Besondere Bedürfnisse – besonders lehrreich
Unsere Tochter Dora hat sogenannte besondere Bedürfnisse. Wir sprechen über einiges von dem, was wir mit ihr erlebt und dabei gelernt haben. Unsere tiefempfundene Hoffnung hierbei ist, dass unsere Gedanken und Worte für jemanden nützlich sind, der vielleicht Ähnliches durchmacht.
Unsere Tochter Dora wurde mit Kaiserschnitt entbunden. Schon wenige Tage nach der Geburt zeigte sich, dass sie nicht wie andere Kinder war. Drei Wochen später wurde sie ärztlich untersucht und direkt ins Krankenhaus eingeliefert. Erst jetzt dämmerte uns, welch einschneidendes Ereignis ihre Geburt für unsere Familie wohl darstellte.
Die Wochen und Monate, die darauf folgten, waren für uns eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Hoffnung und Angst wechselten sich ab, als die Fachärzte herauszufinden versuchten, woran Dora genau litt. Jede neue Theorie führte zu einem neuerlichen Schub anders gelagerter Ängste.
„O nein, bitte nicht das! Wir könnten es nicht ertragen, sie zu verlieren“, war unsere Reaktion auf eine der möglichen Diagnosen. „Wenn es das ist, sind wir nicht sicher, ob wir damit umgehen können“, erwiderten wir angesichts einer weiteren Diagnosemöglichkeit.
Die Diagnose ist ein zweischneidiges Schwert. Sie kann die Zeit des Bangens beenden und lässt uns besser verstehen, was die Zukunft bringen mag. Sie kann aber auch möglicherweise ungerechtfertigte Erwartungen wecken oder Handicaps in den Raum stellen, die vielleicht gar nicht existieren. In unserem Fall war es so, dass die Ärzte alle möglichen Tests durchführten und Theorien aufstellten, sich aber letztendlich nie zu einer konkreten Diagnose für Dora durchringen konnten. Dafür sind wir dankbar.
„Physiologisch ist sie in jeder Hinsicht normal“, sagten sie uns, „aber sie leidet unter niedriger Muskelspannung und Krampfanfällen.“
Mit dieser Aussage haben wir nun die letzten 28 Jahre durchgestanden – eine Zeit der Unsicherheit, der plötzlichen Wendungen, der Herausforderungen, und doch zugleich eine Zeit voller Freude und Chancen. Wir hatten keine Ahnung, was uns auf unserem Weg erwartete. Aber wir fühlten uns nie durch eine konkrete medizinische Diagnose eingeschränkt.
Was es bedeutet, wenn jemand besondere Bedürfnisse hat
Im Laufe der Jahre sind uns zu Dora viele Fragen gestellt worden. Am häufigsten fragte man uns: „Was hat sie denn?“ oder auch: „Worin besteht ihre Behinderung?“ Im Allgemeinen antworten wir auf Fragen wie diese etwa so: „Also, sie kann nicht sprechen, nicht ohne Hilfe gehen, kann eigenständig keine Nahrung zu sich nehmen und sich auch nicht selbst anziehen. Ihre Persönlichkeit wird aber von ganz anderen Faktoren bestimmt.“
Wir haben gelernt, sie nicht an ihren Behinderungen festzumachen oder daran, wie stark sie eingeschränkt ist. Viel lieber machen wir sie an dem fest, was sie kann.
Dora kann zum Beispiel lächeln. Ihr Lächeln ist ansteckend! Wir wurden schon am Flughafen von wildfremden Leuten gebeten, ein Foto von ihnen zusammen mit Dora zu machen. Ihr strahlendes Lächeln, das sie förmlich leuchten lässt, beeindruckte diese Menschen sehr.
Sie kann liebevoll umarmen. Hat jemand das Glück, von Dora umarmt zu werden, verändert das sein Leben! Einmal kamen wir von einer Sportveranstaltung. Dora sah auf dem Gehweg einen Obdachlosen, streckte spontan die Arme nach ihm aus und umarmte ihn. Seinem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass ihre Umarmung zum Erstaunlichsten gehörte, was ihm an diesem Tag widerfahren war.
Dora hilft einem, sich geliebt zu fühlen. Wenn Dora einem in die Augen schaut, selbst wenn es nur für eine Sekunde ist, spürt man so tiefe Liebe, dass es einen zu Tränen rühren kann. Warum sollten wir sie also angesichts dieser erstaunlichen Gaben jemals in die Schublade mit der Aufschrift „eingeschränkt“ oder „behindert“ stecken wollen? Sie hat das Leben hunderter Menschen nachhaltig einfach dadurch zum Guten beeinflusst, dass sie ist, wer sie ist, und tut, was sie tut.
Ein Tag nach dem anderen
Wenn Eltern erkennen, dass ihr Kind ein Leben lang auf sie angewiesen sein wird, sind sie schnell überfordert. Das Gefühl des Überfordertseins ist noch ausgeprägter, wenn ihr Kind permanent physische, seelische und vielleicht auch medizinische Unterstützung benötigt. Die Aussicht, ein Kind jeden Tag füttern, anziehen, baden, pflegen und unterstützen zu müssen, kann einem wie ein Berg vorkommen, der zu hoch und zu steil ist, um ihn jemals besteigen zu können.
