2010
In Geduld fortfahren
Mai 2010


In Geduld fortfahren

Was wir durch die Geduld lernen, wird unseren Charakter festigen, unser Leben auf eine höhere Ebene bringen und unser Glück mehren.

President Dieter F. Uchtdorf

In den Sechzigerjahren führte ein Professor an der Stanford University ein einfaches Experiment durch, um die Willensstärke vierjähriger Kinder zu testen. Er legte vor jedes Kind einen großen Marshmallow und sagte, sie könnten ihn jetzt gleich essen. Wenn sie aber 15 Minuten warteten, würden sie zwei Marshmallows bekommen.

Dann ließ er die Kinder allein und beobachtete durch ein verspiegeltes Fenster, was geschah. Ein paar Kinder aßen den Marshmallow sofort, einige konnten nur ein paar Minuten abwarten, ehe sie der Versuchung nachgaben. Nur 30 Prozent konnten warten.

Das war kein besonders interessantes Experiment, und so wandte sich der Professor anderen Forschungsgebieten zu. Wie er selbst sagte: „Es gibt nur wenig, was man anhand von Kindern, die versuchen, einen Marshmallow nicht zu essen, erforschen kann“. Doch er verfolgte über die Jahre die Entwicklung der Kinder und stellte etwas Interessantes fest: Die Kinder, die nicht abwarten konnten, hatten es später schwer im Leben und waren eher verhaltensauffällig, während diejenigen, die abwarten konnten, sich meist besser entwickelten und motivierter waren; sie hatten bessere Noten, verdienten mehr und hatten bessere Beziehungen.

Was als einfaches Experiment mit Kindern und Marshmallows begann, wurde eine richtungsweisende Studie darüber, dass die Fähigkeit zu warten – geduldig zu sein – ein entscheidender Charakterzug ist, über den späterer Erfolg im Leben vorhersagbar sein könnte.1

Warten kann schwer sein

Warten kann schwer sein. Kinder wissen das, und auch die Erwachsenen. In unserer Welt gibt es Fastfood, Instant Messaging, sofort abrufbare Filme und man findet auf einfache und komplexe Fragen umgehend eine Antwort. Wir warten nicht gern. Bei einigen steigt der Blutdruck schon, wenn es an ihrer Kasse im Supermarkt langsamer vorangeht als an den anderen.

Geduld – die Fähigkeit, unsere Wünsche für eine Weile zurückzustellen – ist eine kostbare und seltene Tugend. Wir wollen das, was wir wollen, und wir wollen es gleich. Darum kann allein der Gedanke an Geduld unangenehm und mitunter bitter sein.

Doch ohne Geduld können wir Gott nicht erfreuen, ohne sie können wir nicht vollkommen werden. Ja, Geduld ist eine Reinigung, bei der unser Verständnis weiterentwickelt, unser Glück vertieft und unser Handeln zielgerichteter wird. Außerdem lässt sie uns auf Frieden hoffen.

Als Eltern wissen wir, wie unklug es wäre, jedem Wunsch unserer Kinder nachzugeben. Doch Kinder sind nicht die Einzigen, die verzogen werden, wenn man ihre Wünsche umgehend erfüllt. Unser Vater im Himmel weiß, was gute Eltern im Laufe der Zeit auch erkennen: Wenn Kinder reif werden und ihr Potenzial verwirklichen sollen, müssen sie lernen, zu warten.

Zu Geduld gehört mehr, als lediglich zu warten

Als ich zehn Jahre alt war, kamen wir als Flüchtlinge in ein anderes Land. In der Schule war ich immer gut gewesen, zumindest bis wir dann nach Westdeutschland kamen. Hier machte ich in der Schule ganz andere Erfahrungen. Im Erdkundeunterricht behandelten wir ganz andere Themen. Die Geschichte wurde auch ganz anders dargestellt. Früher hatte ich Russischunterricht, jetzt stand Englisch auf dem Stundenplan. Das fiel mir schwer. Manchmal war ich sogar fest davon überzeugt, meine Zunge sei für das Englische ganz einfach nicht geschaffen.

Da so viel vom Lernstoff ganz neu und mir völlig fremd war, kam ich nicht mehr mit. Zum ersten Mal im Leben fragte ich mich, ob ich einfach nicht intelligent genug für die Schule war.

