sagen hören, vielleicht nur zum Teil im Spaß, dass die einzigen glücklichen Menschen die sind, die überhaupt nicht begreifen, was um sie herum vorgeht.

Da bin ich jedoch anderer Meinung.

Ich kenne viele, die voller Freude sind und Glück ausstrahlen.

Ich kenne viele, die das Leben in Fülle haben.

Und ich glaube, ich weiß, woran das liegt.

Heute möchte ich ein paar charakteristische Merkmale aufzählen, die die glücklichsten Menschen, die ich kenne, gemeinsam haben. Es sind Eigenschaften, die eine gewöhnliche Existenz in ein aufregendes Leben in Fülle verwandeln können.

Erstens: Sie trinken in tiefen Zügen vom lebendigen Wasser.

Der Erretter hat gelehrt: „Wer … von dem Wasser trinkt, das ich … geben werde, wird niemals mehr Durst haben; [denn es wird] … in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt.“2

Wenn das Evangelium Jesu Christi gänzlich verstanden und angenommen wird, heilt es gebrochene Herzen, gibt dem Leben Sinn, verbindet Menschen, die sich lieben, mit einem Band, das über das Erdenleben hinausreicht, und erfüllt das Leben mit einer unglaublichen Freude.

Präsident Lorenzo Snow hat gesagt: „Der Herr hat uns das Evangelium nicht dazu gegeben, dass wir alle Tage unseres Lebens in Trauer verbringen.“3

Das Evangelium Jesu Christi ist keine traurige und düstere Religion. Der Glaube unserer Väter ist voller Hoffnung und Freude. Das Evangelium legt uns nicht in Ketten, sondern verleiht uns Flügel.

Es gänzlich anzunehmen bedeutet, dass wir von Staunen erfüllt sind und in uns ein Feuer lodert. Unser Erretter hat verkündet: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“4

Sehnen Sie sich nach innerem Frieden?

Trinken Sie in tiefen Zügen vom lebendigen Wasser.

Wünschen Sie sich Vergebung? Frieden? Erkenntnis? Freude?

Trinken Sie in tiefen Zügen vom lebendigen Wasser.

Das Leben in Fülle ist auf Geistiges ausgerichtet. Zu viele sitzen an der Festtafel des Evangeliums Jesu Christi und gönnen sich nur kleine Kostproben von den angebotenen Speisen. Sie sind nach außen hin dabei, besuchen vielleicht die Versammlungen, werfen einen kurzen Blick in die heiligen Schriften, sagen immer wieder die gleichen Gebete auf, aber ihr Herz ist weit entfernt. Wenn sie ehrlich sind, würden sie zugeben, dass sie die neuesten Gerüchte in der Nachbarschaft, die Entwicklung an der Börse oder ihre Lieblingssendung im Fernsehen mehr interessiert als die überirdischen Wunder und das sanfte Wirken des Heiligen Geistes.

Wollen Sie von diesem lebendigen Wasser trinken und erleben, wie es in Ihnen zur sprudelnden Quelle wird, die ewiges Leben schenkt?

Dann haben Sie keine Angst. Glauben Sie von ganzem Herzen. Entwickeln Sie einen unerschütterlichen Glauben an den Sohn Gottes, und öffnen Sie Ihr Herz in aufrichtigem Gebet. Füllen Sie Ihren Sinn mit Wissen über den Herrn. Lassen Sie ab von Ihren Schwächen. Leben Sie in Heiligkeit und im Einklang mit den Geboten.

Trinken Sie in tiefen Zügen vom lebendigen Wasser des Evangeliums Jesu Christi.

Die zweite Eigenschaft derer, die das Leben in Fülle haben: Sie füllen ihr Herz mit Liebe.

