Alles ist verloren
Dies ist das fünfte Kapitel der neuen vierbändigen Reihe mit dem Titel Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen. Das Buch wird in 14 Sprachen in gedruckter Form erscheinen, in der App „Archiv Kirchenliteratur“ unter der Rubrik „Geschichte der Kirche“ und online auf Heilige.lds.org. Weitere Kapitel erscheinen in künftigen Ausgaben, bis der erste Band im Laufe dieses Jahres veröffentlicht wird. Die Kapitel, die hier erscheinen, werden in 47 Sprachen in der App „Archiv Kirchenliteratur“ und auf Heilige.lds.org bereitgestellt.
Noch Wochen nachdem Joseph die Goldplatten nach Hause gebracht hatte, versuchten Schatzgräber, sie ihm abzunehmen. Damit sie sicher waren, musste er sie ständig von einem Versteck ins nächste bringen. Mal lagen sie unter dem Herd, mal unter dem Boden in der Werkstatt seines Vaters, mal in einem Haufen Getreide. Nie durfte er unachtsam werden.
Auch neugierige Nachbarn kamen vorbei und bedrängten ihn, ihnen die Platten zu zeigen. Joseph lehnte stets ab, selbst wenn man ihm dafür Geld anbot. Er war fest entschlossen, auf die Platten aufzupassen. Er vertraute auf die Verheißung des Herrn, dass sie in Sicherheit waren, solange er nur alles tat, was er konnte.1
Die dauernden Störungen hielten ihn jedoch davon ab, die Platten gründlich zu untersuchen und mehr über den Urim und Tummim herauszufinden. Er wusste zwar, dass die Steine ihm bei der Übersetzung der Platten helfen sollten, aber er hatte noch nie Sehersteine dazu benutzt, altertümliche Sprachen zu entziffern. Er wollte sich an die Arbeit machen, aber wie sollte er das überhaupt anstellen?2
Während sich Joseph aufmerksam mit den Platten befasste, zeigte ein allseits geachteter Landbesitzer in Palmyra namens Martin Harris Interesse an Josephs Arbeit. Er war alt genug, um Josephs Vater sein zu können, und hatte ihn schon ein paar Mal als Helfer angeheuert. Martin hatte zwar von den Goldplatten gehört, ihnen aber keine Beachtung geschenkt, bis Josephs Mutter Lucy ihn einlud, sich einmal mit ihrem Sohn zu treffen.3
Joseph war gerade bei der Arbeit und nicht zuhause, als Martin vorbeikam, sodass dieser Emma und andere aus der Familie über die Platten befragte. Als Joseph heimkam, fasste Martin ihn am Arm und bat ihn um weitere Einzelheiten. Joseph erzählte ihm von den Goldplatten und Moronis Auftrag, sie zu übersetzen und zu veröffentlichen.
„Wenn das ein Werk des Teufels ist, will ich nichts damit zu tun haben“, sagte Martin. Wenn es jedoch das Werk des Herrn sei, wolle er Joseph helfen, es der Welt bekanntzumachen.
Joseph ließ ihn die Truhe mit den Platten hochheben. Offensichtlich war etwas Schweres darin, aber Martin war nicht überzeugt, dass es sich um Goldplatten handelte. „Sei mir nicht böse, dass mir dein Wort allein nicht genügt“, meinte er.
Als Martin nach Hause kam, war es bereits nach Mitternacht. Er zog sich in sein Schlafzimmer zurück und betete. Er versprach, Gott alles zu geben, was er hatte, wenn er nur die Gewissheit erhielte, dass Joseph im Auftrag Gottes handelte.
Als er so betete, verspürte Martin eine leise, sanfte Stimme in sich. Da wusste er, dass die Platten von Gott stammten, und er wusste auch, dass er Joseph helfen musste, die Botschaft auf den Platten bekanntzumachen.4
Als Emma Ende 1827 erfuhr, dass sie schwanger war, schrieb sie ihren Eltern. Seit der Hochzeit mit Joseph war fast ein Jahr vergangen. Ihre Eltern waren noch immer nicht gut auf den Schwiegersohn zu sprechen, gestatteten dem jungen Paar jedoch, nach Harmony zurückzukehren, damit Emma in der Nähe ihrer Familie entbinden konnte.