Glücklicherweise hatte ich einen Lehrer, der mich Geduld lehrte. Er brachte mir bei, dass kontinuierliches Arbeiten – geduldige Beharrlichkeit – mir beim Lernen helfen würde.

Im Laufe der Zeit erschlossen sich mir die schwierigen Fächer, sogar Englisch. Allmählich begriff ich, dass ich lernen konnte, wenn ich mich beharrlich anstrengte. Das ging nicht über Nacht, aber ich schaffte es – mit Geduld.

Daraus habe ich gelernt, dass Geduld weit mehr ist als darauf zu warten, dass etwas geschieht – zur Geduld gehört auch, dass man aktiv auf ein erstrebenswertes Ziel hinarbeitet und nicht entmutigt ist, wenn sich die Ergebnisse nicht sofort oder ohne Anstrengung einstellen.

Hier haben wir ein wichtiges Prinzip: Geduld ist keine passive Resignation, sie bedeutet auch nicht, dass man aus Angst erst gar nicht aktiv wird. Geduld ist aktives Warten und Ausharren. Geduld bedeutet, dass man an einer Sache dranbleibt und tut, was man kann – arbeiten, hoffen und Glauben ausüben; Schwierigkeiten tapfer ertragen, auch wenn die Erfüllung unserer Herzenswünsche auf sich warten lässt. Geduld heißt nicht einfach ausharren, sondern gut ausharren!

Ungeduld dagegen ist ein Zeichen von Egoismus. Diese Eigenschaft findet man bei ichbezogenen Menschen. Sie ist das Produkt einer häufig anzutreffenden Denkweise, auch bekannt als das „Ich-bin-der-Mittelpunkt-der-Welt-Syndrom“. Diese Menschen glauben, dass sich die ganze Welt um sie drehe, und alle anderen seien lediglich Statisten im großen Welttheater, in dem nur sie allein die Hauptrolle spielen.

Liebe Brüder, wie sehr unterscheidet sich dies doch von dem Maßstab, den der Herr für uns als Priestertumsträger festgelegt hat.

Geduld – ein Grundsatz des Priestertums

Als Priestertumsträger und Repräsentanten des Herrn Jesus Christus müssen wir anderen so dienen, wie er es uns gezeigt hat. Es hat schon seinen Grund, warum fast jede Lektion zum Thema Führung im Priestertum früher oder später in Abschnitt 121 des Buches Lehre und Bündnisse anlangt. In wenigen Versen erteilt der Herr eine meisterliche Lektion über Führung im Priestertum: „Kraft des Priestertums kann und soll keine Macht und kein Einfluss anders geltend gemacht werden als nur mit überzeugender Rede, mit Langmut, mit Milde und Sanftmut und mit ungeheuchelter Liebe.“2

Die hier genannten Eigenschaften und Vorgehensweisen sind die Grundlage göttlicher Geduld und untrennbar mit wirksamem Dienst im Priestertum und in der patriarchalischen Ordnung verbunden. Diese Eigenschaften geben Ihnen Kraft und Weisheit, wie Sie Ihre Berufung groß machen können, beim Verkünden des Evangeliums, bei der Integration von Kollegiumsmitgliedern und beim wichtigsten Priestertumsdienst, den man leisten kann, nämlich dem liebevollen Wirken in den eigenen vier Wänden.

Behalten wir immer im Kopf, dass Gott uns unter anderem deshalb das Priestertum anvertraut hat, damit wir uns für Segnungen in der Ewigkeit bereitmachen, indem wir unser Wesen läutern – durch die Geduld, die man für den Dienst im Priestertum braucht.

So wie der Herr mit uns Geduld hat, wollen wir Geduld mit denen haben, denen wir dienen. Wir müssen begreifen, dass sie, genau wie wir, unvollkommen sind. Sie machen, genau wie wir, Fehler. Sie möchten, genau wie wir, dass man im Zweifelsfall zu ihnen steht.

Geben Sie niemanden auf. Dazu gehört auch, dass wir uns selbst nicht aufgeben.

