Der treue Hohe Rat
Von einem treuen Hohen Priester in Deutschland lernte ich, was es heißt, „an[zu]heben, wo man steht“.
Als ich im Oktober 2008 die Übertragung der Priestertumsversammlung der Generalkonferenz anhörte, sprach Präsident Dieter F. Uchtdorf, Zweiter Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, anfangs über das Dienen in der Kirche. Er erzählte davon, wie er und einige andere Brüder versucht hatten, ein schweres Klavier von einem Raum in einen anderen zu transportieren. Als alle Bemühungen fehlschlugen, drang ein Mann darauf, dass sie einfach eng zusammenstehen und anheben sollten, wo sie standen.1
Präsident Uchtdorf sprach dann darüber, dass man in der Kirche dort dient, wo man berufen ist. Einige meinen, sie könnten besser dienen, wenn sie nur zu etwas berufen würden, was ihren überragenden Talenten besser entspricht. Doch er sagte: „Keine Berufung ist unter unserer Würde. Jede Berufung ist eine Gelegenheit, zu dienen und zu wachsen.“2
Während Präsident Uchtdorfs Worten schweiften meine Gedanken zurück zu der Zeit, als ich ein bescheidenes Mitglied der Kirche traf, das willig war, dort anzuheben, wo es stand.
1985 war ich als Offizier beim US-Militär in einer Kleinstadt in Deutschland stationiert. Zehn Jahre zuvor hatte ich eine Mission in Deutschland erfüllt. 1983 kam ich als Soldat mit meiner Frau Debra und zwei kleinen Töchtern an. Wir gingen zur Militärgemeinde, die etwa 100 Mitglieder hatte. Nach zwei Jahren beschlossen wir, gänzlich in die deutsche Kultur einzutauchen, und besuchten fortan den Zweig Bad Kreuznach, in dem es etwa 12 Mitglieder gab.
Etwa zwei Wochen nach unserem Wechsel dorthin fiel uns ein Mann, etwa Mitte 40, auf, den wir bis dahin noch nicht gesehen hatten. Wir erfuhren, dass er der für den Zweig zuständige Hohe Rat war. Er war nicht aufgrund von Pfahlangelegenheiten da; er war einfach zu Besuch gekommen. Nach der Kirche unterhielten wir uns etwas. Als wir uns verabschiedeten, ging ich davon aus, dass wir ihn in vielleicht sechs Monaten wiedersehen würden.
Die Woche darauf war der Hohe Rat wieder da. Ich erfuhr, dass er etwa eine Stunde von unserer kleinen Stadt entfernt wohnte. Während seiner restlichen Zeit als Hoher Rat kam er zwei- bis dreimal im Monat in unseren Zweig. Er war freundlich, hielt sich im Hintergrund und unterstützte uns. Jedes Mal sprach er mit jedem Mitglied des Zweiges. Da der Zweig so klein war, wurde er oft gebeten, eine Ansprache zu halten. Weil ich von seiner Hingabe so beeindruckt war, nannte ich ihn in Gedanken „der treue Hohe Rat“.
An einem Sonntag kam er morgens zu den Versammlungen des Zweiges und kehrte um 18 Uhr für eine Taufe zurück. In der Zwischenzeit war er in einem anderen Zweig gewesen. Ich muss zugeben, mir kam tatsächlich der Gedanke: Was hat er nur getan, um den Pfahlpräsidenten gegen sich aufzubringen? Warum sonst war er wohl dem kleinsten, abgelegensten Zweig im Pfahl zugewiesen? Womöglich war er gar nicht der intelligente, demütige, sympathische Mann, für den ich ihn hielt. Vielleicht mochte er ja seine Heimatgemeinde nicht und nutzte seine Aufgabe, um nicht dorthin gehen zu müssen. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, also ließ ich es einfach auf sich beruhen.
Einige Wochen nach dieser Taufe kam ich an einem Samstagabend nach Mitternacht nach Hause. Ich hatte einen Übungseinsatz an der Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland gehabt und dreieinhalb Stunden nach Hause gebraucht. Ich war erschöpft, als ich zur Tür hereinkam. Meine Frau Debra war noch wach. Sie sagte mir, dass „der treue Hohe Rat“ angerufen habe. Er wolle sich mit mir treffen. Ich fragte, ob vor oder nach der Kirche. Der Gottesdienst begann um 10 Uhr. „Hoffentlich erst nach der Kirche“, dachte ich, damit ich bis halb neun schlafen konnte.
