2012
Wo ist das Gezelt?
November


Wo ist das Gezelt?

President Henry B. Eyring

Das Gezelt, das die göttliche Hilfe zurückzuhalten scheint, bedeckt nicht Gott, sondern bisweilen nur uns selbst. Gott ist nie verborgen. Verborgen sind lediglich manchmal wir selbst.

Der Prophet Joseph Smith rief im Gefängnis zu Liberty in tiefster Qual aus: „O Gott, wo bist du? Und wo ist das Gezelt, das dein Versteck bedeckt?“1 Viele von uns haben in Augenblicken des Leids das Gefühl, Gott sei weit entfernt. Das Gezelt, das die göttliche Hilfe zurückzuhalten scheint, bedeckt aber nicht Gott, sondern bisweilen nur uns selbst. Gott ist nie verborgen. Verborgen sind lediglich manchmal wir selbst, bedeckt von einem Gezelt aus Beweggründen, die uns Gott entfremden und ihn entfernt und unerreichbar erscheinen lassen. Unsere eigenen Wünsche – und nicht die Einstellung „dein Wille geschehe“2 – geben uns das Gefühl, ein Gezelt halte Gott von uns fern. Gott sieht uns sehr wohl und könnte uns auch etwas mitteilen. Doch sind es vielleicht wir, die nicht hören oder unseren Willen seinem Willen und seinem Zeitplan unterordnen wollen.

Das Gefühl, von Gott getrennt zu sein, wird schwinden, wenn wir vor ihm mehr so werden wie ein Kind. In einer Welt, in der die Meinung anderer Menschen einen so großen Einfluss auf unsere Beweggründe hat, ist das nicht leicht. Doch wird es uns helfen, diese Wahrheit zu erkennen: Gott ist uns nah, er achtet auf uns und verbirgt sich niemals vor seinen treuen Kindern.

Meine dreijährige Enkelin gab vor kurzem ein anschauliches Beispiel für die Macht der Schuldlosigkeit und Demut, die uns mit Gott verbindet. Sie besuchte mit ihrer Familie an den Tagen der offenen Tür den Brigham-City-Tempel in Utah. In einem der Räume dieses herrlichen Gebäudes sah sie sich um und fragte: „Mami, wo ist Jesus?“ Ihre Mutter erklärte ihr, sie könne Jesus im Tempel zwar nicht sehen, aber sie könne seinen Einfluss in ihrem Herzen spüren. Eliza dachte gründlich über die Antwort ihrer Mutter nach und schien dann zufrieden: „Aha, Jesus ist weg und hilft jemandem“, meinte sie schließlich.

Kein Gezelt trübte Elizas Verständnis oder verstellte ihre Sicht der Wirklichkeit. Gott ist ihr nah, und sie fühlt sich ihm nahe. Sie wusste, dass der Tempel das Haus des Herrn ist, verstand jedoch auch, dass der auferstandene und verherrlichte Jesus Christus einen Körper hat und immer nur an einem Ort gleichzeitig sein kann.3 Wenn er also nicht in seinem Haus war, so folgerte sie, musste er woanders sein. Sie hatte viel über den Heiland gelernt und wusste daher, dass er unterwegs sein musste, um den Kindern seines Vaters Gutes zu tun. Es war klar, dass sie die Begegnung mit Jesus nicht erhoffte, um eine wundersame Bestätigung zu erhalten, dass es ihn wirklich gibt, sondern einfach, weil sie ihn lieb hatte.

Der Geist konnte ihrem kindlichen Herzen und Verstand den Trost vermitteln, den wir alle brauchen und uns wünschen. Jesus Christus lebt, er kennt uns, wacht über uns und sorgt sich um uns. Wenn wir Schmerz, Einsamkeit oder Verwirrung erleben, müssen wir Jesus Christus nicht sehen, um zu wissen, dass er unsere Umstände kennt und seine Mission eine segensreiche ist.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass wir das Gleiche wie Eliza erleben können, selbst wenn unsere Kindheit schon lange vergangen ist. Am Anfang meiner beruflichen Laufbahn arbeitete ich fleißig darauf hin, mir eine Professur auf Lebenszeit an der Universität Stanford zu sichern. Ich war der Meinung, mir selbst und meiner Familie das Leben gut eingerichtet zu haben. Wir wohnten in der Nähe meiner Schwiegereltern in einer sehr angenehmen Umgebung. Nach den Maßstäben der Welt war ich erfolgreich. Da bekam ich von der Kirche das Angebot, Kalifornien zu verlassen und an das Ricks College in Rexburg in Idaho zu wechseln. Meine beruflichen Ziele hätten ein Gezelt sein können, das mich von meinem liebevollen Vater trennt, der besser als ich wusste, was die Zukunft für mich bereithielt. Ich wusste jedoch genau, dass jeglicher Erfolg in Beruf oder Familie bis dahin ein Geschenk Gottes gewesen war. Also kniete ich mich wie ein Kind zum Beten nieder und fragte, was ich tun solle. Ich konnte eine leise, innere Stimme vernehmen, die mir sagte: „Es ist meine Schule.“ Da gab es kein Gezelt, das mich von Gott abschirmte. Mit Glauben und Demut unterwarf ich mich seinem Willen und spürte seine Fürsorge und seine Nähe.