Ich glaube, dass jeder von uns sich von Zeit zu Zeit mit dem Schuldner aus dem Gleichnis Jesu identifizieren kann, der dem König Geld schuldete und ihn anflehte: „Hab Geduld mit mir!“3

Auf die Weise des Herrn und nach seinem Zeitplan

Die Kinder Israel warteten 40 Jahre in der Wüste, ehe sie das verheißene Land betreten konnten. Jakob wartete sieben lange Jahre auf Rahel. Die Juden warteten 70 Jahre in Babylon, ehe sie zurückkehren und den Tempel wiederaufbauen konnten. Die Nephiten warteten auf das Zeichen für die Geburt Christi, obwohl sie wussten, dass sie umkommen würden, wenn das Zeichen nicht käme. Joseph Smiths Ungemach im Gefängnis zu Liberty brachte sogar den Propheten Gottes dazu, zu fragen: „Wie lange noch?“4

Und jedes Mal hatte der Vater im Himmel seine Gründe, warum seine Kinder warten mussten.

Jeder von uns muss auf seine eigene Weise warten. Wir warten darauf, dass unsere Gebete erhört werden. Wir warten auf etwas, was uns zu dem Zeitpunkt so richtig und gut erscheint, dass wir gar nicht begreifen können, warum der Vater im Himmel uns auf die Antwort warten lässt.

Ich weiß noch, wie ich mich auf meine Ausbildung als Kampfpilot vorbereitete. Ein Großteil der militärischen Grundausbildung bestand aus körperlicher Ertüchtigung. Ich weiß bis heute nicht so recht, weshalb man meinte, endloser Dauerlauf sei so wichtig für die Pilotenausbildung. Auf jeden Fall rannten wir und rannten und rannten.

Beim Laufen fiel mir etwas auf, was mir offen gesagt schon zu denken gab. Immer wieder wurde ich von Männern überholt, die rauchten, tranken und alles Mögliche taten, was im Widerspruch zum Evangelium stand, vor allem zum Wort der Weisheit.

Ich weiß noch, wie ich dachte: „Moment mal! Bin ich nicht derjenige, der fähig sein sollte, zu laufen und nicht zu ermüden?“ Aber ich war müde, und ich wurde von Leuten überholt, die definitiv nicht das Wort der Weisheit befolgten. Ich muss gestehen, dass mir das damals zu schaffen machte. Ich fragte mich, ob die Verheißung echt war oder nicht.

Die Antwort kam nicht sofort. Doch letzten Endes merkte ich, dass Gottes Verheißungen nicht immer so schnell oder auf die Weise erfüllt werden, wie wir es vielleicht erhoffen; es geschieht nach seinem Zeitplan und auf seine Weise. Jahre später konnte ich die zeitlichen Segnungen klar erkennen, die man erhält, wenn man das Wort der Weisheit befolgt – zusätzlich zu den geistigen Segnungen, die man umgehend erhält, wenn man einem Gesetz Gottes gehorcht. Rückblickend kann ich mit Gewissheit sagen, dass sich die Verheißungen des Herrn vielleicht nicht immer schnell, aber doch gewiss erfüllen.

Geduld erfordert Glauben

Brigham Young hat gesagt, dass er, wenn etwas eintrat, was er nicht so ganz verstehen konnte, den Herrn im Gebet bat, ihm die Geduld zu schenken, „zu warten, bis ich dies selbst verstehe“5. Und dann betete Brigham so lange, bis er es begreifen konnte.

Wir müssen lernen, dass wir nach dem Plan des Herrn alles „Zeile um Zeile, Weisung um Weisung“6 begreifen. Kurz gesagt ist die Geduld der Preis für Wissen und Verstehen.

Oft kann man die tiefen Täler der Gegenwart erst dann erfassen, wenn man vom Gebirge der künftigen Erfahrungen darauf zurückblickt. Häufig erkennen wir die Hand des Herrn in unserem Leben erst lange nach unseren Prüfungen. Häufig sind die schwierigsten Zeiten im Leben wichtige Bausteine, die das Fundament unseres Charakters bilden und Gelegenheiten, Verständnis und Glück in der Zukunft den Weg ebnen.

Geduld, eine Frucht des Geistes7

Geduld ist eine göttliche Eigenschaft; sie kann die Seele heilen, Schätze von Wissen und Verständnis erschließen und einfache Männer und Frauen in Heilige und Engel verwandeln. Geduld ist wahrlich eine Frucht des Geistes.