In Momenten wie diesen ist es wichtig, etwas Abstand zu gewinnen und sich zu sagen: „Ich muss das erst einmal nur heute schaffen.“ Wir haben festgestellt, dass die Aufgabe leichter zu bewältigen scheint, wenn man sich nur darauf konzentriert, was an jedem Tag gebraucht wird und welche Chancen sich auftun. Wir leben einfach von einem Tag zum nächsten, und wir können Ausschau halten nach der Freude und dem Fortschritt, den dieser Tag bringt.
Die Fähigkeit, größer zu werden
Jedem Geist, der auf die Erde gesandt wird, wohnt die Fähigkeit inne, „größer [zu] werden“1. Von uns allen wird erwartet, dass wir unsere Entscheidungsfreiheit in dem Maß ausüben, wie es uns möglich ist. Als Betreuungspersonen sind wir dafür verantwortlich, den von uns Betreuten zu helfen, physisch, seelisch und geistig in dem Maße Fortschritt zu machen, wie sie dazu in der Lage sind. Das kann zum Beispiel bedeuten, ihnen Gelegenheiten zum Dienen zu geben – wie im Fall von Dora, wenn sie lächelt und andere umarmt. Dazu gehört auch, den Betreffenden zu helfen, ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu nutzen und wenn möglich durch Therapien und Übungen zu verbessern.
Doch dabei müssen wir auch realistisch sein. Wenn wir ständig frustriert sind, verlangen wir vielleicht zu viel. Wenn es um die Umsetzung dessen geht, was möglich und angemessen ist, kann uns der Herr helfen und durch seinen Geist leiten. In manchen Fällen wird er Wunder wirken, selbst wenn sie noch so klein erscheinen mögen.
Uns wird immer in Erinnerung bleiben, wie Dora von einem Spitzenorthopäden gesagt wurde, dass sie niemals würde laufen können. Doch nach mehreren Jahren eifrigen Betens und harter Arbeit kann Dora nun mit Gehhilfen laufen. Ihr allgemeiner Zustand hat sich zwar nicht verändert, aber der Herr hat uns ein kleines Wunder geschenkt, um ihr zu helfen, voranzukommen und mehr Freude am Leben zu haben.
Der Glaube bei ausbleibender Heilung
Wenn Gott eines seiner kostbaren Kinder unter solchen Umständen in unsere Obhut gibt, stellen wir uns natürlich immer die Frage nach dem Warum. Verständlicherweise bringt uns unser Glaube dazu, Gott zu bitten, die Erkrankung des Kindes zu lindern oder von ihm zu nehmen. Wir glauben fest daran, dass Gott in der Lage ist, unsere Tochter zu heilen. Er hat jedoch auch deutlich gemacht, dass es zum jetzigen Zeitpunkt nicht seinem Willen entspricht.
Indem er uns Dora anvertraut, verfolgt der Vater im Himmel seine eigenen Zwecke; und wenn und wann immer er es will, wird er sie heilen. Vielleicht bricht dieser Tag nicht eher an als mit der Auferstehung – der Zeit der wahren Heilung. Wer sich damit abfindet, dass Gott einen lieben Menschen nicht gleich heilt, bringt genauso viel Glauben auf wie derjenige, der an die sofortige Heilung glaubt. Es liegt ein Zweck darin, dass Dora unserer Obhut überlassen wurde. Wir hatten das Gefühl, wir sollten uns nicht mit der Frage nach dem Warum aufhalten, sondern vielmehr den Vater im Himmel fragen, was wir daraus lernen sollen.
„Fragen wie: ‚Warum muss das mir passieren? Warum muss ich das jetzt durchmachen? Womit habe ich das verschuldet?‘ führen Sie in eine Sackgasse“, sagte einst Elder Richard G. Scott (1928–2015) vom Kollegium der Zwölf Apostel. „Fragen Sie lieber ‚Was soll ich tun?‘“, meinte er. „‚Was soll ich aus dieser Erfahrung lernen?‘ … Wenn wir mit wirklicher Überzeugung beten: ‚Bitte lass mich deinen Willen erkennen‘ und ‚Dein Wille geschehe‘, können wir am ehesten die größtmögliche Hilfe von unserem liebevollen Vater im Himmel erhalten.“2
Manchmal denken wir an die Eltern jener Kinder, die der Erretter geheilt hat, als er auf Erden wandelte. Vielleicht fragten sich diese Eltern wie wir, zu welchem Zweck ihnen ihre Kinder anvertraut worden waren. Nachdem der Erretter die Kinder geheilt hatte, wurde den Eltern bewusst, dass er seine heilende Macht und Göttlichkeit nicht unter Beweis hätte stellen können, wenn es niemanden gegeben hätte, der Heilung brauchte. Wir haben den Glauben, dass eines Tages alle Kinder Gottes geheilt werden.3
Auf diesen Tag freuen wir uns.