2012
Der Herr hat Sie nicht vergessen
November


Der Herr hat Sie nicht vergessen

Linda S. Reeves

Der Vater im Himmel und unser Erlöser, Jesus Christus, kennen und lieben uns. Wir können in unserem Leid ihre Liebe und ihr Mitgefühl verspüren.

Wir kommen in aller Welt mit Schwestern zusammen und sind beeindruckt, wie stark Ihr Zeugnis ist. Viele von Ihnen sind Mitglieder der Kirche in der ersten oder zweiten Generation. Viele Schwestern erfüllen mehrere Berufungen, legen lange Wege zurück, um zur Kirche zu gehen, und bringen Opfer, um heilige Tempelbündnisse einzugehen und zu halten. Wir ehren Sie. Sie sind die Pioniere des Herrn in der heutigen Zeit!

Vor kurzem lernten mein Mann Mel und ich bei einem Museumsbesuch in Australien eine Fremdenführerin namens Mollie Lenthal kennen. Wir erfuhren, dass Mollie, eine nette Frau über 70, keine Kinder hat und nie verheiratet war. Sie ist ein Einzelkind und ihre Eltern sind seit vielen Jahren verstorben. Ihre nächsten Verwandten sind zwei Cousins, die auf einem anderen Kontinent wohnen. Plötzlich erfüllte mich der Geist und gab mir Zeugnis, fast so, als ob der Vater im Himmel zu mir spräche: „Mollie ist nicht allein! Mollie ist meine Tochter! Ich bin ihr Vater! Sie ist eine sehr wichtige Tochter in meiner Familie und sie ist niemals allein!

Eine meiner Lieblingsbegebenheiten aus dem Leben des Erlösers ist die Geschichte von Lazarus. In den Schriften lesen wir: „Jesus liebte Marta, ihre Schwester [Maria] und [ihren Bruder] Lazarus.“1 Jesus erhielt die Nachricht, Lazarus sei sehr krank, aber er machte sich nicht sofort auf den Weg. Er war noch zwei weitere Tage unterwegs und sagte: „Diese Krankheit … dient der Verherrlichung Gottes: Durch sie soll der Sohn Gottes verherrlicht werden.“2

Als Marta hörte, dass Jesus kam, „ging sie ihm entgegen“3 und erzählte ihm, was geschehen war. Lazarus war bereits seit „vier Tage[n] im Grab“4. Traurig rannte Marta zurück und berichtete Maria, dass der Herr gekommen sei.5 Voller Kummer rannte Maria zu Jesus, fiel ihm zu Füßen und weinte.6

Wir lesen: „Als Jesus sah, wie [Maria] weinte …, war er im Innersten erregt und erschüttert“ und wollte wissen, wo sie ihn begraben hatten.

„Sie antworteten ihm: Herr, komm und sieh!“7

Dann folgt eine der mitfühlendsten, liebevollsten Schriftstellen überhaupt: „Da weinte Jesus.“8

Der Apostel James E. Talmage schrieb: „Der Anblick der beiden gramerfüllten Frauen …, ließ Jesus [mit ihnen] trauern, sodass er im Geist ergrimmte und zutiefst betrübt war.“9 Diese Geschichte ist ein Zeugnis für das Mitleid, das Mitgefühl und die Liebe, die unser Erlöser und der Vater im Himmel jedes Mal für jeden von uns empfinden, wenn uns Seelenpein, Sünde, Ungemach und die Schmerzen des Lebens bedrücken.

Liebe Schwestern, der Vater im Himmel und unser Erlöser, Jesus Christus, kennen und lieben uns. Sie wissen es, wenn wir Schmerzen haben oder in irgendeiner Art und Weise leiden. Sie sagen nicht einfach: „Es ist schon in Ordnung, dass du gerade Schmerzen erleidest, denn bald wird ja alles wieder gut. Du wirst wieder gesund oder dein Mann wird Arbeit finden oder dein Kind, das auf Abwege geraten ist, wird zurückkommen.“ Sie verspüren das Ausmaß unseres Leides, und wir können in unserem Leid ihre Liebe und ihr Mitgefühl verspüren.

Alma hat bezeugt:

„Und er wird hingehen und Schmerzen und Bedrängnisse und Versuchungen jeder Art leiden; und dies, damit sich das Wort erfülle, das da sagt, er werde die Schmerzen und die Krankheiten seines Volkes auf sich nehmen.

Und er wird … ihre Schwächen auf sich nehmen, auf dass sein Inneres von Barmherzigkeit erfüllt sei …, damit er … wisse, wie er seinem Volk beistehen könne gemäß dessen Schwächen.“10

Wenn wir uns fragen, ob unser Erlöser und der Vater im Himmel uns kennen oder wie gut sie uns persönlich kennen, können wir uns die Worte ins Bewusstsein rufen, die der Heiland an Oliver Cowdery richtete:

„Wenn du ein weiteres Zeugnis begehrst, dann denke in deinem Sinn an die Nacht, da du im Herzen zu mir geschrien hast und wissen wolltest, ob diese Dinge wahr seien.“11

Kurz zuvor hatte der Erretter ihm bestätigt, es gebe niemanden „außer Gott, der deine Gedanken und die Absichten deines Herzens kennt“12.

Der Erretter machte Oliver darauf aufmerksam, dass er sein inniges Gebet in allen Einzelheiten kannte und auch genau wusste, zu welcher Zeit und in welcher Nacht er es gesprochen hatte.