„Vorher“, erwiderte sie.
„Halb zehn?“
„Nein. Er muss wegen Pfahlangelegenheiten anderswo hin. Er möchte, dass du zu seinem Büro in Frankfurt kommst. Du sollst zu Tor 5 gehen.“
„Um wie viel Uhr?“, fragte ich.
„Um sechs“, antwortete sie.
Jetzt war ich aufgebracht. Es war schon eine halbe Stunde nach Mitternacht. Um pünktlich um 6 Uhr dort zu sein, musste ich um halb fünf aufstehen. Das bedeutete weniger als vier Stunden Schlaf! Und nun? Ich hatte nicht einmal eine Telefonnummer, unter der ich ihn am nächsten Morgen hätte anrufen können, um ihm mitzuteilen, dass ich nicht kommen würde. Ich ließ meine Kleidung neben dem Bett fallen und legte mich hin, ohne mir den Wecker zu stellen. Während ich so dalag, ging mir durch den Kopf:
Was würde geschehen, wenn ich mich nicht mit „dem treuen Hohen Rat“ traf? Wenn ich nicht in seinem Büro auftauchte, würde er die Zeit sicherlich trotzdem gut nutzen. Wenn ich dann das nächste Mal mit ihm sprach und ihm erklärte, warum ich nicht gekommen war, würde er sagen: „Das war die richtige Entscheidung. Ich hätte Sie nie gebeten zu kommen, wenn ich gewusst hätte, dass Sie so spät nach Hause gekommen waren. Wir können uns jetzt um die Sache kümmern.“ Außerdem war ich nicht wirklich ein Mitglied des Zweiges. Unsere Mitgliedsscheine waren zwar da und wir gingen jede Woche zu den Versammlungen, aber wir waren Ausländer, unser Deutsch war ziemlich grauenhaft und wir würden in fünf, sechs Monaten sowieso wieder wegziehen.
Mein Gewissen war fast rein. Noch ein paar Minuten und dann würde ich einschlafen können. Da fiel mir der Spitzname ein, den ich ihm gegeben hatte, und all die Male, die „der treue Hohe Rat“ in den Zweig gekommen war, seit wir dorthin gingen. Er war zu der Taufe am späten Sonntagabend gekommen. Er war zu einer Aktivität des Zweiges mitten in der Woche gekommen. Er sprach immer mit allen Mitgliedern, ermunterte sie und inspirierte sie. Er schien nie zu urteilen, und niemand schien ihm gleichgültig zu sein. Er achtete den Zweigpräsidenten und alles, was er tat. Falls er enttäuscht gewesen sein sollte, dass er diesem kleinen Zweig zugewiesen war, hatte er das definitiv nie durchblicken lassen.
Ich stand auf und ging zur Kommode, auf der mein Wecker stand. Ich stellte ihn auf 4:30 Uhr. Ich beschloss, mich mit „dem treuen Hohen Rat“ zu treffen, und das nicht, weil ich besorgt war, was er wohl sagen oder denken könnte, wenn ich den Termin nicht wahrnahm. Nach unserem Umzug würde ich ihn ohnehin wahrscheinlich nie wieder sehen. Ich beschloss, in weniger als vier Stunden aufzustehen und die 80 Kilometer zu seinem Büro zu fahren, weil ich ihn wahrhaft für das respektierte, was er war, nämlich „der treue Hohe Rat“. Wie hätte ich ihm nicht folgen können?
Ich kam an dem fraglichen Sonntagmorgen um 6 Uhr mit dem Auto an Tor 5 an und wurde von einem Wachmann mit Maschinengewehr begrüßt. Misstrauisch schaute er auf mein Nummernschild vom US-Militär. Vielleicht fragte er sich, ob ich mich verfahren hatte. Hatte „der treue Hohe Rat“ beschlossen, nicht zu kommen? Keine zwei Minuten später hielt dieser jedoch mit seinem Auto neben mir an. „Guten Morgen, Don“, sagte er. Gehen wir doch in mein Büro.“ Der Wachmann öffnete das Tor und ließ uns durch.
