Dienen
Suchen Sie nach Möglichkeiten, wie Sie Ihrem Nächsten durch scheinbar einfache Taten etwas Gutes tun können.
Präsident David O. McKay zitierte einmal Abraham Lincoln mit den Worten: „Alles, was ich bin und zu sein hoffe, verdanke ich meiner engelsgleichen Mutter.“1 Diese Worte spiegeln gut die Gefühle wider, die ich für meine eigene Mutter hege. Viola Jean Goates Snow, oder Jeanie für alle, die sie kannten, wurde 1929 geboren und starb 1989 kurz nach ihrem 60. Geburtstag. Sie lehrte und ermutigte mich. Sie gab mir wirklich die Überzeugung, dass ich alles erreichen konnte, was ich wollte. Sie war auch streng zu mir. Wie meine eigenen Söhne von ihrer Mutter sagen: „Sie war unser Reisebüro für Erlebnisreisen ins Land des schlechten Gewissens.“ Mutter war wundervoll und beispielhaft in ihrer Aufgabe als Mutter; es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht an sie denke und sie nicht vermisse.
Einige Jahre, bevor sie starb, erkrankte sie an Krebs, und sie kämpfte mit großem Mut gegen diese Krankheit an. Als Familie lernten wir, dass Krebs eine Krankheit der Liebe ist, was merkwürdig genug ist. Sie gibt Gelegenheit, Beziehungen in Ordnung zu bringen, sich voneinander zu verabschieden und seine Liebe zu zeigen. Einige Wochen, bevor meine Mutter starb, kamen wir im Wohnzimmer des Hauses zusammen, in dem ich aufgewachsen war. Mutter hatte einen guten Geschmack und liebte das Schöne. Sie sehnte sich auch danach, Reisen zu unternehmen, aber unsere Familie hatte nur ein bescheidenes Einkommen, und so konnten diese Träume nicht ganz erfüllt werden. In diesem Bewusstsein fragte ich sie, ob sie irgendetwas bedauere. Als Antwort erwartete ich eigentlich zu hören, dass sie sich immer schon ein größeres und schöneres Haus gewünscht hätte oder dass sie vielleicht traurig oder enttäuscht darüber sei, niemals auf Reisen gegangen zu sein. Sie dachte eine Weile über meine Frage nach und erwiderte dann schlicht: „Ich wünschte, ich hätte mehr gedient.“
Ihre Antwort verblüffte mich. Meine Mutter hatte Berufungen in der Kirche immer angenommen. In der Gemeinde hatte sie als Leiterin der Frauenhilfsvereinigung, als Sonntagsschullehrerin, als Besuchslehrerin und in der Primarvereinigung gedient. Als Kinder brachten wir Nachbarn und Gemeindemitgliedern ständig Mahlzeiten, Marmelade und eingemachtes Obst vorbei. Als ich sie an all das erinnerte, blieb sie unbeirrt. „Ich hätte mehr tun können“, war alles, was sie sagte. Meine Mutter hatte ein beispielhaftes und erfülltes Leben geführt. Sie wurde von ihrer Familie und ihren Freunden geliebt. In ihrem oft harten und durch Krankheit und Leiden verkürzten Leben hatte sie viel erreicht. Trotz alldem bedauerte sie am allermeisten, nicht genug gedient zu haben. Ich habe allerdings keinen Zweifel daran, dass das Opfer meiner Mutter hier auf Erden vom Herrn angenommen und sie von ihm willkommen geheißen wurde. Aber warum beschäftigte sie dies nur wenige Tage vor ihrem Dahinscheiden am meisten? Was bedeutet dienen, und warum ist es im Evangelium Jesu Christi so wichtig?
Zunächst einmal wurde uns geboten, einander zu dienen. Das erste Gebot lautet, Gott zu lieben. „Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“2
Wir zeigen unsere Liebe dadurch, dass wir einander helfen und dienen.
Präsident Gordon B. Hinckley hat gesagt: „Niemand, der sich unfreundlich verhält, der nicht hilfsbereit auf andere zugeht, kann ein wahrer Heiliger der Letzten Tage sein. Dies liegt im Kern des Evangeliums selbst. Brüder und Schwestern, wir können nicht zu unserem eigenen Nutzen leben.“3
Der Erretter lehrte seine Jünger diesen wichtigen Grundsatz im Matthäus-Evangelium:
„Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben?
Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben?
Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?
Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“4
Dieses Dienen muss selbstlos, ohne einen Gedanken an persönlichen Gewinn oder Belohnung erfolgen, und zwar dann, wenn es benötigt wird, und nicht, wenn es gerade passt. Gelegenheiten zum Dienen sind vielleicht nicht immer offensichtlich, da es in der menschlichen Natur liegt, sich um die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zu sorgen. Wir müssen solchen Neigungen widerstehen und nach Gelegenheiten zum Dienen suchen. Wenn wir jemanden besuchen, der krank ist, der darunter leidet, dass er einen geliebten Menschen verloren hat, oder der sonst einen Kummer hat, genügt es nicht, einfach zu sagen: „Ruf mich an, wenn ich etwas tun kann.“ Suchen Sie stattdessen nach Möglichkeiten, wie Sie Ihrem Nächsten durch scheinbar einfache Taten etwas Gutes tun können. Es ist besser, etwas zu tun, was nicht sehr wichtig erscheint, als gar nichts zu tun.