Das bedeutete, dass Joseph von seinen Eltern und Geschwistern getrennt sein würde, aber er konnte die Abreise trotzdem kaum erwarten. Im Staat New York war man nach wie vor hinter den Platten her, und wenn er woanders hinzog, fand er dort vielleicht die nötige Ruhe und Abgeschiedenheit, die er für das Werk des Herrn brauchte. Leider hatte er aber Schulden und kein Geld für den Umzug.5
Daher wollte er zunächst seine finanziellen Angelegenheiten in Ordnung bringen und in der Stadt ein paar Schulden abbezahlen. Als er in einem Geschäft eine Rechnung begleichen wollte, kam Martin Harris auf ihn zu. „Hier sind fünfzig Dollar, Mr. Smith“, sagte er. „Die gebe ich Ihnen für das Werk des Herrn!“
Joseph nahm das Geld nur äußerst zögerlich an und versprach, es zurückzuzahlen. Martin aber sagte, er solle sich keine Gedanken machen, das Geld sei ein Geschenk. Er bat alle Anwesenden, zu bezeugen, dass er es aus freien Stücken gegeben hatte.6
Kurz darauf beglich Joseph seine Schulden und belud den Wagen, die Goldplatten in einem Bohnenfass versteckt. Dann brachen er und Emma nach Harmony auf.7
Etwa eine Woche später erreichte das Paar das große Haus von Emmas Eltern.8 Schon bald verlangte Emmas Vater, die Goldplatten anschauen zu dürfen. Joseph erwiderte jedoch, er könne ihm lediglich die Truhe zeigen, worin er sie verwahrte. Verärgert hob Isaac Hale die Truhe hoch und merkte, dass sie sehr schwer war. Doch er blieb misstrauisch und erklärte, Joseph dürfe die Truhe nur im Haus aufbewahren, wenn er ihm den Inhalt zeige.9
Die Übersetzung der Platten würde nicht einfach werden, solange Emmas Vater in der Nähe war, aber Joseph gab sein Bestes. Mit Emmas Hilfe übertrug er ein paar der seltsamen Schriftzeichen auf Papier.10 Dann versuchte er wochenlang, sie mit dem Urim und Tummim zu übersetzen. Es reichte keineswegs aus, bloß in die Sehersteine zu schauen: Er musste demütig bleiben und Glauben ausüben, während er sich gründlich mit den Schriftzeichen befasste.11
Ein paar Monate später kam auch Martin Harris nach Harmony. Er sagte, er fühle sich vom Herrn berufen, ganz in den Osten nach New York zu fahren und Fachleute für altertümliche Sprachen zu konsultieren. Seine Hoffnung war, dass sie die Schriftzeichen übersetzen konnten.12
Joseph schrieb etliche weitere Schriftzeichen ab, notierte daneben seine Übersetzung und überreichte alles Martin. Daraufhin schauten Joseph und Emma zu, wie ihr Freund sich auf den Weg nach Osten machte, um den Rat von angesehenen Gelehrten einzuholen.13
Nach seiner Ankunft in New York suchte Martin Harris am Columbia College einen Professor für Latein und Griechisch namens Charles Anthon auf. Professor Anthon war noch jung, etwa fünfzehn Jahre jünger als Harris, hatte aber bereits ein bekanntes Nachschlagewerk zur Kultur der Griechen und der Römer veröffentlicht. Nun stellte er Geschichten über die amerikanischen Ureinwohner zusammen.14
Anthon war stets in seine Arbeit vertieft und ließ sich nicht gerne davon abhalten, nahm sich jedoch Zeit für Martin und studierte die Schriftzeichen und die Übersetzung, die Joseph diesem mitgegeben hatte.15 Er konnte zwar kein Ägyptisch, hatte aber ein paar Studien über die Sprache gelesen und kannte daher das Schriftbild. Er sah Ähnlichkeiten zwischen den vorliegenden und den ägyptischen Schriftzeichen und sagte Martin, die Übersetzung sei richtig.