Nachdem wir einige Höflichkeiten ausgetauscht hatten und er mir das Gebäude gezeigt hatte, in dem sein Büro war, kam er zum Grund für unser Treffen. Er wollte mich als Ratgeber des Zweigpräsidenten berufen. Nicht als Ersten oder Zweiten Ratgeber, sondern als einzigen Ratgeber. Bevor ich Mitglied des Zweigs wurde, hatte es dort nur zwei Priestertumsträger gegeben. Alle paar Jahre wechselten sie sich ab: Mal war der eine Zweigpräsident und der andere Ältestenkollegiumspräsident, dann war es umgedreht.
Ich nahm die Berufung an und erfüllte sie, bis ich drei Monate später für eine zweimonatige Weiterbildung in die USA ging.
Während meiner Abwesenheit wurden meine Frau und mein kleiner Sohn krank. Aufgrund seiner Erkrankung musste unser Sohn in ein Krankenhaus, das etwa 100 Kilometer von unserem Stützpunkt entfernt lag. Als Frau eines Soldaten war meine Frau Debra stark und tapfer. Daher beschwerte sie sich nie und bat mich auch nicht, nach Deutschland zurückzukehren. Tatsächlich erfuhr ich erst nach meiner Rückkehr, wie schlimm ihre Krankheit eigentlich war. Nach einem Arztbesuch hatte der Arzt sie nach Hause gefahren, weil er den Eindruck hatte, es ginge ihr nicht gut genug, um selbst zu fahren. Der Zweigpräsident und die FHV-Leiterin boten beide ihre Hilfe an, aber sie lehnte diese höflich ab. Da Debra mit der Sprache und der Kultur noch Probleme hatte, wollte sie niemandem noch mehr Umstände bereiten.
Eines Tages rief „der treue Hohe Rat“ bei ihr an. Er war kurz zuvor als Pfahlpräsident berufen worden. Sachte erkundigte er sich nach ihrer Gesundheit und ließ sich nicht mit einem „Mir gehtʼs gut“ abspeisen. Auf jede Zusicherung seitens Debra folgte die sanfte, aber nachdrückliche Frage, wie es der Familie denn wirklich gehe. Schließlich sagte er: „Debra, Sie müssen Hilfe aus dem Zweig annehmen. Die Mitglieder wollen Ihnen wirklich helfen, und der Zweig wird enger zusammenwachsen, wenn die Mitglieder Ihnen helfen können.“ Dankbar nahm sie schließlich deren Hilfe an.
Nach meiner Rückkehr aus den USA blieben wir noch weitere zwei Monate in dem Zweig, bevor wir schließlich in eine größere Stadt umzogen.
Meine Erinnerungen an diese Zeit in meinem Leben rückten in den Hintergrund, als ich mich auf meinem Stuhl vorbeugte und mich wieder auf Präsident Uchtdorfs Stimme aus dem Lautsprecher konzentrierte. Ich war wahrlich beeindruckt, was seine Botschaft implizierte. Ab und zu habe ich mich schon gefragt, ob die Worte eines Sprechers wohl mit seinen Taten übereinstimmen (in der Geschäftswelt, beim Militär, und, ja, sogar bei einigen Ansprachen, die ich in der Kirche gehört habe). Doch ich hatte keinen Zweifel an Präsident Uchtdorfs Botschaft. Das lag nicht einfach nur daran, dass Präsident Uchtdorfs Akzent mich an Deutschland und an meine Erfahrung mit „dem treuen Hohen Rat“ erinnerte. Es war die Tatsache, dass Präsident Uchtdorf „der treue Hohe Rat“ war. Das Industriegelände, auf dem wir uns an jenem frühen Sonntagmorgen trafen, war der Frankfurter Flughafen, wo er Chefpilot der Lufthansa war.
Ich kann ehrlich sagen, dass ich nie einen Mann getroffen habe, der mit mehr Demut und Treue das tat, was er predigte. Ich war dankbar für die wertvolle Lektion darüber, was es heißt, dort „an[zu]heben, wo man steht“.