Liebe ist der Kern des Evangeliums und das wichtigste aller Gebote. Der Erretter hat gelehrt, dass alle anderen Gebote und Lehren der Propheten daran hängen.5 Der Apostel Paulus schreibt: „Das ganze Gesetz ist in dem einen Wort zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“6

Oft wissen wir gar nicht, wie weitreichend eine einfache freundliche Tat sein kann. Der Prophet Joseph Smith war ein Vorbild an Mitgefühl und Liebe. Einmal trafen acht Schwarze in seinem Haus in Nauvoo ein. Sie waren aus Buffalo im Staat New York angereist, das etwa 1300 Kilometer entfernt war, denn sie wollten beim Propheten Gottes und bei den Heiligen sein. Sie waren zwar frei, hatten sich aber trotzdem vor denen verstecken müssen, die sie vielleicht für entlaufene Sklaven hielten. Sie hatten Kälte und Mühsal ertragen und zuerst die Schuhe, dann die Socken durchgelaufen. Schließlich waren sie den weiten Weg bis zur Stadt Josephs barfuß weitergegangen. Als sie in Nauvoo eintrafen, hieß der Prophet sie in seinem Haus willkommen und half ihnen, eine Bleibe zu finden.

Doch ein Mädchen namens Jane hatte noch keinen Ort, wo es bleiben konnte. Es weinte und wusste nicht, was es tun sollte.

„Hier braucht niemand zu weinen“, sagte Joseph zu ihm. Er wandte sich an Emma und sagte: „Hier ist ein Mädchen, das noch kein Zuhause hat. Meinst du nicht auch, dass es hier ein Zuhause hat?“

Emma war einverstanden. Von diesem Tag an gehörte Jane zur Familie und lebte bei ihnen.

Jane erzählte, dass sie noch Jahre nach dem Märtyrertod des Propheten und nachdem sie gemeinsam mit den Pionieren bis nach Utah gezogen war, manchmal „mitten in der Nacht aufwachte und einfach an Bruder Joseph und Schwester Emma denken musste, die so gut zu mir waren. Joseph Smith“, sagte sie, „war der beste Mensch, dem ich auf Erden je begegnet bin.“7

Präsident Gordon B. Hinckley hat gesagt, dass diejenigen, die andere aufrichten und ihnen helfen, „ein Glück kennen lernen, das sie zuvor nicht gekannt haben. … Gott weiß, dass es viele, viele Menschen auf der Welt gibt, die Hilfe brauchen. Es sind so … viele. Verbannen wir die zerfressende Selbstsucht aus unserem Leben, meine Brüder und Schwestern, und stehen wir etwas aufrechter und recken wir uns etwas höher, wenn es darum geht, unseren Mitmenschen zu dienen.“8

Wir sind alle sehr beschäftigt. Man findet leicht Entschuldigungen dafür, warum man sich nicht um andere kümmern kann, aber für den himmlischen Vater klingen sie vermutlich so hohl wie die Entschuldigung eines Grundschülers, der seiner Lehrerin eine Notiz mit der Bitte überreicht, ihn vom 30. bis zum 34. März vom Unterricht freizustellen.

Wer sein Leben damit verbringt, seine eigenen selbstsüchtigen Wünsche zu erfüllen, ohne auf andere zu achten, der wird entdecken, dass am Ende seine Freude oberflächlich ist und sein Leben kaum Sinn hat.

Auf dem Grabstein eines solchen Menschen war zu lesen:

Hier liegt ein Geizhals, der niemandem hold

als Talern, Dukaten, Silber und Gold.

Wohin er ist, wie’s ihm dort geht –

schon längst kein Hahn mehr danach kräht.9

Wir sind dann am glücklichsten, wenn unser Leben durch selbstlose Liebe und selbstloses Dienen mit anderen Menschen verbunden ist. Präsident J. Reuben Clark hat gesagt: „Es gibt keinen größeren Segen, keine größere Freude, kein größeres Glück, als die Not eines anderen Menschen zu lindern.“10

Die dritte Eigenschaft derer, die das Leben in Fülle haben: Sie machen mit der Hilfe des himmlischen Vaters aus ihrem Leben ein Meisterwerk.

Unabhängig von unserem Alter, unseren Umständen und Fähigkeiten können wir etwas Bemerkenswertes aus unserem Leben machen.

David sah sich selbst als Hirte, aber der Herr sah ihn als König von Israel. Josef aus Ägypten arbeitete als Sklave, aber der Herr sah ihn als Seher. Mormon trug die Rüstung eines Soldaten, aber der Herr sah ihn als Propheten.