Martin zeigte ihm noch weitere Schriftzeichen zur Überprüfung. Anthon erklärte, es handele sich um Zeichen aus verschiedenen altertümlichen Sprachen, und überreichte ihm eine Bescheinigung, dass die Schriftzeichen echt seien. Er empfahl ihm allerdings, einen anderen Gelehrten namens Samuel Mitchill aufzusuchen, der früher am Columbia College unterrichtet hatte.16
„Er kennt sich mit altertümlichen Sprachen hervorragend aus“, versicherte Anthon. „Zweifellos wird er Sie zufriedenstellen.“17
Martin steckte die Bescheinigung ein und wollte sich gerade auf den Weg machen, da rief Anthon ihn zurück. Er wollte wissen, wie Joseph überhaupt an die Goldplatten gelangt war.
„Ein Engel Gottes hat sie ihm gegeben“, erklärte Martin und bezeugte, die Übersetzung der Platten werde die Welt verändern und vor dem Untergang bewahren. Da er nun einen Beweis ihrer Echtheit habe, werde er seine Farm verkaufen und für die Veröffentlichung der Übersetzung Geld spenden.
„Lassen Sie mich meine Bescheinigung noch einmal sehen“, bat Anthon.
Martin zog sie aus seiner Tasche und gab sie ihm wieder, woraufhin Anthon sie zerriss und sagte, so etwas wie dienende Engel gebe es nicht. Wenn Joseph eine Übersetzung der Platten wolle, müsse er sie schon hier ans Institut bringen und sie von einem Experten vornehmen lassen.
Martin erklärte, ein Teil der Platten sei versiegelt und Joseph dürfe sie niemandem zeigen.
„Ein versiegeltes Buch kann ich nicht lesen“, erwiderte Anthon. Er warnte Martin, dass Joseph ihn vermutlich betrog. „Hüten Sie sich vor solchen Halunken“, sagte er.18
Martin Harris verließ Professor Anthon und suchte Samuel Mitchill auf. Dieser empfing Martin höflich, hörte ihm zu und schaute sich dann die Schriftzeichen und die Übersetzung an. Zwar konnte er sich auf die Zeichen keinen Reim machen, aber sie erinnerten ihn an ägyptische Hieroglyphen. Er sagte, es müsse sich um die Sprache eines untergegangenen Volkes handeln.19
Kurz danach kehrte Martin Harris nach Harmony zurück. Er war mehr denn je überzeugt, dass Joseph die altertümlichen Goldplatten besaß sowie die Macht, sie zu übersetzen. Er berichtete Joseph, was er von den Professoren in Erfahrung gebracht hatte. Wenn schon die gebildetsten Männer Amerikas das Buch nicht übersetzen konnten, schloss er, müsse Joseph dies tun.
Joseph fühlte sich mit dieser Aufgabe jedoch überfordert. „Ich kann das nicht“, sagte er. „Mir fehlt die nötige Bildung.“ Andererseits wusste er, dass der Herr ihm ja die Sehersteine gegeben hatte, damit er die Platten übersetzen konnte.20
So sah Martin das auch. Er wollte nach Palmyra fahren, seine geschäftlichen Angelegenheiten regeln und dann so schnell wie möglich zurückkehren und Joseph als Schreiber dienen.21
Im April 1828 wohnten Emma und Joseph mittlerweile in einem Haus am Susquehanna River, unweit dem von Emmas Eltern.22 Obwohl Emma bereits hochschwanger war, diente sie Joseph als Schreiberin, als dieser mit der Übersetzung des Berichts begonnen hatte. Eines Tages erblasste Joseph bei den Übersetzungsarbeiten ganz plötzlich. „Emma, war Jerusalem von Mauern umgeben?“, fragte er.
„Ja“, erwiderte sie, denn sie erinnerte sich daran, dass es so in der Bibel geschrieben stand.