Während meiner Jahre am Ricks College war ich bestrebt, den Willen Gottes zu erfahren und danach zu handeln. So konnte das Gezelt mich nicht bedecken oder Gottes Einflussnahme auf mein Leben trüben. Während ich bemüht war, sein Werk zu tun, fühlte ich mich ihm nahe und spürte seine Zusicherung, dass er wusste, was mich beschäftigte, und dass ich ihm überaus wichtig war. Aber wie auch bereits in Stanford kamen weltliche Beweggründe wieder zum Vorschein. Mir wurde nämlich ein verlockendes Stellenangebot unterbreitet, als ich gerade mein fünftes Jahr als Präsident des Ricks College beendet hatte. Ich dachte über das Angebot nach, betete darüber und besprach es sogar mit der Ersten Präsidentschaft. Die Brüder reagierten herzlich und ein wenig humorvoll, gaben mir aber keinerlei Anweisung. Präsident Spencer W. Kimball hörte sich meine Beschreibung des Angebots einer großen Firma an und meinte dann: „Nun Hal, das klingt ja sehr vorteilhaft für dich! Und falls wir dich brauchen, wissen wir ja, wo wir dich finden können.“ Sicherlich hätten sie gewusst, wo ich zu finden war, aber mein Karrierewunsch hätte ein Gezelt über mir erschaffen können, das es mir erschwert hätte, Gott zu finden und seine Einladungen zu hören und anzunehmen.

Meine Frau spürte das und hatte das starke Gefühl, dass wir das Ricks College nicht verlassen sollten. Ich sagte: „Das genügt mir als Grund.“ Doch bestand sie in ihrer Weisheit darauf, dass ich selbst Inspiration empfing. Also betete ich erneut. Diesmal erging eine Anweisung an mich, und zwar in Gestalt einer inneren Stimme, die mir sagte: „Ich lasse dich noch etwas länger am Ricks College.“ Mein eigener Ehrgeiz hätte mir die Sicht der Realität verdecken und es mir erschweren können, Offenbarung zu empfangen.

Dreißig Tage, nachdem ich die inspirierte Entscheidung getroffen hatte, das Stellenangebot auszuschlagen und am Ricks College zu bleiben, brach der nahegelegene Teton-Staudamm. Gott wusste, dass der Staudamm brechen würde und hunderte Menschen Hilfe benötigen würden. Er ließ mich nach Rat suchen und seine Erlaubnis erhalten, am Ricks College zu bleiben. Er kannte sämtliche Gründe, weshalb meine Arbeit am College und in Rexburg noch von Wert sein könnte. Ich war also dort und bat den Vater im Himmel im Gebet oft um Anleitung, etwas für die Menschen tun zu können, deren Besitz und deren Leben Schaden genommen hatte. Ich verbrachte gemeinsam mit anderen Stunden damit, Häuser von Schlamm und Wasser zu befreien. Mein Wunsch, Gottes Willen zu erfahren und zu tun, verschaffte mir eine Gelegenheit, meine Seele zu erweitern.

Dieses Beispiel zeigt noch ein weiteres Hindernis, das uns davon abhalten kann, den Willen Gottes oder seine Liebe für uns zu erfahren: wenn wir nämlich auf unserem Zeitplan beharren, wo doch der Herr seinen eigenen hat. Ich dachte, ich hätte genug Zeit mit meinen Aufgaben in Rexburg verbracht, und hatte es eilig, weiterzukommen. Manchmal kann unser Beharren darauf, nach unserem eigenen Zeitplan zu handeln, Gottes Willen für uns verfinstern.