Zweitens haben wir als Mitglieder der Kirche die Pflicht, Berufungen anzunehmen und beim Aufbau des Reiches Gottes auf Erden mitzuhelfen. Dadurch, dass wir in unterschiedlichen Berufungen dienen, sind wir anderen von Nutzen. Bei der Missionsarbeit ändert sich das Leben der Menschen, die das Evangelium Jesu Christi kennenlernen und ein Zeugnis von seiner Wahrheit erlangen. Durch die heilige Arbeit im Tempel werden diejenigen gesegnet, die schon von uns gegangen sind. Beim Dienen im Evangelium dürfen wir andere unterweisen, die Jugend stärken und kleine Kinder fördern, indem sie die einfachen Wahrheiten des Evangeliums kennenlernen. Wenn wir in der Kirche dienen, lernen wir, etwas zu geben und anderen zu helfen.
Präsident Spencer W. Kimball, ein großes Vorbild, was das Dienen betrifft, hat gesagt: „Gott sieht uns, und er wacht über uns. Was wir brauchen, gibt er uns aber normalerweise durch andere Menschen. Es ist also sehr wichtig, dass wir einander im Reich Gottes dienen.“5 Die Aufgabe, in der Kirche zu dienen, enthebt uns jedoch nicht unserer Aufgabe, unserer Familie und unseren Mitmenschen zu dienen. Präsident Kimball warnte auch: „Niemand von uns soll von seinen Aufträgen in der Kirche so sehr in Anspruch genommen werden, dass er nicht mehr stille, tätige Nächstenliebe üben kann.“6
Letztlich haben wir auch die Pflicht, dem Gemeinwohl zu dienen. Wir müssen dazu beitragen, dass unsere unmittelbare Umgebung, unsere Schulen, unsere Städte und Dörfer besser werden. Ich möchte diejenigen unter uns loben, die sich, gleich welcher politischen Überzeugung sie sind, auf kommunaler, regionaler oder überregionaler Ebene für ein besseres Leben einsetzen. Desgleichen lobe ich diejenigen, die aus freien Stücken ihre Zeit und ihre Mittel opfern, um förderungswürdige gemeinnützige und wohltätige Projekte zu unterstützen, von denen andere profitieren und die die Welt besser machen. Mein Großvater lehrte mich schon in jungen Jahren: „Mit dem, was wir für die Allgemeinheit tun, zahlen wir die Miete für unseren Platz auf dieser Erde.“
Wenn wir dienen wollen, müssen wir selbstlos sein, teilen und abgeben. Meine Frau und ich lernten während unserer Dienstzeit in Afrika eine wertvolle Lektion. Wir wurden zu einer Distriktskonferenz nach Jinja in Uganda beordert. Früh am Samstagmorgen, ehe die Versammlungen begannen, nahmen wir die Gelegenheit wahr, ein neues Gemeindehaus in der Gegend anzuschauen. Als wir dort ankamen, wurden wir von einem Jungen im Alter von drei oder vier Jahren begrüßt. Er war auf das Kirchengelände gekommen, um zu sehen, was dort vor sich ging. Meine Frau, von seinem breiten Lächeln angetan, griff in ihre Tasche und reichte ihm ein eingewickeltes Butterkaramell-Bonbon. Er war entzückt.
Wir schauten uns einige Minuten lang das Gemeindehaus an und kamen dann wieder heraus. Dort wurden wir von über einem Dutzend lächelnder Kinder erwartet, die alle die neue Bonbontante des Viertels treffen wollten.
Phyllis war untröstlich, denn sie hatte dem Jungen ihr letztes Bonbon gegeben. Enttäuscht machte sie den Kindern durch Gesten verständlich, dass sie keine Bonbons mehr hatte. Der kleine Junge, der uns anfangs begrüßt hatte, gab daraufhin meiner Frau das Bonbon zurück und machte ihr Zeichen, sie möge es auswickeln. Schweren Herzens kam Phyllis der Aufforderung nach und erwartete, dass der Junge das Bonbon nun vor all seinen neidischen Freunden in seinem Mund verschwinden lassen würde.
Stattdessen ging er zu unserer großen Überraschung zu jedem seiner Freunde, die ihre Zunge herausstreckten und an dem köstlichen Bonbon schleckten. Der Junge fuhr reihum damit fort und schleckte gelegentlich selbst an dem Bonbon, bis es aufgebraucht war.
Man kann wohl bei dieser Art zu teilen über den Mangel an Hygiene streiten, nicht jedoch über das Beispiel, das dieser Junge gegeben hat. Selbstlosigkeit, teilen und abgeben sind unverzichtbare Elemente des Dienens. Dieses Kind hat diese Lektion gut gelernt.
Ich hoffe und bete, dass wir alle mehr tun können, indem wir anderen dienen. Wenn wir darin versagen, einander zu dienen, dann wird uns die Fülle der Rechte und Segnungen des wiederhergestellten Evangeliums versagt bleiben. Im Namen Jesu Christi. Amen.