„Ach“, rief Joseph erleichtert auf. „Ich hatte schon Angst, dass ich mich habe täuschen lassen.“23
Emma war erstaunt, wie wenig die Übersetzungsarbeiten davon beeinträchtigt wurden, dass sich ihr Mann kaum in Geschichte und in der Bibel auskannte. Joseph konnte ja kaum einen verständlichen Brief schreiben. Doch Stunde um Stunde saß sie dicht hinter ihm, während er ihr den Bericht völlig ohne Buch oder Manuskript diktierte. Sie wusste, dass die Art und Weise, wie er übersetzte, nur von Gott inspiriert sein konnte.24
Schließlich kehrte Martin Harris nach Palmyra zurück und übernahm die Aufgabe des Schreibers, damit sich Emma vor der Geburt ein wenig ausruhen konnte.25 Aber es war gar nicht so einfach, zur Ruhe zu kommen. Martins Frau Lucy hatte nämlich darauf bestanden, ihn nach Harmony zu begleiten, und beide hatten eine recht ausgeprägte Persönlichkeit.26 Lucy war skeptisch, weil Martin Joseph finanziell unterstützen wollte, und immer noch verärgert, weil er ohne sie nach New York gefahren war. Als er ihr mitgeteilt hatte, er werde in Harmony bei den Übersetzungsarbeiten helfen, war sie einfach mitgekommen – fest entschlossen, die Platten mit eigenen Augen zu sehen.
Lucy konnte nicht mehr gut hören, und wenn sie nicht verstand, was jemand sagte, fasste sie es manchmal als Kritik auf. Außerdem hatte sie kaum ein Gespür für Privatsphäre. Als Joseph sich weigerte, ihr die Platten zu zeigen, durchsuchte sie das Haus und wühlte in allen Truhen, Schränken und Kisten herum. Joseph blieb nichts anderes übrig, als die Platten im Wald zu verstecken.27
Bald zog Lucy zu einem Nachbarn. Nun hatte Emma ihre Truhen und Schränke zwar wieder für sich, aber dafür erzählte Lucy in der Gegend herum, Joseph sei hinter Martins Geld her. Wochenlang bereitete sie Scherereien, ehe sie endlich nach Palmyra zurückkehrte.
Friede kehrte ein, und Joseph und Martin kamen mit der Übersetzung schnell voran. Joseph beherrschte seine von Gott gegebene Aufgabe als Seher und Offenbarer immer besser. Mithilfe der Übersetzersteine oder eines anderen Sehersteins konnte er sowohl dann übersetzen, wenn er die Platten direkt vor Augen hatte, als auch dann, wenn sie, eingewickelt in eines von Emmas Leinentüchern, auf dem Tisch lagen.28
Den ganzen April und Mai hindurch bis Anfang Juni hörte Emma das gleichmäßige Gemurmel von Joseph, der den Bericht langsam, aber deutlich diktierte.29 Zwischendurch hielt er inne und wartete ab, bis Martin bestätigt hatte, dass er das Gesagte aufgeschrieben hatte.30 Emma, die sich mit Martin beim Schreiben abwechselte, war erstaunt, dass Joseph nach einer Unterbrechung oder Pause genau dort fortfuhr, wo er aufgehört hatte, ohne dass man ihm die Stelle nennen musste.31
Die Geburt von Emmas Baby stand nun bald bevor. Aus den Manuskriptseiten war ein dicker Stapel geworden, und Martin war mittlerweile überzeugt, dass seine Frau den Wert der Übersetzung erkennen und sie nicht länger bei der Arbeit stören würde, wenn er sie lesen ließe.32 Und dann wäre es Lucy hoffentlich auch recht, dass er so viel Zeit und Geld dafür aufwendete, Gottes Wort hervorzubringen.
Folglich bat Martin Joseph eines Tages um Erlaubnis, das Manuskript ein paar Wochen nach Palmyra mitzunehmen.33 Joseph gefiel die Bitte nicht. Er wusste ja noch, wie sich Lucy bei ihrem Besuch aufgeführt hatte. Andererseits wollte er Martin auch gern einen Gefallen tun, denn er hatte ihm geglaubt, als kaum ein anderer seinen Worten Glauben geschenkt hatte.34
Da er nicht recht wusste, was er machen sollte, betete er um Führung. Der Herr teilte ihm mit, Martin solle die Seiten nicht mitnehmen.35 Martin hingegen war überzeugt, wenn er sie seiner Frau zeigen könne, würde alles anders werden, und er flehte Joseph an, Gott erneut zu befragen. Joseph fragte erneut – und empfing die gleiche Antwort. Martin ließ nicht locker, und so fragte Joseph ein drittes Mal. Diesmal gestattete Gott ihnen, so zu handeln, wie es ihnen gefiel.