Vor vielen Jahren erkrankte mein Mann schwer an einer seltenen Krankheit. Als die Wochen verstrichen und sich sein Zustand verschlimmerte, war ich überzeugt, dass es mit ihm zu Ende ging. Ich erzählte niemandem von meiner Befürchtung. Wir hatten etliche kleine Kinder und führten eine liebevolle ewige Ehe, und der Gedanke, meinen Mann zu verlieren und meine Kinder allein großzuziehen, erfüllte mich mit Einsamkeit, Verzweiflung und sogar Wut. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mich vom Vater im Himmel entfernte. Ich betete tagelang nicht; ich hörte auf, Pläne zu machen; ich weinte. Schließlich erkannte ich, dass ich nicht alleine damit fertigwerden würde.

Zum ersten Mal seit vielen Tagen kniete ich nieder, schüttete dem Vater im Himmel mein Herz aus und bat ihn um Vergebung, weil ich mich von ihm abgewandt hatte. Ich sagte ihm, was tief in mir vor sich ging, und rief schließlich laut aus, wenn er das wirklich von mir verlangen wolle, werde ich es auch tun. Ich wusste, dass er einen Plan für uns haben musste.

Als ich auf meinen Knien weiterbetete und ihm mein Herz ausschüttete, überkam mich ein höchst angenehmes, friedliches, liebevolles Gefühl. Es war, als wäre ich in eine Decke aus Liebe eingehüllt. Ich konnte ich den Vater im Himmel regelrecht sagen hören: „Das war doch alles, was ich wissen musste.“ Ich fasste den Entschluss, mich nie wieder von ihm abzuwenden. Meinem Mann ging es zum Erstaunen aller allmählich besser, und er wurde wieder vollständig gesund.

Jahre später knieten mein Mann und ich neben unserer 17-jährigen Tochter und flehten um ihr Leben. Dieses Mal lautete die Antwort Nein, aber die gleiche Liebe und der gleiche Frieden, die der Heiland verheißen hat, stellten sich genauso machtvoll wieder ein. Wir wussten: Obwohl der Vater im Himmel sie zu sich heim rief, würde alles gut werden. Wir haben erfahren, was es heißt, die Last auf den Herrn zu werfen, und zu wissen, dass er uns kennt, uns liebt und in unserem Kummer und Leid Mitleid mit uns hat.

Eine der schönsten Geschichten von Vater und Sohn im Buch Mormon ist, wie Alma der Jüngere seinem Sohn Helaman Zeugnis gibt. Alma beschrieb das „unaussprechliche Entsetzen“, das er empfand, als er sich vorstellte, in der Gegenwart Gottes für seine vielen Übertretungen gerichtet zu werden. Nachdem ihn das Ausmaß seiner Sünden drei Tage und drei Nächte bedrückt hatte, kehrte er um und flehte den Heiland um Barmherzigkeit an. Er berichtete Helaman, wie „außerordentlich und süß“ seine Freude war, weil er „nicht mehr“ an seine Qualen denken konnte. Statt des „unaussprechlichen Entsetzens“ bei dem Gedanken, vor dem Thron Gottes zu stehen, sah Alma in einer Vision „Gott auf seinem Thron sitzen“ und erklärte: „Meine Seele sehnte sich danach, dort zu sein.“13

Geht es uns nicht auch so, liebe Schwestern, wenn wir umkehren und über die Liebe, das Mitgefühl und die Dankbarkeit, die wir für den Vater im Himmel und den Heiland empfinden, nachdenken, dass wir uns danach „[sehnen], dort zu sein“, um von ihren Armen wieder liebevoll umschlossen zu werden?

Genauso wie der Herr mir bezeugte, dass er seine kostbare Tochter Mollie Lenthal nicht vergessen hat, bezeuge ich Ihnen, dass er Sie nicht vergessen hat! Mit welchen Sünden, Schwächen, Schmerzen, Schwierigkeiten oder Prüfungen Sie sich auch herumplagen – er kennt Sie und kann diese Situationen nachvollziehen. Er liebt Sie! Er wird Sie in diesen Augenblicken tragen, wie er das bei Maria und Marta getan hat. Er hat den Preis gezahlt, damit er weiß, wie er Ihnen beistehen kann. Werfen Sie Ihre Last auf ihn. Erzählen Sie dem Vater im Himmel, wie es Ihnen geht. Erzählen Sie ihm von Ihren Schmerzen und Ihrer Not und überlassen Sie sie ihm. Erforschen Sie täglich die heiligen Schriften. Auch darin werden Sie großen Trost und Hilfe finden.

Der Erretter fragte einmal:

„Kann denn eine Frau ihren Säugling vergessen, dass sie kein Mitleid hätte mit dem Sohn ihres Leibes? Ja, sie mögen vergessen, doch werde ich dich nicht vergessen. …

Ich habe dich auf die Flächen meiner Hände gezeichnet.“14

„Ich habe geboten, dass keiner von euch weggehen soll, sondern habe vielmehr geboten, dass ihr zu mir kommen sollt, damit ihr fühlen und sehen könnt; ebenso sollt ihr der Welt tun.“15

So lautet unser Auftrag. Wir müssen selbst fühlen und sehen und dann allen Kindern des himmlischen Vaters helfen, zu fühlen und zu sehen und zu erkennen, dass der Herr nicht nur all unsere Sünden auf sich genommen hat, sondern auch unsere Schmerzen und unser Leid und unsere Not, damit er wissen kann, wie es uns geht und wie er uns trösten kann. Von ihm gebe ich Zeugnis im Namen Jesu Christi. Amen.