Im Gefängnis zu Liberty bat der Prophet Joseph Smith den Herrn, diejenigen zu bestrafen, die die Mitglieder der Kirche in Missouri verfolgten. In seinem Gebet ging es ihm um eine zuverlässige und rasche Vergeltung. Der Herr entgegnete jedoch, dass er sich mit diesen Gegnern der Kirche „in nicht vielen Jahren“4 befassen werde. Im 24. und 25. Vers in Abschnitt 121 des Buches Lehre und Bündnisse sagt er:

„Siehe, meine Augen sehen und kennen alle ihre Werke, und ich habe für sie alle ein rasches Strafgericht bereit, wenn es an der Zeit ist;

denn für einen jeden Menschen ist eine Zeit bestimmt, je nachdem, wie seine Werke sein werden.“5

Wir beseitigen das Gezelt, wenn wir verinnerlicht haben und beten: „Dein Wille geschehe“, und zwar „zu deiner Zeit“. Seine Zeit sollte uns rasch genug sein, da wir ja wissen, dass der Herr nur das Beste will.

Eine meiner Schwiegertöchter hatte viele Jahre lang das Gefühl, Gott habe ein Gezelt über ihr aufgespannt. Sie war jung, hatte drei Kinder und wollte unbedingt noch weitere haben. Nach zwei Fehlgeburten wurden ihre Bittgebete schmerzlicher. Weitere Jahre der Unfruchtbarkeit vergingen, und manchmal spürte sie Zorn in sich aufsteigen. Als ihr jüngstes Kind eingeschult worden war, empfand sie die Leere im Haus als blanken Hohn dafür, dass sie so auf ihre Rolle als Mutter fixiert war. Das Gleiche empfand sie auch bei ungeplanten oder gar ungewollten Schwangerschaften von Bekannten. Sie glaubte, ein engagiertes, gottgeweihtes Leben wie Maria zu führen, die einst festgestellt hatte: „Ich bin die Magd des Herrn.“6 Doch obwohl diese Worte immer in ihrem Herzen waren, spürte sie keinerlei Reaktion.

Um sie auf andere Gedanken zu bringen, lud ihr Mann sie ein, ihn auf eine Geschäftsreise nach Kalifornien zu begleiten. Während er an Besprechungen teilnahm, ging sie an einem schönen, leeren Strand spazieren. Als ihr Herz kurz davor war zu zerspringen, begann sie laut zu beten. Zum ersten Mal bat sie nicht um ein weiteres Kind, sondern um einen Auftrag vom Herrn. „Vater im Himmel“, rief sie aus, „ich werde dir all meine Zeit weihen; bitte zeige mir, wie ich sie ausfüllen soll.“ Sie brachte ihre Bereitschaft zum Ausdruck, mit ihrer Familie überallhin zu ziehen, wo es auch sein mochte. Dieses Gebet zog ein unerwartetes Gefühl des Friedens nach sich. Sicherlich wurde ihr heftiges Verlangen nicht sofort gestillt, doch innerlich war sie zum ersten Mal seit Jahren beruhigt.

Ihr Gebet beseitigte das Gezelt, das sie bedeckte, und öffnete die Schleusen des Himmels. Zwei Wochen später erfuhr sie, dass sie ein Kind erwartete. Als ihr jüngstes Kind gerade ein Jahr alt war, wurden mein Sohn und sie auf Mission berufen. Da sie versprochen hatte, überallhin zu ziehen und alles zu tun, schob meine Schwiegertochter ihre Ängste beiseite und nahm ihre Kinder mit nach Übersee. Noch auf Mission bekam sie ein weiteres Kind. Es war an einem Tag, als die Missionare versetzt wurden.

Diese junge Mutter unterwarf sich ganz dem Willen des Himmels. Nur so kann das Gezelt beseitigt werden, das wir manchmal über unserem Haupt aufspannen. Das bedeutet jedoch nicht, dass unsere Gebete unverzüglich erhört werden.

Abraham schien im Herzen schon bereit zu sein, lange bevor Sara Isaak empfing und bevor sie ihr verheißenes Land erreichten. Doch hatten die Mächte des Himmels zunächst anderes im Sinn. Es ging darum, nicht nur Abrahams und Saras Glauben zu stärken, sondern ihnen ewige Wahrheiten zu vermitteln, die sie auf ihrem langen, umständlichen Weg in das für sie vorbereitete Land an andere weitergaben. Oftmals scheinen die vom Herrn geduldeten Verzögerungen lange anzuhalten, manche sogar ein Leben lang. Doch letzten Endes sind sie immer ein Segen. Niemals müssen es Zeiten von Einsamkeit oder Leid sein.