Joseph erlaubte Martin, die Seiten zwei Wochen lang mitzunehmen, aber dieser musste schwören, sie wegzuschließen und nur bestimmten Angehörigen zu zeigen. Martin versprach es und nahm das Manuskript mit nach Palmyra.36
Nach Martins Abreise erschien Moroni Joseph jedoch und nahm ihm die Übersetzersteine ab.37
Am nächsten Tag brachte Emma unter schrecklichen Schmerzen einen Jungen zur Welt. Das Kind war sehr schwach und kränklich. Es lebte nicht lange. Die Tortur hatte Emma körperlich an ihre Grenzen gebracht. Sie war derart am Boden zerstört, dass man eine Zeit lang befürchtete, auch sie würde sterben. Joseph kümmerte sich unentwegt um sie und wich kaum von ihrer Seite.38
Als sich Emmas Zustand nach zwei Wochen endlich stabilisierte, machte sie sich Gedanken über Martin Harris und das Manuskript. „Mir ist ganz mulmig“, sagte sie zu Joseph. „Ich werde wohl keine Ruhe finden können, bis ich weiß, was Mr. Harris mit dem Manuskript angestellt hat.“
Sie drängte Joseph, Martin aufzusuchen, aber er wollte unbedingt bei ihr bleiben. „Lass meine Mutter herkommen“, schlug sie vor. „Sie kann bei mir bleiben, während du fort bist.“39
Joseph nahm die Postkutsche nach Norden. Unterwegs aß und schlief er nur wenig, aus Furcht, er könne den Herrn beleidigt haben, weil er nicht auf ihn gehört und Martin das Manuskript mitgegeben hatte.40
Als er das Haus seiner Eltern in Manchester erreichte, ging gerade die Sonne auf. Die Smiths bereiteten das Frühstück zu und sandten Martin eine Einladung, er solle doch dazukommen. Um acht Uhr stand das Essen auf dem Tisch, aber von Martin fehlte jede Spur. Joseph und seine Familie wurden unruhig.
Über vier Stunden vergingen, ehe Martin schließlich in der Ferne auftauchte. Langsam kam er aufs Haus zu, den Blick starr zu Boden gesenkt.41 Als er ans Tor kam, verharrte er, setzte sich auf den Zaun und zog den Hut tief über die Augen. Dann kam er ins Haus und setzte sich schweigend an den Tisch.
Alle schauten gebannt zu, als er das Besteck an sich nahm, als wolle er mit dem Essen beginnen, es dann jedoch wieder senkte. „Ich habe meine Seele verloren!“, jammerte er und presste seine Handflächen gegen die Schläfen. „Ich habe meine Seele verloren!“
Joseph sprang auf. „Martin, hast du das Manuskript verloren?“, rief er.
„Ja“, gestand dieser. „Es ist fort, und ich weiß nicht, wo es ist.“
„O, mein Gott, mein Gott!“, stöhnte Joseph und ballte die Fäuste. „Alles ist verloren!“
Er lief auf und ab. Was sollte er nur tun? „Geh zurück!“, befahl er Martin. „Such noch einmal danach!“
„Es wäre vergebens“, beteuerte Martin. „Ich habe überall im Haus danach gesucht. Ich habe sogar die Betten und Kissen aufgerissen. Ich weiß, dass es nicht da ist.“
„Dann muss ich also mit so einem Bericht zu meiner Frau zurückkehren?“ Joseph befürchtete, die Neuigkeiten würden sie umbringen. „Und wie soll ich vor den Herrn treten?“
Seine Mutter, die ihn trösten wollte, meinte, der Herr werde ihm bestimmt vergeben, wenn er demütig umkehrte, doch Joseph schluchzte bereits und haderte mit sich, dass er dem Herrn nicht beim ersten Mal gehorcht hatte. Er konnte den ganzen Tag lang kaum etwas essen. Er blieb noch die Nacht dort und machte sich dann am Morgen auf die Rückreise nach Harmony.42
Lucys Herz war schwer, als sie ihren Sohn aufbrechen sah. Es schien, dass alles, was sie sich als Familie erhofft hatten, alles, was ihnen in den letzten Jahren Freude bereitet hatte, im Bruchteil einer Sekunde zerstört worden war.43