Geduld bedeutet, bis ans Ende bei einer Sache zu bleiben. Geduld bedeutet, für künftige Segnungen auf sofortige Erfüllung zu verzichten. Geduld bedeutet, seinen Zorn zu zügeln und unfreundliche Worte herunterzuschlucken. Geduld bedeutet, dem Bösen zu widerstehen, auch wenn es so aussieht, als ob es andere reich mache.

Geduld bedeutet, das zu akzeptieren, was sich nicht ändern lässt, und sich dem mit Mut, Würde und Glauben zu stellen. Geduld bedeutet, „willig [zu sein], sich allem zu fügen, was der Herr für richtig hält, [uns] aufzuerlegen, so wie ein Kind sich seinem Vater fügt“8. Und letztlich bedeutet Geduld, „fest und standhaft und unverrückbar im Halten der Gebote des Herrn“9 zu sein – jede Stunde, jeden Tag, auch wenn das schwierig ist. In den Worten von Johannes dem Offenbarer: „Hier muss sich die Standhaftigkeit der Heiligen bewähren, die an den Geboten Gottes und an der Treue zu Jesus festhalten.“10

Geduld führt in Richtung Vollkommenheit. Der Heiland selbst hat gesagt, dass wir das Leben gewinnen, wenn wir standhaft bleiben.11 In einer anderen Übersetzung des griechischen Textes steht an der Stelle: „In eurer Geduld erlangt ihr die Gewalt über eure Seele.“12 Geduld bedeutet, im Glauben auszuharren und zu wissen, dass wir manchmal beim Warten mehr wachsen, als wenn wir das Gewünschte bekämen. Das war so zur Zeit des Erlösers. Es ist auch heute so, denn in diesen Letzten Tagen ist uns geboten: „Fahrt fort in Geduld, bis ihr vollkommen geworden seid.“13

Der Herr segnet uns für unsere Geduld

Ich möchte den Psalmisten von einst etwas freier zitieren: Wenn wir geduldig auf den Herrn hoffen, wird er sich uns zuneigen. Er wird unser Schreien hören. Er wird uns aus der Grube des Grauens heraufziehen und unsere Füße auf einen festen Felsen stellen. Er wird uns ein neues Lied in den Mund legen, und wir werden unseren Gott preisen. Viele werden es sehen, und sie werden auf den Herrn vertrauen.14

Meine lieben Brüder, die Quintessenz zum Thema Geduld lautet: Halten Sie die Gebote, vertrauen Sie auf Gott, den himmlischen Vater, dienen Sie ihm sanftmütig und mit christlicher Liebe, üben Sie Glauben an den Erlöser und hoffen Sie auf ihn und geben Sie niemals auf. Was wir durch die Geduld lernen, wird unseren Charakter festigen, unser Leben auf eine höhere Ebene bringen und unser Glück mehren. Es hilft uns, würdige Priestertumsträger zu werden und treue Jünger unseres Herrn Jesus Christus.

Ich bete darum, dass Geduld ein bestimmender Wesenszug von uns allen wird, die wir das Priestertum des allmächtigen Gottes tragen, dass wir tapfer auf die Verheißungen und den Zeitplan des Herrn vertrauen, dass wir andere genauso geduldig und mitfühlend behandeln, wie wir es für uns erhoffen, und dass wir in Geduld fortfahren, bis wir vollkommen geworden sind. Im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.

Anmerkungen

  1. Siehe Jonah Lehrer, „Don’t! The Secret of Self-Control“, New Yorker, 18. Mai 2009, Seite 26f.

  2. Lehre und Bündnisse 121:41; siehe auch Vers 39-45

  3. Matthäus 18:26

  4. Lehre und Bündnisse 121:2

  5. Lehren der Präsidenten der Kirche: Brigham Young, Seite 75

  6. Lehre und Bündnisse 98:12

  7. Siehe Galater 5:22,23

  8. Mosia 3:19

  9. 1 Nephi 2:10

  10. Offenbarung 14:12

  11. Vgl. Lukas 21:19

  12. King-James-Übersetzung der Bibel, Lukas 21:19, Fußnote b

  13. Lehre und Bündnisse 67:13

  14. Vgl. Psalm 40:2-4