Und obwohl die Zeitplanung des Herrn nicht immer der unsrigen entspricht, können wir sicher sein, dass er seine Verheißungen erfüllt. Haben Sie vielleicht derzeit das Gefühl, der Herr sei schwer zu erreichen? Ich bezeuge Ihnen, dass der Tag kommt, da wir ihn von Angesicht zu Angesicht sehen werden. So wie jetzt nichts seinen Blick auf uns trübt, wird dann nichts unseren Blick auf ihn trüben können. Wir alle werden vor ihm stehen, jeder Einzelne. Genau wie meine Enkelin wünschen wir uns, Jesus Christus jetzt zu sehen. Wir begegnen ihm jedoch gewiss vor dem Richterstuhl Gottes, und das wird angenehmer sein, wenn wir zuerst das tun, was ihn uns so vertraut macht, wie wir es ihm sind. Wenn wir ihm dienen, werden wir so werden wie er und uns ihm näher fühlen, wenn der Tag näherrückt, da nichts uns den Blick verstellt.

Die Annäherung an Gott kann von Dauer sein. „Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist“7, erklärt der Erlöser. Und dann sagt er uns, wie das geschieht:

„Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen;

ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.

Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben?

Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben?

Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?

Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“8

Wenn wir uns der Kinder seines Vaters so annehmen, wie er es möchte, rechnet der Herr es uns so an, als sei ihm diese Güte selbst widerfahren. Wir spüren seine Liebe und Zustimmung und fühlen uns ihm näher. Mit der Zeit werden wir so wie er und sehen dem Tag des Gerichts in freudiger Erwartung entgegen.

Das Gezelt, das Gott scheinbar von einem fernhält, entstammt wohl eher der Menschenfurcht als dem Wunsch, anderen zu dienen. Der Heiland hatte keinen anderen Beweggrund als den Menschen zu helfen. Viele von uns – auch mir geht es so – haben Angst, auf jemanden zuzugehen, den man gekränkt hat oder der einen verletzt hat. Und doch habe ich erlebt, wie der Herr immer wieder Herzen erweicht hat – nicht zuletzt mein eigenes. Und so fordere ich Sie auf, um des Herrn willen – ungeachtet der Angst, die Sie haben mögen – auf jemanden zuzugehen und Liebe und Vergebungsbereitschaft zu zeigen. Wenn Sie das tun, verheiße ich Ihnen, dass Sie die Liebe des Heilands sowohl für diesen Menschen als auch für sich selbst verspüren werden, und es wird nicht so sein, als käme sie von sehr weit her. Vielleicht ist dieser Schritt für Sie innerhalb der Familie notwendig oder auch im weiteren Umfeld, möglicherweise betrifft es auch viele Menschen ein einem Land.

Wenn Sie für den Herrn gehen, um anderen ein Segen zu sein, wird er es sehen und es Ihnen vergelten. Tun Sie es oft genug und lang genug, werden Sie feststellen, dass Sie sich durch das Sühnopfer Jesu Christi in Ihrem Wesen ändern. Sie fühlen sich dem Herrn nicht nur näher, sondern spüren auch, dass Sie ihm immer ähnlicher werden. Wenn Sie ihm dann tatsächlich begegnen – und das werden wir alle – wird es für Sie so sein wie für Moroni, der einst sagte: „Und nun sage ich allen Lebewohl. Ich gehe bald hin, im Paradies Gottes zu ruhen, bis sich mein Geist und Leib wieder vereinigen werden und ich im Triumph durch die Luft hingeführt werde, um euch vor dem angenehmen Gericht des großen Jehova zu treffen, des ewigen Richters der Lebenden und der Toten. Amen.“9

Ich bezeuge, dass das Gericht des großen Jehova angenehm sein wird, wenn wir mit Glauben, Demut und dem Wunsch dienen, Gottes Willen zu tun. Wir werden unseren liebevollen Vater und seinen Sohn so sehen, wie sie uns jetzt sehen: mit vollkommener Klarheit und vollkommener Liebe. Im heiligen Namen Jesu Christi. Amen.