Wir sind Söhne und Töchter eines unsterblichen, liebevollen und allmächtigen Vaters im Himmel. Wir sind nicht nur aus dem Staub der Erde, sondern ebenso aus dem Staub der Ewigkeit geschaffen. In jedem von uns ruht ein Potenzial, das wir uns kaum vorstellen können.

Der Apostel Paulus schreibt: „Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Große, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.“11

Wie ist es dann möglich, dass sich so viele nur als altes graues Pferd sehen, das nicht viel taugt? Jeder von uns hat etwas Großartiges in sich – eine Gabe von unserem liebevollen ewigen himmlischen Vater. Was wir aus dieser Gabe machen, liegt an uns.

Lieben Sie den Herrn mit ganzem Herzen, aller Macht, ganzem Sinn und aller Kraft. Engagieren Sie sich in großartigen und edlen Sachen. Machen Sie Ihr Zuhause zu einem heiligen und stärkenden Zufluchtsort. Machen Sie Ihre Berufungen in der Kirche groß. Bilden Sie sich. Stärken Sie Ihr Zeugnis. Kümmern Sie sich um andere.

Machen Sie aus Ihrem Leben ein Meisterwerk.

Brüder und Schwestern, das Leben in Fülle erhalten wir nicht verpackt und gebrauchsfertig. Wir können es nicht bestellen und dann am Nachmittag mit der Post erhalten. Wir finden es nicht ohne Mühe und Kummer.

Wir finden es durch Glauben, Hoffnung und Nächstenliebe. Und das Leben in Fülle hat der, der trotz Mühen und Kummer die folgenden Worte eines Autors nachempfindet: „Im tiefsten Winter erkannte ich schließlich, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer ruhte.“12

Das Leben in Fülle ist kein Ziel, an dem wir ankommen. Vielmehr ist es eine wunderbare Reise, die vor langer, langer Zeit begonnen hat und niemals enden wird.

Ein großer Trost des Evangeliums Jesu Christi ist das Wissen, dass dieses Erdenleben im Licht der Ewigkeit nur ein Augenzwinkern ist. Ob wir am Beginn unserer irdischen Reise stehen oder am Ende – dieses Leben ist nur ein Schritt, ein kleiner Schritt.

Unsere Suche nach dem Leben in Fülle ist nicht beschränkt auf unser Dasein in unserer irdischen Hülle. Das eigentliche Ende kann man nur aus dem Blickwinkel der Ewigkeit erfassen, die sich endlos vor uns ausstreckt.

Brüder und Schwestern, auf der Suche nach dem Leben in Fülle finden wir unsere Bestimmung.

Wie in der Geschichte von dem alten Pferd, das man für unbrauchbar hielt, das jedoch die Seele eines Siegers in sich trug, ist auch in jedem von uns ein Funken göttlicher Größe verborgen. Wer weiß, wozu wir fähig sind, wenn wir es nur versuchen? Das Leben in Fülle ist für uns erreichbar, wenn wir in tiefen Zügen vom lebendigen Wasser trinken, unser Herz mit Liebe füllen und aus unserem Leben ein Meisterwerk machen.

Ich bete demütig dafür, dass wir dies tun mögen. Im Namen Jesu Christi. Amen.

Anmerkungen

  1. Siehe Rutherford George Montgomery, Snowman, 1962

  2. Johannes 4:14

  3. The Teachings of Lorenzo Snow, Hg. Clyde J. Williams, 1996, Seite 61

  4. Johannes 10:10

  5. Siehe Matthäus 22:40

  6. Galater 5:14

  7. Neil K. Newell., „Joseph Smith Moments: Stranger in Nauvoo“, Church News, 31. Dezember 2005, Seite 16

  8. Teachings of Gordon B. Hinckley, 1997, Seite 597

  9. Obert C. Tanner, Christ’s Ideals for Living, Sonntagsschulleitfaden, 1955, Seite 266

  10. „Fundamentals of the Church Welfare Plan“, Church News, 2. März 1946, Seite 9

  11. 1 Korinther 2:9

  12. Albert Camus, Hg. John Bartlett, Familiar Quotations, 16. Auflage, 1980, Seite 732