2011
Was ist Toleranz?
März 2011


Was ist Toleranz?

Nach einer Ansprache bei der Frühjahrs-Generalkonferenz 1994

Elder Russell M. Nelson

Toleranz ist eine Tugend, die in unserer turbulenten Welt dringend gebraucht wird. Wir müssen uns aber klarmachen, dass es zwischen tolerieren und billigen einen Unterschied gibt. Die freundliche Toleranz, die du einem Menschen entgegenbringst, gibt diesem nicht das Recht, etwas Schlechtes zu tun, und deine Toleranz verpflichtet dich auch nicht, die Missetat eines anderen zu tolerieren. Dieser Unterschied ist grundlegend dafür, diese wichtige Tugend zu verstehen.

Zwei wichtige Gebote

Das Wichtigste im Leben ist, dass wir Gott lieben und unseren Nächsten lieben.1 Damit ist in weitläufigem Sinn der Nächste in unserer Familie, in unserer Umgebung, in unserem Land und in der Welt gemeint. Wenn wir das zweite Gebot befolgen, ist es leichter, auch das erste Gebot zu befolgen. „Wenn ihr im Dienste eurer Mitmenschen seid, [seid] ihr nur im Dienste eures Gottes.“ (Mosia 2:17.)

Die Taufe überstrahlt die Herkunft

Auf jedem Kontinent und überall auf den Inseln des Meeres sammeln sich die Gläubigen in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Unterschiede in der kulturellen Herkunft, der Sprache, der Abstammung und im Aussehen werden bedeutungslos, wenn die Mitglieder sich im Dienst für ihren geliebten Heiland verlieren.

Nur wenn uns klar ist, dass Gott wirklich unser Vater ist, können wir ganz verstehen, dass alle Menschen Brüder sind. Dieses Verstehen erweckt den Wunsch, statt trennender Mauern lieber Brücken der Zusammenarbeit zu bauen.

Intoleranz sät Streit; Toleranz überwindet Streit. Toleranz ist der Schlüssel, der die Tür zu gegenseitigem Verständnis und gegenseitiger Liebe öffnet.

Die Risiken grenzenloser Toleranz

Nun möchte ich eine wichtige Warnung anbringen. Man könnte irrtümlicherweise annehmen, wenn ein wenig von etwas gut ist, müsste eine Menge davon noch besser sein. Falsch! Eine Überdosis eines Medikaments, das man eigentlich braucht, kann giftig sein. Grenzenlose Barmherzigkeit könnte der Gerechtigkeit zuwiderlaufen. So kann auch Toleranz, die keine Grenze hat, zu rückgratloser Freizügigkeit führen.

Der Herr hat Linien gezogen, die die annehmbaren Grenzen der Toleranz bestimmen. Es ist gefährlich, diese gottgegebenen Grenzen zu missachten. So wie Eltern ihren kleinen Kindern beibringen, nicht loszulaufen und auf der Straße zu spielen, hat uns der Erretter erklärt, dass wir das Böse nicht tolerieren müssen. „Jesus ging in den Tempel …; er stieß die Tische der Geldwechsler … um.“ (Matthäus 21:12; siehe auch Markus 11:15.) Auch wenn der Herr den Sünder liebt, kann er doch, wie er sagt, „nicht mit dem geringsten Maß von Billigung auf Sünde blicken“ (LuB 1:31).

Wer den Sünder aufrichtig liebt, sieht sich vielleicht gezwungen, ihm mutig entgegenzutreten, anstatt alles zu dulden. Wer aufrichtig liebt, unterstützt kein selbstzerstörerisches Verhalten.

Toleranz und gegenseitige Achtung

Unsere Verpflichtung dem Herrn gegenüber lässt uns Sünde verabscheuen und doch sein Gebot befolgen, unseren Nächsten zu lieben. Zusammen leben wir auf dieser Erde, und wir müssen sie pflegen, uns untertan machen und einander daran teilhaben lassen, und zwar mit Dankbarkeit.2 Jeder von uns kann dazu beitragen, das Leben auf dieser Welt schöner zu machen.

Die Erste Präsidentschaft und das Kollegium der Zwölf Apostel haben eine öffentliche Stellungnahme herausgegeben, aus der ich zitiere:

„Es ist ein Unrecht, wenn ein Einzelner oder eine Gruppe einem anderen aus der traurigen, abscheulichen Annahme heraus, rassisch oder kulturell überlegen zu sein, seine unveräußerliche Menschenwürde abspricht.

Wir rufen die Menschen in aller Welt auf, sich von Neuem solch altbewährten Idealen wie Toleranz und gegenseitiger Achtung zu verpflichten. Wir glauben aufrichtig daran, dass wir, wenn wir einander voll Rücksichtnahme und Anteilnahme akzeptieren, feststellen werden: Wir können alle friedlich zusammenleben, auch wenn zwischen uns große Unterschiede bestehen.“3

Wir stehen zusammen, intolerant gegen Übertretung, doch tolerant gegenüber dem Nächsten mit all den Unterschieden, die ihm heilig sind. Unsere geliebten Brüder und Schwestern auf der ganzen Welt sind alle Kinder Gottes. Er ist unser Vater. Sein Sohn Jesus ist der Messias. Seine Kirche ist in diesen Letzten Tagen auf Erden wiederhergestellt worden, damit alle Kinder Gottes gesegnet werden.

Der Erretter lehrt uns, dass wir das Böse nicht tolerieren müssen. „Jesus ging in den Tempel …; er stieß die Tische der Geldwechsler … um.“

Christus reinigt den Tempel, Gemälde von Carl Heinrich Bloch, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Nationalhistorischen Museums auf Schloss Frederiksborg in Hillerød, Dänemark